Reise

Meerwinde fegten über die Mauern.

Arutha schaute auf die Stadt Crydee hinab und auf das Meer dahinter. Der Wind zauste an seinem braunen Haar. Licht und Dunkel zuckten über die Landschaft, als hohe, flockige Wolken über seinem Kopf dahinrasten. Arutha beobachtete den fernen Horizont. Er sah die Endlose See, aufgepeitscht zu schaumigen weißen Kappen, während der Lärm der Arbeiter, die ein weiteres Gebäude in der Stadt erneuerten, vom Wind herübergetragen wurde.

Wieder wurde es Herbst in Crydee, schon zum achtenmal seit dem Beginn des Krieges. Arutha hielt es für ein Glück, daß ein weiterer Frühling und Sommer vergangen waren, ohne daß die Tsuranis zum Großangriff geblasen hätten. Trotzdem fühlte er sich alles andere als wohl oder getröstet. Jetzt war er kein Junge mehr, der gerade das Kommando übernommen hatte, sondern ein erfahrener Soldat. Mit seinen siebenundzwanzig Jahren hatte er mehr Konflikte miterlebt und mehr Entscheidungen getroffen als die meisten Männer des Königreichs in ihrem ganzen Leben. Und er wußte, daß die Tsuranis langsam den Krieg gewannen.

Er ließ seine Gedanken ein wenig weiter wandern, ehe er sich selbst aus seinem Grübeln riß. Er war zwar kein schwermütiger Junge mehr, wurde aber immer noch oft von ernsten Gedanken übermannt. Er hielt es für das Beste, sich zu beschäftigen und solchen verschwenderischen Zeitvertreib zu meiden.

»Es ist ein kurzer Herbst.«

Arutha blickte nach links und sah Roland neben sich. Der Junker hatte den Prinzen tief in Gedanken versunken gefunden und sich ihm genähert, ohne bemerkt zu werden. Arutha war wütend auf sich selbst. Er schüttelte seinen Zorn von sich ab und sagte: »Und ein kurzer Winter wird folgen, Roland. Und dann im Frühjahr…«

»Was gibt es Neues von Langbogen?«

Arutha ballte eine behandschuhte Faust und hieb damit gegen die Steine der Mauer. Die langsame, beherrschte Geste verriet deutlich seine Frustration. »Ich habe schon sehr oft bedauert, daß er ziehen mußte. Von allen dreien verrät nur Garret ein gewisses Gefühl von Vorsicht. Dieser Charles ist ein Irrsinniger, ein von seinem Ehrgefühl aufgezehrter Tsurani, und Langbogen ist…«

»Langbogen«, schloß Roland.

»Ich habe noch niemals einen Mann getroffen, der so wenig über sich selbst enthüllt, Roland.

Wenn ich so alt werde wie ein Elb, werde ich wahrscheinlich immer noch nicht verstehen, was ihn so macht, wie er ist.«

Roland lehnte sich gegen die kühlen Steine der Mauer. »Glaubst du, sie sind in Sicherheit?«

Arutha wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Meer zu. »Wenn überhaupt ein Mann aus Crydee die Berge überschreiten, in das von den Tsuranis gehaltene Tal eindringen und wieder zurückkehren kann, dann ist das Martin. Trotzdem mache ich mir noch immer Sorgen.«

Roland war überrascht von diesem Eingeständnis. Genau wie Martin war auch Arutha ein Mann, der nicht so leicht verriet, was er empfand. Da er die tiefe Sorge des Prinzen spürte, wechselte Roland das Thema. »Ich habe Nachricht von meinem Vater, Arutha.«

»Ich habe gehört, daß unter den Briefen aus Tulan auch eine persönliche Nachricht für dich war.«

»Dann weißt du schon, daß mein Vater mich heim ruft.«

»Ja. Tut mir leid mit dem gebrochenen Bein.«

»Vater war noch nie ein guter Reiter. Das ist schon das zweite Mal, daß er von seinem Pferd gefallen ist und sich dabei etwas gebrochen hat. Das letzte Mal – ich war damals noch klein – war es sein Arm.«

»Es ist lange her, daß du zu Hause warst.«

Roland zuckte die Achseln. »Durch den Krieg hatte ich nicht das Bedürfnis, heimzukehren. Die meisten Kämpfe haben hier herum stattgefunden. Und dann«, fügte er grinsend hinzu, »gibt es da noch andere Gründe für mich, hierzubleiben.«

Arutha lächelte nun ebenfalls. »Hast du es Carline schon gesagt?«

Rolands Grinsen verging. »Nein. Ich dachte, ich warte damit, bis ich ein Schiff gefunden habe, auf dem ich gen Süden fahren kann.« Jetzt, da die Bruderschaft das Grüne Herz verlassen hatte, war es nahezu unmöglich, über Land nach Süden zu ziehen, denn die Tsuranis hatten die Straßen nach Carse und Tulan abgeschnitten.

Ein Ruf vom Turm ließ sie herumfahren. »Läufer nähern sich.«

Arutha blickte mit zusammengekniffenen Augen aufs glitzernde Meer hinaus. Auf der Straße, die dorthin führte, konnte er drei Gestalten ausmachen, die ihnen locker entgegen trabten. Als sie nah genug waren, um deutlich gesehen zu werden, sagte Arutha: »Langbogen.« Erleichterung klang aus seiner Stimme.

Dann verließ er die Mauer und stieg die Treppe hinab, um im Hof auf den Jagdmeister und seine Männer zu warten. Roland stand an seiner Seite, als die drei staubigen Männer durch die Burgtore traten. Sowohl Garret als auch Charles schwiegen, als Martin sagte: »Seid gegrüßt, Hoheit.«

»Sei gegrüßt, Martin. Was gibt es Neues?« fragte der Prinz.

Martin fing an, über die Tatsachen zu berichten, die sie im Lager der Tsuranis ausfindig gemacht hatten. Nach einer Weile schnitt Arutha ihm das Wort ab. »Spar dir deinen Atem lieber für den Rat, Martin. Roland, rufe Vater Tully, Schwertmeister Fannon und Amos Trask zusammen. Sie sollen in die Ratshalle kommen.«

Roland eilte davon, und Arutha fuhr fort: »Charles und Garret sollen ebenfalls teilnehmen, Martin.«

Garret warf einen kurzen Blick auf den ehemaligen Tsurani-Sklaven, der bloß mit den Schultern zuckte. Beide wußten, daß das langersehnte, heiße Mahl noch ein wenig länger auf sie warten mußte.

 

Martin nahm neben Amos Trask Platz, während Charles und Garret stehen blieben. Der ehemalige Kapitän zur See nickte Martin grüßend zu, als Arutha seinen eigenen Stuhl zurechtrückte, wie es seine Gewohnheit war. Wenn er mit seinen Ratgebern zusammentraf, kümmerte er sich wenig um Formalitäten. Seit der Belagerung der Burg war Amos inoffizielles Mitglied von Aruthas Stab geworden. Er war ein Mann mit ungeahnten Fähigkeiten.

Arutha berichtete: »Martin ist soeben von einer besonders wichtigen Mission zurückgekehrt.

Martin, erzähl uns, was du gesehen hast.«

Er berichtete: »Wir sind über die Grauen Türme gestiegen und in das Tal eingedrungen, in dem sich das Hauptquartier der Tsuranis befindet.«

Fannon und Tully schauten den Jagdmeister überrascht an, während Amos Trask der Mund offenstehen blieb. »Mit einem einzigen Satz schiebt ihr eine ganze Legende beiseite«, bemerkte der Seemann.

Martin ignorierte diesen Kommentar und sagte: »Ich halte es für das Beste, wenn Charles Euch erzählt, was wir gesehen haben.«

In der Stimme des ehemaligen Tsurani-Sklaven schwang Besorgnis mit. »Schlechte Neuigkeiten, Hoheit. Allen Anzeichen nach wird der Kriegsherr im kommenden Frühjahr eine Großoffensive starten.«

Mit Ausnahme von Fannon waren alle im Raum sprachlos. »Wie kannst du da sicher sein? Sind neue Armeen in seinem Lager eingetroffen?«

Charles schüttelte den Kopf. »Nein. Die neuen Soldaten werden erst kurz vor dem ersten Tauen des Frühjahrs eintreffen. Meine ehemaligen Landsleute mögen Euer kaltes Klima nicht. Sie werden die Wintermonate außerhalb der Stadt der Ebene auf Kelewan verbringen, in milderen Zonen, wo sie sich wohler fühlen. Erst direkt vor der Offensive werden sie durch den Spalt kommen.«

Selbst jetzt noch, nach fünf Jahren, zweifelte Fannon an Charles’ Loyalität – im Gegensatz zu Langbogen. »Wie kannst du dann sicher sein«, fragte der Schwertmeister, »daß es eine Offensive geben wird? Seit dem Sturm auf Elvandar vor drei Jahren hat keine mehr stattgefunden.«

»Im Lager des Kriegsherrn hat es neue Banner gegeben. Es sind die der Clans der Partei der Blauen Räder, die seit der Belagerung Crydees abwesend waren. Das kann nur eine neuerliche Wende in der Politik des Hohen Rates bedeuten. Es verrät uns, daß die Kriegsallianz erneut gebildet worden ist.«

Von allen Anwesenden schien nur Tully wirklich zu begreifen, was Charles da sagte. Er studierte die Tsuranis und lernte alles von den Gefangenen, was er nur konnte. »Das erklärst du uns besser, Charles«, forderte er ihn nun auf.

Charles ordnete seine Gedanken, ehe er sagte: »Ihr müßt eines über mein ehemaliges Heimatland wissen. Über allem, abgesehen von Ehre und Gehorsam dem Kaiser gegenüber, steht der Hohe Rat.

Dort Ansehen zu gewinnen ist viel wert, sogar das Leben. Mehr als eine Familie ist durch Intrigen und Verschwörungen innerhalb des Rates zerstört worden. Wir im Kaiserreich nennen das ›Das Spiel des Rates‹.

Meine Familie hatte eine gute Stellung im Hunzan Clan inne. Wir waren weder so groß, daß wir von anderen Clan-Mitgliedern als Rivalen angesehen wurden, noch so klein, daß wir nur eine untergeordnete Rolle gespielt hätten. Wir hatten das Glück, viel von den Angelegenheiten des Hohen Rates zu erfahren, mußten uns aber keine Sorgen machen, welche Entscheidungen getroffen wurden. Unser Clan war in der Partei des Fortschritts aktiv, denn zu uns zählten viele Gelehrte, Lehrer, Heilkundige, Priester und Künstler.

Für eine Weile verließ der Hunzan Clan dann die Partei des Fortschritts. Die Gründe dafür waren nur den höchsten Familien-Führern klar. Ich kann da nur Vermutungen anstellen. Mein Clan verbündete sich mit den Clans der Partei der Blauen Räder, einer der ältesten im Hohen Rate.

Wenngleich sie nicht so mächtig ist wie die Kriegspartei des Kriegsherrn oder die Traditionalisten der Kaiserlichen Partei, so verfügt sie doch über großen Einfluß und ist sehr angesehen.

Vor sechs Jahren, damals, als ich hierherkam, hatte sich die Partei der Blauen Räder mit der Kriegspartei vereinigt. Gemeinsam hatten sie die Allianz des Krieges gebildet. Wir, die Angehörigen der geringeren Familien, erfuhren nicht, wie es zu diesem radikalen Wechsel gekommen war oder warum er stattgefunden hatte. Es bestand aber kaum Zweifel daran, daß es sich um ›Das Spiel des Rates‹ handelte.

Um sicherzugehen, daß die Mitglieder meines Clans über allen Verdacht erhaben waren, mußte ich persönlich an Gunst verlieren und wurde versklavt, bis die rechte Zeit für den von ihnen geplanten Schritt gekommen war – was auch immer das gewesen sein mag. Jetzt ist es klar, welcher Schritt gemeint war.

Seit der Belagerung dieses Schlosses habe ich kein Zeichen eines Soldaten erblickt, der Mitglied einer Familie der Blauen Räder gewesen wäre. Daraus schloß ich, daß die Allianz des Krieges ein Ende gefunden hatte.«

Fannon unterbrach ihn. »Willst du damit sagen, daß dieser ganze Krieg nichts weiter als ein politisches Spiel in diesem Hohen Rat ist?«

»Schwertmeister, ich weiß, daß es schwierig zu verstehen ist, vor allem für einen Mann, der seiner Nation mit so beständiger Treue dient. Aber genau das will ich damit sagen.

Es gibt Gründe, Tsurani-Gründe, für einen solchen Krieg. Eure Welt ist reich an Metallen, Metallen, die wir auf Kelewan hoch schätzen. Außerdem liegt eine blutige Geschichte hinter uns, und alle, die nicht aus Tsuranuanni stammen, müssen gefürchtet und somit unterworfen werden.

Denn wenn wir Eure Welt finden konnten, könntet Ihr dann nicht eines Tages auch die unsere entdecken?

Was aber wichtiger ist: Dies ist eine Möglichkeit für den Kriegsherrn, großen Einfluß im Hohen Rat zu gewinnen. Jahrhundertelang haben wir die Thuril-Konföderation bekämpft, und als wir schließlich an den Verhandlungstisch gezwungen wurden, hatte die Kriegspartei einen Großteil ihrer Macht innerhalb des Rates verloren. Dieser Krieg ist eine Möglichkeit, Macht zurückzugewinnen. Der Kaiser erteilt nur selten Befehle. Er überläßt dem Kriegsherrn das Oberkommando. Aber dieser ist immer noch Herr einer Familie, Kriegsführer eines Clans, und als solcher versucht er beständig, im Spiel des Rates Vorteile für seine eigenen Angehörigen zu erringen.«

Tully schien fasziniert. »Dann war es also nur ein Manöver in diesem politischen Spiel, nur ein Trick, um Vorteile zu erringen, daß die Partei der Blauen Räder sich erst mit der Partei des Kriegsherrn zusammengetan und sich dann plötzlich wieder zurückgezogen hat?«

Charles lächelte. »Das ist sehr tsuranisch, guter Pater. Der Kriegsherr hat seinen ersten Feldzug mit großer Sorgfalt geplant. Dann, nach drei Jahren, stellt er plötzlich fest, daß seine Armee nur noch halb so groß ist. So ist er nicht mehr in der Lage, dem Hohen Rat und dem Kaiser Kunde von fabelhaften Siegen zu überbringen. Dadurch verliert er an Ansehen und Stellung in seinem Spiel.«

Fannon bemerkte: »Unglaublich! Hunderte von Männern sind für diese Sache gestorben!«

»Wie ich schon sagte, Schwertmeister, es ist sehr tsuranisch. Jeder, der nicht direkt an diesem Spiel beteiligt ist, würde den Schritt als Meisterstreich bezeichnen. Viele Familien, die sich am Rande der Kriegspartei befinden, fühlen sich hierdurch zur Partei der Blauen Räder und zu ihren Verbündeten hingezogen.«

Arutha erkannte: »Aber für uns ist es wichtig, daß diese Blauen Räder sich erneut mit dem Kriegsherrn verbündet haben und daß ihre Soldaten im kommenden Frühjahr ebenfalls in den Krieg ziehen werden.«

Charles betrachtete die Versammelten. »Ich weiß wirklich nicht, ich kann nicht einmal erahnen, warum es wieder eine Umgruppierung im Rat gegeben hat. Ich bin von diesem Spiel zu weit entfernt. Aber wie Seine Hoheit schon gesagt hat: Was für uns hier in Crydee wichtig zu wissen ist, ist die Tatsache, daß uns im Frühjahr zehntausend neue Soldaten an den Fronten gegenüberstehen können.«

Amos runzelte die Stirn. »Das ist ein Rückschlag, soviel ist gewiß.«

Arutha entfaltete ein halbes Dutzend Schreiben. »In den vergangenen Monaten haben die meisten von Euch diese Nachrichten gelesen.« Er sah zu Tully und Fannon hinüber. »Ihr habt gesehen, wie sich ein Muster entwickelte.« Er nahm eine der Schriftrollen auf. »Von Vater:

›Beständige Angriffe der Tsuranis halten unsere Männer davon ab, sich wohl zu fühlen. Unsere Unfähigkeit, uns mit dem Feind zu einigen, hat allem, was wir tun, einen düsteren Aspekt verliehen.

Ich fürchte, diese Sache wird niemals ein Ende nehmen…‹ Von Baron Bellamy: ›…Aktivitäten der Tsuranis in der Nähe der Garnison Jonril haben zugenommen. Ich halte es für empfehlenswert, unsere Verpflichtungen dort im kommenden Winter zu verstärken, zu einer Zeit also, in der die Tsuranis normalerweise nicht aktiv sind, damit wir unsere Position nicht im nächsten Frühjahr verlieren.‹ Junker Roland wird die Verstärkung überwachen, die im Winter aus Carse und Tulan in Jonril eintreffen wird.«

Einige im Raum starrten Roland an, der neben Arutha stand. Der Prinz fuhr fort: »Von Lord Dulanic, ritterlicher Hofmarschall von Krondor: >Wenngleich Seine Hoheit Eure Besorgnis teilt, so gibt es doch nichts, was darauf hindeutet, daß Grund zur Sorge besteht. Solange keine Nachrichten eingehen, die Eure Befürchtungen untermauern, daß es im Frühjahr zu neuen Tsurani-Angriffen kommen wird, habe ich dem Prinzen von Krondor geraten, Eurer Bitte um Entsendung von Soldaten der Garnison Krondor an die Ferne Küste nicht zu entsprechen…« Arutha sah sich im Raum um. »Jetzt ist der Plan also klar.«

Arutha schob die Schriftrollen beiseite und wies auf die Karte, die auf dem Tisch befestigt war.

»Wir haben jeden verfügbaren Soldaten verpflichtet. Wir wagen es nicht, Männer aus dem Süden abzuziehen, aus Angst, daß sich die Tsuranis gegen Jonril wenden könnten. Dort werden wir für eine Weile unsere gute Position verteidigen, wenn die Garnison Verstärkung erhält. Sollte der Feind diese aber angreifen, kann sie aus Carse und Tulan noch verstärkt werden. Sollte er sich aber gegen eines der Schlösser wenden, dann hat er die Garnison im Rücken. Aber all das schlägt fehl, wenn wir die Soldaten aus den Garnisonen abziehen.

Und Vater steht einer langen Front gegenüber. Er kann keinen einzigen Mann entbehren.« Er schaute Charles an. »Wo würdest du den Angriff erwarten?«

Der ehemalige Sklave betrachtete die Karte. Dann erklärte er achselzuckend: »Das ist schwer zu sagen, Hoheit. Wenn es nur darum ginge, die Lage vom militärischen Standpunkt aus zu entscheiden, müßte der Kriegsherr die schwächere Front angreifen, also entweder die Elben oder uns hier. Aber nur wenig von dem, was im Kaiserreich geschieht, ist frei von politischen Überlegungen.« Er studierte die Truppenverteilungen auf der Karte. »Wenn ich der Kriegsherr wäre und eines einfachen Sieges bedürfte, um meine Position im Hohen Rate wieder zu verbessern, dann würde ich noch einmal Crydee angreifen. Wenn aber meine Position im Hohen Rate wirklich gefährdet wäre, und ich also eines kühnen Schlages bedürfte, um mein verlorenes Ansehen zurückzugewinnen, dann würde ich vielleicht riskieren, eine Offensive gegen die Hauptmacht des Königreiches zu führen, also gegen die Armeen unter dem Kommando von Herzog Borric. Wenn er die wichtigste Streitmacht des Königreichs zerstören könnte, würde ihm das für Jahre die Vorherrschaft im Hohen Rate sichern.«

Fannon lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und seufzte. »Dann stellen wir uns also auf die Möglichkeit eines neuen Angriffs auf Crydee im Frühjahr ein. Und wir können nicht auf Verstärkung hoffen, weil wir Offensiven an anderen Orten befürchten müssen.« Er wies auf die Karte. »Jetzt sehen wir uns also demselben Problem gegenüber wie der Herzog. All unsere Soldaten stehen der Tsurani-Front gegenüber. Die einzigen Männer, die noch verfügbar wären, sind die, die auf Urlaub in den Städten sind. Das ist aber nur ein geringer Teil des Ganzen.«

»Wir können die Armee nicht unbegrenzt im Feld lassen. Selbst Lord Borric und Lord Brucal überwintern beim Grafen in LaMut und lassen nur kleine Kompanien zur Bewachung der Tsuranis zurück.« Er wedelte mit der Hand in der Luft und erklärte: »Aber ich schweife ab. Es ist jetzt wichtig, Euren Vater umgehend zu benachrichtigen, Arutha. Er muß wissen, daß ein Angriff bevorstehen könnte. Sollten die Tsuranis seine Reihen dann angreifen, wird er früh genug aus LaMut zurück sein und bereitstehen. Selbst wenn die Tsuranis zehntausend frische Truppen bringen, kann er immer noch mehr Soldaten aus den fernen Garnisonen von Yabon herbeirufen, volle zweitausend.«

»Zweitausend gegen zehntausend, das klingt nicht sehr gerecht, Schwertmeister.«

Fannon mußte ihm recht geben. »Wir tun, was wir können. Es gibt allerdings keine Garantie, daß das genug sein wird.«

»Wenigstens sind es berittene Soldaten, Schwertmeister«, gab Charles zu bedenken. »Meine einstigen Kameraden mögen Pferde immer noch nicht.«

Fannon nickte zustimmend. »Dennoch ist es eine düstere Vorstellung.«

»Da ist noch etwas«, bemerkte Arutha und hielt eine Schriftrolle hoch. »Lord Dulanic hat erklärt, daß noch andere Informationen nötig sind, damit er uns Glauben schenken kann und unserer Bitte um Hilfe nachkommt. Ich denke, daß wir jetzt genügend Nachrichten haben, um ihn zufriedenzustellen.«

»Selbst ein kleiner Teil der Soldaten aus Krondor würde schon genügen, damit wir hier einem Angriff standhalten können. Aber es ist schon spät, und eine Mitteilung müßte unverzüglich abgesandt werden.«

»Das ist nur zu wahr«, bestätigte Amos. »Wenn man heute nachmittag noch abfahren könnte, würde man die Straße der Finsternis kaum hinter sich gelassen haben, ehe der Winter hereinbricht.

Noch zwei Wochen, und es wird wirklich knapp.«

»Ich habe schon über diese Sache nachgedacht. Ich glaube, unser Bedarf ist so groß, daß ich es riskieren muß, nach Krondor zu reisen«, meinte Arutha.

Fannon richtete sich hoch auf. »Aber Ihr seid der Kommandeur der Armee des Herzogtums, Arutha. Ihr könnt diese Verantwortung nicht einfach ablegen.«

Arutha lächelte. »Ich kann und werde es tun. Ich weiß, daß Ihr nicht den Wunsch verspürt, das Kommando hier noch einmal zu übernehmen, aber Ihr werdet es dennoch müssen. Wenn wir Erlands Unterstützung gewinnen wollen, dann muß ich ihn selbst überzeugen. Als Vater damals Erland und dem König von den Tsuranis berichtete, habe ich erkannt, welchen Vorteil es bringt, persönlich vorzusprechen. Erland ist ein vorsichtiger Mann. Ich werde all meine Fähigkeiten benötigen, um ihn zu überreden.«

Amos schnaubte. »Und wie wollt Ihr Krondor erreichen? Solltet Ihr über Land reisen wollen, so befindet sich der größte Teil von drei ganzen Tsurani-Armeen auf Eurem Weg, zwischen hier und den Freien Städten. Und im Hafen liegen nur ein paar Logger, die vielleicht zur Küstenschiffahrt taugen. Aber was Ihr braucht, ist ein hochseetüchtiges Schiff.«

»Es gibt eines, Amos. Die Morgenwind liegt noch im Hafen.«

Amos blieb der Mund offenstehen. »Die Morgenwind?« rief er ungläubig. »Abgesehen davon, daß die kaum besser als ein Logger ist, ist sie schon für den Winter im Dock. Ich habe gehört, wie ihr Kapitän über ihren gebrochenen Kiel gejammert hat, als sie vor einem Monat hier in den Hafen einfuhr. Das Kielschwein muß erneuert und der Kiel gründlich überholt werden. Ohne Reparatur würde sie die Winterstürme niemals überstehen. Da könnt Ihr Euch genausogut gleich in einer Regentonne auf die Reise begeben, Hoheit, mit Verlaub gesagt. Dann würdet Ihr zwar auch ertrinken, aber Ihr würdet einer Menge anderer Leute viel Kummer und Sorgen ersparen.«

Fannon schien über die Bemerkungen des Seemannes empört, aber Tully, Martin, Roland und Arutha schauten nur amüsiert. »Als ich Martin fortsandte, erwog ich bereits die Möglichkeit, daß ich ein Schiff benötigen würde, um nach Krondor zu reisen. Vor zwei Wochen habe ich angeordnet, daß sie repariert wird. Im Augenblick befindet sich ein ganzer Schwärm von Schiffbauern an Bord.« Arutha musterte Amos fragend. »Natürlich hat man mir erklärt, daß die Arbeit nicht so gut sein würde, als wenn man sie aus dem Wasser gehievt hätte. Aber es wird reichen.«

»Aye, um im Frühlingswind die Küste auf und ab zu schippern vielleicht. Aber Ihre redet von Winterstürmen und davon, die Straße der Finsternis zu durchfahren.«

»Nun, sie muß reichen. Ich reise in einigen Tagen ab. Irgend jemand muß Erland überzeugen, daß wir Hilfe benötigen, und ich muß derjenige sein.«

Amos wollte das Thema einfach nicht fallenlassen. »Und hat Oscar Danteen schon zugestimmt, das Schiff für Euch durch die Straße zu lenken?«

»Ich habe ihm mein Ziel noch nicht genannt«, erwiderte Arutha.

Amos schüttelte den Kopf. »Dachte ich’s mir doch. Dieser Mann hat das Herz eines Haifisches, mit anderen Worten, keines! Und den Mut eines Schellfisches, also ebenfalls keinen. Sobald Ihr den Befehl erteilt habt, wird er Euch die Kehle durchschneiden, Euch über Bord werfen, mit den Piraten auf den Abendinseln überwintern und im kommenden Frühjahr direkt zu den Freien Städten eilen.

Dann wird er sich von einem natalesischen Schreiber einen kummervollen, blumigen Brief an Euren Vater aufsetzen lassen, in dem er Euren Mut lobt, den Ihr bewiesen habt, gerade ehe Ihr beim Kampf mit den Piraten über Bord gegangen seid. Und anschließend wird er ein Jahr lang das Gold versaufen, das Ihr ihm für die Fahrt gegeben habt.«

Arutha erklärte: »Aber ich habe sein Schiff gekauft. Es gehört jetzt mir.«

»Besitzer oder nicht, Prinz oder nicht, an Bord eines Schiffes gibt es nur einen Herrn, den Kapitän. Er ist König und Hohepriester, und niemand hat ihm zu sagen, was er zu tun hat, außer wenn ein Lotse an Bord ist, und auch dann nur mit Respekt. Nein, Hoheit, mit Oscar Danteen auf dem Achterdeck werdet Ihr diese Reise nicht überleben.«

Vergnügte Fältchen zeigten sich langsam in Aruthas Augenwinkeln. »Habt Ihr einen anderen Vorschlag, Käpt’n?«

Amos seufzte, als er auf seinen Stuhl zurücksank. »Ich hänge an der Angel. Genausogut kann ich mich jetzt ausnehmen lassen. Sagt Danteen, er soll die Kapitänskabine räumen und auch seine Crew entlassen. Ich werde mich darum kümmern, eine Ersatzmannschaft anstelle dieser Bande von Halsabschneidern zu finden. Aber um diese Zeit des Jahres sind fast nur noch Trunkenbolde und kleine Jungs im Hafen. Und noch eines, im Namen der Götter: Erwähnt niemandem gegenüber, wohin die Reise gehen soll. Wenn auch nur einer von diesen versoffenen Schurken erfährt, daß Ihr so spät in der Saison noch die Straße der Finsternis durchfahren wollt, dann müßt Ihr die Wälder nach Deserteuren absuchen lassen.«

»Also schön«, stimmte Arutha zu. »Ich werde Euch alle Vorbereitungen überlassen. Wir reisen ab, sobald Ihr glaubt, daß das Schiff bereit ist.« Er wandte sich an Langbogen. »Ich möchte, daß auch Ihr mitkommt, Jagdmeister.«

Langbogen sah ein wenig überrascht aus. »Ich, Hoheit?«

»Ich möchte einen Augenzeugen dabeihaben, für Lord Dulanic und den Prinzen.«

Martin runzelte die Stirn, doch nach einer Weile sagte er: »Ich bin noch nie in Krondor gewesen, Hoheit.« Er lächelte sein merkwürdig schiefes Lächeln. »Wer weiß, vielleicht bietet sich mir diese Gelegenheit nie wieder.«

 

Amos Trasks Stimme schnitt durch das Kreischen des Windes. Windböen trugen von der See her seine Worte zu einem verwirrt dreinschauenden Knaben in der Takelage. »Nein, du verdammte Landratte, zieh diese Tücher nicht so fest an! Die summen ja gleich wie die Saite einer Laute. Nicht sie ziehen das Schiff, sondern der Mast. Die Leinen helfen, wenn der Wind die Richtung wechselt.«

Er sah zu, wie der Knabe die Segel justierte. »Ja, richtig so; nein, das ist zu locker.« Er fluchte laut.

»Na also; jetzt hast du’s!«

Er sah angewidert zu Arutha hinüber, der die Planke heraufkam. »Fischerknaben, die Matrosen sein wollen. Und dann noch Betrunkene. Und ein paar von Danteens Schurken, die ich wieder anheuern mußte. Das ist vielleicht eine Mannschaft, Hoheit.«

»Wird es denn damit gehen?«

»Das will ich ihnen geraten haben, sonst bekommen sie es mit mir zu tun.« Mit kritischem Auge sah er zu, wie die Matrosen jeden Knoten in der Takelage, jede Leine und jedes Segel überprüften.

»Wir brauchen dreißig gute Männer. Ich kann mich auf acht verlassen. Der Rest? Nun, ich habe vor, unterwegs sowohl Carse als auch Tulan anzulaufen. Vielleicht können wir dort die Knaben und die weniger zuverlässigen Männer durch erfahrene Seeleute ersetzen.«

»Aber das bedeutet, daß wir die Straße der Finsternis noch später erreichen.«

»Wenn wir noch heute dort ankommen würden, könnten wir es schaffen. Aber wenn wir sie durchlaufen, dann ist eine zuverlässige Mannschaft wichtiger als eine Woche früher oder später.

Dann befinden wir uns ohnehin schon mitten im Winter.« Er musterte Arutha. »Wißt Ihr, warum die Durchfahrt ›Straße der Finsternis‹ heißt?«

Arutha schüttelte den Kopf. »Das ist nicht bloß Aberglaube der Matrosen. Es ist eine Beschreibung dessen, was man dort vorfindet«, berichtet Amos. Sein Blick schweifte in weite Fernen, als er fortfuhr: »Jetzt kann ich Euch ja von den verschiedenen Strömungen der Endlosen See und des Meeres der Bitterkeit erzählen, die dort zusammenstoßen, oder von den verrückten, ständig wechselnden Gezeiten des Winters, oder davon, wie Winde von Norden herab fegen und Schnee vor sich hertreiben, so dicht, daß man das Deck nicht vor sich sieht. Aber andererseits … Es gibt einfach keine Worte, um die Straße im Winter zu beschreiben. Das bedeutet, einen, zwei, drei Tage blindlings reisen. Und wenn der Wind Euch nicht zurück auf die Endlose See blast, dann aber auf die südlichen Felsen. Oder aber es gibt überhaupt keinen Wind, und der Nebel verhüllt alles, während die Strömungen Euch um und um drehen.«

»Ihr zeichnet ein düsteres Bild, Käpt’n«, bemerkte Arutha mit grimmigem Lächeln.

»Nur die Wahrheit. Ihr seid ein junger Mann mit ungewöhnlichem Verstand und guten Nerven, Hoheit. Ich habe gesehen, wie Ihr stehengeblieben seid, wenn Männer mit mehr Erfahrung schon fortgelaufen wären. Ich versuche nicht, Euch angst zu machen. Ich möchte nur, daß Ihr wißt, was Ihr zu tun vorschlagt. Wenn überhaupt jemand die Straße im Winter in dieser Büchse durchqueren kann, dann ist das Amos Trask, und das ist keine eitle Prahlerei. Ich bin schon oft knapp vor oder nach der Saison gefahren. Eines weiß ich daher: Es gibt kaum einen Unterschied zwischen Herbst und Winter, Winter und Frühling. Aber eines möchte ich Euch doch noch raten: Ehe Ihr Crydee verlaßt, solltet Ihr Euch zärtlich von Eurer Schwester verabschieden, solltet Eurem Vater und Eurem Bruder schreiben und all Eure Testamente und Vermächtnisse regeln.« Ohne eine Miene zu verziehen, erklärte Arutha: »Die Briefe und Legate sind geschrieben, und Carline und ich speisen heute abend allein.«

Amos nickte. »Wir fahren mit der Morgenflut. Dieses Schiff ist ein schwerfälliges Ungetüm und vom Wasser angefault, Hoheit, aber wir werden es schaffen, und wenn ich sie aufheben und tragen muß.«

Arutha verabschiedete sich. Nachdem er außer Sichtweite war, wandte Amos seine Aufmerksamkeit gen Himmel. »Astalon«, rief er den Gott der Gerechtigkeit an, »ich bin ein sündiger Mensch, das ist wahr. Aber mußt du mich gleich so bestrafen?« Nachdem er mit seinem Schicksal ins reine gekommen war, wandte sich Amos wieder seiner Arbeit zu und schaute nach, ob alles in Ordnung war.

Carline schlenderte durch den Garten. Die welkenden Blüten spiegelten ihre eigene, traurige Stimmung wider. Roland beobachtete sie aus kurzer Entfernung und suchte nach Worten, um sie zu trösten. Schließlich sagte er: »Eines Tages werde ich Baron von Tulan sein. Seit mehr als neun Jahren war ich jetzt nicht mehr daheim. Ich muß mit Arutha die Küste hinabfahren.«

Leise sagte sie: »Ich weiß.«

Er sah die Resignation in ihrem Gesicht und trat zur ihr und umarmte sie. »Eines Tages wirst du dort auch Baronin sein.«

Sie preßte ihn fest an sich, trat dann aber zurück und zwang sich zu einer fröhlicheren Stimmung.

»Trotzdem, nach all diesen Jahren sollte man meinen, daß dein Vater es gelernt hat, ohne dich auszukommen.«

Er lächelte. »Er sollte mit Baron Bellamy den Winter in Jonril verbringen und die Vergrößerung der Garnison überwachen. Jetzt werde ich für ihn dorthin gehen. Meine Brüder sind alle noch zu jung. Wenn sich die Tsuranis für den Winter eingegraben haben, ist das unsere einzige Chance, die Festung zu vergrößern.«

Mit gezwungener Fröhlichkeit sagte sie: »Wenigstens muß ich mir keine Gedanken darüber machen, daß du die Herzen der Damen am Hofe deines Vaters brechen wirst.«

Er lachte. »Dazu gibt es kaum Gelegenheit. Die Vorräte und die Männer sind schon bereit, und die Barkassen können jederzeit auslaufen, um den Wyndermeer-Fluß hinaufzufahren. Wenn Amos mich in Tulan abgesetzt hat, werde ich wohl ein, zwei Tage daheim verbringen, mehr nicht, ehe ich mich erneut auf die Reise mache. Das wird ein langer Winter in Jonril werden, wenn meine ganze Gesellschaft aus Soldaten und ein paar Bauern in dieser gottverlassenen Festung besteht.«

Carline hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. »Ich hoffe, dein Vater muß im Frühjahr nicht feststellen, daß du seinen ganzen Besitz im Spiel an die Soldaten verloren hast.«

Roland lächelte sie an. »Ich werde dich vermissen.« Carline ergriff seine Hände. »Und ich dich.«

Eine Weile blieben sie so stehen, wie erstarrt. Dann jedoch brach Carlines Beherrschung zusammen. Plötzlich war sie nicht mehr das mutige Mädchen, sondern lag in seinen Armen. »Paß auf, daß nichts geschieht. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.«

»Ich weiß«, erwiderte er sanft. »Aber vor den anderen mußt du weiterhin dein tapferes Gesicht zeigen. Fannon wird hier bei Hofe deine Hilfe benötigen, und du wirst für den gesamten Haushalt verantwortlich sein. Du bist Herrin von Crydee, und viele Menschen werden von deiner Führung abhängen.«

Sie sah zu, wie die Banner auf den Mauern im Wind des späten Nachmittags flatterten. Die Luft war kalt, und er zog seinen Mantel um sie zusammen. Zitternd bat sie: »Komm zu mir zurück, Roland.«

Und leise antwortete er: »Ich werde wiederkommen, Carline.« Er versuchte, ein kaltes, eisiges Gefühl abzuschütteln, das ihn durchflutete, aber es gelang ihm nicht.

 

Sie standen noch vor Sonnenaufgang in der Dunkelheit des Morgens an Deck. Arutha und Roland warteten neben der Gangway. Arutha sagte: »Paßt gut auf alles auf, Schwertmeister.«

Fannon stand, die Hand am Schwert, vor ihnen. Trotz seines vorgeschrittenen Alters hielt er sich noch immer stolz und aufrecht. »Das will ich, Hoheit.«

Leise lächelnd fuhr Arutha fort: »Und wenn Gardan und Algon von ihrer Patrouille zurückkommen, weist sie an, auf Euch achtzugeben.«

Fannons Augen funkelten. »Unverschämter Bengel! Ich kann noch jeden Mann des Schlosses schlagen, außer Eurem Vater. Kommt her und zieht Euer Schwert. Dann will ich Euch zeigen, warum ich immer noch das Zeichen des Schwertmeisters trage.«

In gespielter Unterwerfung hielt Arutha die Hände hoch. »Fannon, es tut gut, wieder solche Funken zu sehen. Crydee ist bei diesem Schwertmeister in guten Händen.«

Fannon trat vor und legte seine Hand auf Aruthas Schulter. »Seid vorsichtig, Arutha. Ihr wart immer mein bester Schüler. Ich würde Euch nicht gern verlieren.«

Arutha lächelte seinem alten Lehrer zärtlich zu. »Ich danke Euch, Fannon. Ich würde mich auch nicht gern verlieren. Ich komme wieder – und ich bringe Erlands Soldaten mit.«

Arutha und Roland eilten an Deck, während diejenigen am Kai zum Abschied winkten. Martin Langbogen wartete an der Reling. Er sah zu, wie die Gangway entfernt wurde und die Männer die Leinen lösten. Amos Trask brüllte seine Befehle, und die Segel wurden herabgelassen. Langsam glitt das Schiff vom Kai in den Hafen hinaus. Arutha schaute schweigend hin, als die Docks hinter ihnen zurückblieben. Roland und Martin standen an seiner Seite.

Roland bemerkte: »Ich bin froh, daß die Prinzessin beschlossen hatte, nicht zu kommen. Noch ein Abschied wäre mehr gewesen, als ich hätte ertragen können.«

»Verstehe«, sagte Arutha. »Sie hat dich sehr gern, Junker, wenngleich ich nicht begreifen kann, weshalb.« Roland schaute hinüber, wollte sehen, ob der Prinz Witze machte, und stellte fest, daß Arutha leicht lächelte. »Ich habe nicht davon gesprochen«, fuhr der Prinz fort. »Aber da wir uns vielleicht für geraume Zeit nicht sehen, wenn du uns in Tulan verlassen hast, sollst du jetzt eines wissen: Wenn deine Gelegenheit kommt, mit Vater zu sprechen, dann werde ich mich für dich verwenden.«

»Danke, Arutha.«

In der Dunkelheit glitten die Stadt und dann der Leuchtturm vorbei. Die ersten Anzeichen der Dämmerung senkten alles in Grau und Schwarz. Nach einer Weile tauchten dann die riesigen Umrisse der Hüterfelsen steuerbord auf.

Amos befahl, das Ruder herumzuziehen, und sie schlugen einen südwestlichen Kurs ein, setzten mehr Segel, bis sie voll vor dem Wind daherliefen. Das Schiff gewann an Geschwindigkeit, und Arutha konnte Möwen über seinem Kopf kreischen hören. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß sie Crydee verlassen hatten. Ihm war kalt, und er zog seinen Umhang fest um sich zusammen.

 

Arutha stand auf dem Achterdeck und hielt ein Entermesser bereit, während Martin an seiner Seite einen Pfeil in seinen Bogen spannte. Auch Amos Trask und sein erster Maat, Vasco, hatten ihre Waffen gezogen. Sechs wütende Matrosen waren unten auf dem Deck versammelt, während der Rest der Mannschaft die Konfrontation beobachtete.

Ein Matrose rief von Deck: »Ihr habt uns belogen, Käpt’n. Ihr seid nicht nach Norden, Richtung Crydee, gesegelt, wie Ihr es uns in Tulan gesagt habt. Wenn Ihr nicht wollt, daß wir bis nach Kesh segeln, dann bleibt im Süden bloß noch die Straße der Finsternis. Habt Ihr also vor, die Straße der Finsternis zu durchqueren?«

Amos brüllte: »Verdammt, Mann. Willst du meinen Befehlen etwa nicht gehorchen?«

»Genau, Käpt’n. Es ist einfach schon Tradition: Es gibt keine gültige Abmachung zwischen einem Käpt’n und seiner Mannschaft, nach der sie die Straße im Winter durchqueren muß, außer wenn das vorher gemeinsam beschlossen wurde. Ihr habt uns belogen, und so sind wir nicht verpflichtet, Euch zu gehorchen und mit Euch zu segeln.«

Arutha hörte, wie Amos murmelte: »Ein verdammter Rechtsgelehrter.« Zu dem Matrosen sagte er: »Also gut.« Dann reichte er Vasco sein Entermesser, stieg die Leiter hinab aufs Hauptdeck und näherte sich freundlich lächelnd dem Matrosen.

»Schaut mal, Jungs«, fing er an, nachdem er die sechs widerspenstigen Seeleute erreicht hatte, die alle Belegnägel oder Splißeisen in den Händen hielten, »ich will ganz ehrlich mit euch sein. Der Prinz muß unbedingt nach Krondor, sonst ist im kommenden Frühjahr die Hölle los. Die Tsuranis stellen eine große Streitmacht auf, die vielleicht Crydee angreifen wird.« Er legte seine Hand auf die Schulter des Sprechers der Matrosen. »Das heißt also: Wir müssen nach Krondor segeln.« Mit einer plötzlichen Bewegung legte Amos den Arm um den Hals des Mannes. Dann lief er auf die Seite und hievte den hilflosen Seemann über die Reling. »Wenn ihr nicht mitkommen wollt«, rief er, »dann könnt ihr ja nach Tulan zurückschwimmen!«

Ein anderer Matrose schickte sich an, auf Amos zuzueilen, als ein Pfeil heranschwirrte und sich vor seinen Füßen ins Holzdeck bohrte. Er schaute auf und sah Martin, der auf ihn zielte. Der Jagdmeister meinte: »Würde ich nicht tun.«

Der Mann ließ sein Splißeisen fallen und trat zurück. Amos wandte sich zu den Matrosen um.

»Wenn ich das Achterdeck erreiche, solltet ihr euch besser in der Takelage befinden – oder über Bord gegangen sein. Das ist mir gleich. Jeder Mann, der nicht arbeitet, wird als der Hund gehängt, der er ist.«

Die schwachen Hilferufe des Mannes im Wasser konnten gehört werden, als Amos aufs Achterdeck zurückkehrte. Er wandte sich an Vasco: »Werft diesem Narren ein Seil zu, und wenn er noch nicht nachgibt, stoßt ihn wieder ins Wasser.« Dann brüllte er: »Segel setzen für die Straße der Finsternis.«

Arutha blinzelte das Meerwasser aus seinen Augen und hielt sich mit aller Kraft an der Sicherheitsleine fest. Über das ganze Schiff waren sie gespannt worden, denn in der rauhen See war es unmöglich, sich auf den Beinen zu halten, wenn man sich nicht irgendwo festhalten konnte.

Arutha zog sich die Leiter hinauf aufs Achterdeck und stolperte auf Amos Trask zu. Der Kapitän wartete neben dem Steuermann und legte sein großes Gewicht gegen die Ruderpinne, wenn es nötig wurde. Er stand wie angewurzelt, wie mit dem Deck verwachsen da, die Beine weit gespreizt. Er verlagerte sein Gewicht bei jeder Bewegung des Schiffes, während seine Augen die Finsternis über ihm durchdrangen. Er sah, lauschte, jeder Sinn im Einklang mit dem Rhythmus seines Schiffes.

Arutha wußte, daß er zwei Tage und eine Nacht nicht geschlafen hatte, und auch heute nacht kaum.

»Wie lange noch?« brüllte Arutha.

»Ein, zwei Tage, wer kann das sagen?« Ein Geräusch kam von oben. Es hörte sich wie das Knacken von Eis im Frühjahr auf dem Crydee-Fluß an. »Hart nach Backbord!« schrie Amos und lehnte sich schwer gegen die Pinne. Als sich das Schiff auf die Seite legte, rief er Arutha zu: »Noch ein Tag mit diesem gottverfluchten Wind, und wir können von Glück sagen, wenn das Schiff uns noch nach Tulan zurückbringt.«

»Wetterumschwung!« kam der Ruf von oben.

»Wo?«

»Steuerbord!«

»Herum!« befahl Amos, und der Steuermann lehnte sich gegen die Pinne.

Arutha strengte seine Augen an. Er versuchte, das brennende, salzige Sprühwasser zu durchdringen, und entdeckte einen schwachen Schimmer. Er schien herumzuschwingen, bis er direkt vor dem Bug lag. Dann wurde er immer größer und größer, als sie auf das bessere Wetter zuhielten. Als träten sie aus einem dunklen Raum, so bewegten sie sich vom Dunkel ins Licht. Der Himmel schien sich über ihnen zu öffnen, und sie konnten graue Wolken sehen. Noch immer schlugen die Wellen hoch, aber Arutha spürte, daß das Wetter endlich umgeschlagen war. Er schaute über seine Schulter und sah den Sturm wie eine schwarze Masse, als er sich von ihnen fort bewegte.

Von Minute zu Minute wurden die Sturzwellen seltener, und nach dem Lärm und Tosen des Sturmes schien das Meer plötzlich ruhig. Der Himmel wurde schnell heller, und Amos sagte: »Es ist Morgen. Ich muß das Gefühl für die Zeit verloren haben. Ich dachte, es wäre noch Nacht.«

Arutha sah dem zurückweichenden Sturm nach. Deutlich konnte er ihn erkennen. Er schien wie eine brodelnde Masse von Dunkelheit vor dem helleren Grau des Himmels über ihnen. Das Grau wandelte sich schnell zu Schiefer, dann zu Blaugrau, als die Morgensonne durch den Sturm brach.

Fast eine Stunde lang beobachtete Arutha dieses Schauspiel, während Amos seinen Männern Befehle erteilte und die Nachtwache zum Schlafen und die Tagwache auf ihre Plätze schickte.

Der Sturm raste gen Osten. Hinter ihm blieb eine aufgewühlte, aber im übrigen ruhige See zurück. Die Zeit schien spurlos zu verstreichen, während Arutha ehrfürchtig auf die Szene am Horizont starrte. Ein Teil des Sturms schien zwischen fernen Landfingern zu verharren. Große Wasserfontänen tanzten zwischen den beiden Begrenzungen der schmalen Durchfahrt in der Ferne.

Es sah aus, als hätte eine übermächtige Kraft dunkle, brodelnde Wolken in diesem Gebiet eingefangen.

»Die Straße der Finsternis«, bemerkte Amos Trask an seiner Schulter.

»Wann durchfahren wir sie?« wollte Arutha wissen.

»Jetzt«, lautete die Antwort. Der Kapitän drehte sich um und rief: »Tagwache nach oben! Die anderen nach unten, aber bereit halten! Steuermann, Kurs nach Osten!«

Einige Männer kletterten in die Takelung, und andere kamen noch immer mitgenommen von unten herauf. Die wenigen Stunden Schlaf seit ihrer letzten Wache hatten ihnen kaum geholfen.

Arutha warf die Kapuze seines Umhangs zurück und fühlte das kalte Stechen des Windes in seinem feuchten Haar. Amos packte ihn am Arm. »Selbst wenn wir wochenlang warten, ist uns der Wind vielleicht nicht noch einmal so günstig. Dieser Sturm war ein Segen – in Verkleidung –, denn mit seiner Hilfe können wir jetzt kühn hineinsegeln.«

Arutha schaute fasziniert zu, wie sie auf die Straße zuhielten. Wetter und Strömungen im Meer hatten die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die Straße den ganzen Winter über in Dunkelheit getaucht war. Schon bei klarem, mildem Wetter war die Meerenge eine schwierige Strecke. Obwohl sie fast überall recht breit erschien, befanden sich doch gefährliche Felsen an kritischen Stellen knapp unterhalb der Wasseroberfläche. Bei schlechtem Wetter hielten die meisten Kapitäne sie für undurchfahrbar. Regengüsse oder dichtes Schneetreiben wurden von den Grauen Türmen herübergeblasen. Sie versuchten, sich hier zu senken, bloß, um wieder von Windböen gepackt und aufwärts geschleudert zu werden. Und schon begannen sie erneut, sich herabzusenken. Plötzlich sprudelten Wasserfontänen empor, wirbelten minutenlang wie irrsinnig durch die Luft und lösten sich dann zu blendenden, die Sicht raubenden Kaskaden auf. Blitze zuckten, gefolgt von grollendem Donner, als die ganze Wut der zusammenstoßenden Wetterfronten entfesselt wurde. Strömungen aus zwei Meeren trafen aufeinander, wirbelten herum und schufen plötzliche Wirbel und Söge, die ein Schiff unerwartet herumdrehen konnten.

»Wir haben starken Seegang. Das ist gut. So haben wir mehr Platz, um die Klippen zu umgehen, und innerhalb kurzer Zeit sind wir entweder hindurch oder in tausend Stücke zerschmettert. Wenn der Wind anhält, haben wir es hinter uns, ehe dieser Tag zu Ende ist.« – »Und was ist, wenn er wechselt?«

»Darüber sollten wir besser nicht nachdenken.«

Sie rasten vorwärts und stießen in der Straße mit dem schlechten Wetter zusammen. Das Schiff schauderte, als zögere es erneut, sich dem schlechten Wetter zu stellen. Arutha klammerte sich an der Reling fest, als das Schiff zu schlingern und rucken anfing. Amos suchte sich seinen Weg, wich den plötzlichen Böen aus und hielt das Schiff im westlichen Schlepp des Sturmes.

Alles Licht entschwand. Nur das flackernde, tanzende Fackeln der Sturmlampen beleuchtete das Schiff und warf zuckende, gelbe Pfeile in die Düsternis. Das entfernte Dröhnen von Wellen die auf Felsen aufschlugen, tönte von allen Seiten und verwirrte ihnen die Sinne. Stunden vergingen in diesem wütenden Tosen, Stunden, in denen Amos seine Mannschaft anwies, jeder Herausforderung von Wind und Wellen die Stirn zu bieten. Gelegentlich durchzuckte ein blendender Blitz die Dunkelheit. Er ließ jede kleinste Einzelheit deutlich werden, ließ verwirrende Bilder vor ihren Augen zurück, wenn die Dunkelheit wiederkehrte.

Plötzlich schien das Schiff seitwärts auszubrechen, und Arutha fühlte, wie seine Füße unter ihm fortglitten, als das Schiff schlingerte. Mit aller Kraft klammerte er sich an der Reling fest. Ein entsetzliches, knirschendes Geräusch schien seine Ohren zu betäuben. Das Schiff richtete sich wieder auf, und Arutha wandte sich um. Im flackernden Schein der Sturmlaternen sah er die Ruderpinne wild hin- und herschlagen. Der Steuermann lag zusammengesunken an Deck. Blut quoll aus seinem offenen Mund und färbte sein Gesicht dunkel. Amos versuchte verzweifelt, die Pinne zu packen. Er riskierte gebrochene Rippen, als es ihm endlich gelang, und es kostete ihn einen verzweifelten Kampf, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen.

Arutha taumelte zum Ruder und drückte mit seinem ganzen Gewicht dagegen. Ein langgezogener, knirschender Ton erklang von Steuerbord. Das Schiff bebte.

»Dreh dich schon, du mutterlose Hündin!« fluchte Amos, während er mit aller Kraft, die ihm noch geblieben war, an der Pinne zerrte. Arutha fühlte, wie seine Muskeln schmerzend protestierten, als er das scheinbar unbewegliche Ruder herumdrücken wollte. Ganz langsam bewegte es sich, erst einen Zentimeter, dann noch einen. Das Knirschen wurde lauter, bis Aruthas Ohren davon dröhnten.

Plötzlich war die Pinne wieder frei. Arutha verlor das Gleichgewicht und flog über Deck. Er schlug auf das harte Holz auf und glitt über die nasse Oberfläche, bis er ins Schanzkleid krachte.

Keuchend entwich die Luft aus seinen Lungen. Eine Welle durchnäßte ihn. Er spuckte und spie das Meerwasser aus. Benommen zog er sich hoch und taumelte zur Pinne zurück.

Im schwachen Licht war Amos’ Gesicht weiß vor Anstrengung, aber er blickte mit großen Augen. Sein Gesicht nahm einen irrsinnigen Ausdruck an, als er lachte. »Hatte schon gedacht, Ihr wäret über Bord gegangen.«

Arutha lehnte sich gegen die Pinne, und gemeinsam zwangen sie das Ruder, sich wieder zu bewegen. Amos irrsinniges Lachen erscholl, und Arutha fragte ihn: »Was ist da eigentlich so verdammt komisch?«

»Schaut!«

Keuchend blickte Arutha auf die Stelle, die Amos ihm bedeutete. In der Dunkelheit konnte er riesige Gebilde ausmachen, die sich neben dem Schiff erhoben, schwarze Schatten vor der Finsternis der Nacht. Amos brüllte: »Wir ziehen an den Großen Südlichen Felsen vorbei. Zieht, Prinz von Crydee! Zieht, wenn Ihr jemals wieder trockenes Land sehen wollt!«

Arutha hängte sich an die Pinne und zwang das plumpe Schiff fort von der schrecklichen Umarmung der Klippen, die nur wenige Meter entfernt lagen. Wieder fühlten sie das Schiff unter ihren Füßen beben, und erneut hörten sie einen knirschenden Ton von unten heraufklingen. Amos brüllte: »Wenn das Schiff noch einen Rumpf hat, wenn wir hier durch sind, dann soll mich das wundern!«

Aruthas Bewußtsein veränderte sich. Sekunden, Minuten, Stunden verloren jegliche Bedeutung für ihn. Zusammen mit Amos kämpfte er darum, das Schiff unter Kontrolle zu halten, aber seine Sinne zeichneten alles um ihn her bis in die kleinste Kleinigkeit auf. Durch das feuchte Leder seiner Handschuhe konnte er die Maserung des Holzes fühlen. Das Material seiner Strümpfe drückte ihn zwischen den Zehen in den von Wasser durchtränkten Stiefeln. Der Wind roch nach Salz und Pech, nach feuchten Wollmützen und regennasser Leinwand. Jedes Knirschen und Ächzen des Holzes, jedes Klatschen eines Taus gegen das Holz, jeder Ruf der Männer von oben war deutlich zu hören.

Auf seinem Gesicht spürte er den Wind und die kalte Berührung von schmelzendem Schnee und Seewasser, und er lachte. Nie zuvor hatte er sich dem Tod so nahe gefühlt, und nie zuvor war er lebendiger gewesen. Muskeln arbeiteten, und er maß seine Kraft mit urwüchsigen und mächtigen Kräften. Weiter und weiter fuhren sie und tauchten hinein in den Wahnsinn der Straße der Finsternis.

Arutha hörte, wie Amos seine Befehle brüllte, wie er die Bewegung eines jeden Mannes auf die Sekunde genau festlegte und auf die anderen abstimmte. Er spielte sein Schiff wie ein Musiker seine Laute, spürte jedes Beben, jeden Ton und kämpfte um die Harmonie in der Bewegung, die die Morgenwind sicher durch dieses gefährliche Wasser leiten würde. Die Mannschaft kam jedem Befehl unverzüglich nach, spielte in der verräterischen Takelage mit ihrem Leben, aber die Männer wußten, daß ihre Sicherheit einzig und allein von seinem Können abhing.

Dann war es vorbei. Im einen Augenblick kämpften sie noch mit aller Kraft, um die Klippen zu umschiffen und durch die Meerenge zu fahren, im nächsten Augenblick rauschten sie schon vor einer steifen Brise einher, und die Dunkelheit lag hinter ihnen.

Der Himmel vor ihnen war bewölkt, aber der Sturm, der sie tagelang festgehalten hatte, lag hinter ihnen und war nur noch ein ferner Schatten am östlichen Horizont. Arutha blickte auf seine Hände, als wären es fremde Gegenstände und von eigenem Leben erfüllt. Mit aller Willenskraft zwang er sich, den Griff von der Pinne zu lösen.

Matrosen fingen ihn auf, als er zusammenbrach, und legten ihn auf Deck. Eine Weile wirbelten seine Sinne. Dann sah er Amos, der ein kurzes Stück entfernt saß, während Vasco das Ruder übernahm. Amos’ Gesicht war immer noch fröhlich, als er sagte: »Wir haben es geschafft, Junge. Wir sind im Bitteren Meer.«

Arutha schaute sich um. »Warum ist es immer noch so dunkel?«

Amos grinste. »Die Sonne geht gleich unter. Wir haben Stunden am Ruder gestanden.«

Auch Arutha fing nun an zu lachen. Nie zuvor hatte er solchen Triumph verspürt. Er lachte, bis ihm Tränen der Erschöpfung über das Gesicht liefen und seine Seiten schmerzten. Amos kroch fast an seine Seite. »Weißt du, was es bedeutet, dem Tod ins Gesicht zu lachen, Arutha? Du wirst nie wieder derselbe sein.«

Arutha holte Atem. »Ich habe eine Zeitlang gedacht, du wärst verrückt geworden.«

Amos griff nach einem Weinschlauch, den ein Matrose ihm reichte, und nahm einen tiefen Zug.

Dann gab er ihn an Arutha weiter und sagte: »Ja, genau wie du auch. Nur wenige lernen dies Gefühl in ihrem Leben kennen. Es ist eine Vision, etwas so Klares, Wahrhaftiges, das kann nur Wahnsinn sein. Man sieht, was das Leben wert ist, und erkennt, was der Tod bedeutet.«

Arutha schaute zu dem Matrosen auf, der neben ihnen stand. Er erkannte den Mann, den Amos über die Reling geworfen hatten, damit er seinen Trotz aufgab. Vasco warf dem Mann mit gerunzelter Stirn einen Blick zu, aber der rührte sich nicht. Amos blickte schließlich zu ihm empor, und der Seemann sprach: »Käpt’n, ich wollte bloß sagen… ich hab’ mich geirrt. Dreizehn Jahre bin ich Matrose, und ich hätte mit Lims-Kragma um meine Seele gewettet, daß niemand ein Schiff wie dieses durch die Straße der Finsternis steuern kann.« Er senkte die Augen und fuhr fort: »Ihr könnt mich prügeln lassen für das, was ich getan hab’, Käpt’n. Aber danach segle ich mit Euch zu den Sieben Tieferen Höllen, und das würden alle Männer hier an Bord tun.«

Arutha schaute sich um und sah andere Männer, die sich auf dem Achterdeck sammelten oder aus der Takelage auf sie herabspähten. Von allen Seiten ertönten Rufe wie »Aye, Käpt’n!« und »Er hat den Dreh raus!«

Amos richtete sich mühsam auf und umklammerte die Reling des Schiffes. Seine Beine zitterten leicht. Er sah die versammelten Männer der Reihe nach an, ehe er brüllte: »Nachtwache an Deck!

Die anderen nach unten!« Er wandte sich Vasco zu. »Untersucht den Bug und Rumpf auf Schäden. Dann nehmt Kurs auf Krondor.«

 

Arutha wachte in seiner Kabine auf. Martin Langbogen saß an seiner Seite. »Hier.« Der Jagdmeister hielt ihm einen Becher mit dampfender Brühe entgegen.

Arutha stützte sich auf einen Ellbogen. Sein müder und zerschundener Körper schmerzte. Der Prinz nippte an der heißen Brühe. »Wie lange habe ich geschlafen?«

»Du bist gestern abend an Deck eingeschlafen, kurz nach Sonnenuntergang. Jetzt ist es drei Stunden nach Sonnenaufgang.«

»Das Wetter?«

»Mild, jedenfalls stürmt es nicht. Amos ist wieder an Deck. Er meint, daß es so bleiben könnte.

Der Schaden unten ist nicht zu schlimm. Wir können es schaffen, wenn wir in keinen weiteren Sturm kommen. Aber selbst dann gibt es entlang der Küste von Keshian noch einige annehmbare Ankerplätze, an denen wir sicher sind, wenn es nötig werden sollte – sagt Amos.«

Arutha hievte sich aus seiner Koje, warf seinen Mantel um und ging an Deck, gefolgt von Martin. Amos stand am Ruder und musterte das Segel, in dem sich der Wind fing. Er senkte den Blick und beobachtete, wie Arutha und Martin die Leiter zum Achterdeck hinaufstiegen. Einen Augenblick studierte er das Paar, als wäre ihm plötzlich der eine oder andere Gedanke gekommen.

Er lächelte, als Arutha fragte: »Wie halten wir uns?«

»Wir liegen gut vor dem Wind, seit wir die Straße verlassen haben. Wenn er weiterhin aus Nordost bläst, dann sollten wir Krondor bald erreichen. Aber der Wind hält selten wirklich an, also brauchen wir vielleicht ein bißchen länger.«

Der Rest des Tages verging ereignislos, und Arutha genoß das Gefühl von Ruhe nach den Gefahren der vergangenen Tage. In der Nacht zeigten sich die Sterne klar am Himmel, und er verbrachte einige Stunden an Deck und betrachtete die leuchtenden Punkte am Himmel. Martin erschien an Deck. Arutha hörte ihn kommen und sagte: »Kulgan und Tully behaupten, die Sterne wären ebensolche Sonnen wie unsere eigene. Sie wirken nur kleiner, weil sie so weit entfernt sind.«

»Eine unglaubliche Vorstellung, aber ich denke, sie haben recht.«

»Hast du dich schon einmal gefragt, ob auf einem von ihnen vielleicht die Heimat der Tsuranis ist?«

Martin stützte sich auf die Reling. »Schon oft, Hoheit. In den Bergen kann man die Sterne genauso sehen, wenn die Lagerfeuer erloschen sind. Kein Licht aus der Stadt oder der Burg läßt sie verblassen, und sie funkeln am Himmel. Ich habe mich schon gefragt, ob auf einem von ihnen unser Feind lebt. Charles hat mir erzählt, daß ihre Sonne heller ist als unsere, und ihre Welt heißer.«

»Das erscheint mir unmöglich. Krieg zu führen, über eine solche Entfernung, solche Leere hinweg – das spottet jeglicher Logik.«

Schweigend standen sie nebeneinander. Sie waren in den Anblick der Nacht vertieft und kümmerten sich nicht um den frischen Wind, der sie nach Krondor trug. Schritte hinter ihnen ließen sie herumfahren. Amos Trask tauchte auf. Er zögerte einen Augenblick und musterte die beiden Gesichter vor sich. Dann trat er zu ihnen an die Reling. »Sterngucker, was?«

Die anderen sagten nichts, und Trask starrte in die Kielwelle des Schiffes und dann in den Himmel. »Es gibt nichts dem Meer Vergleichbares, meine Herren. Diejenigen, die ihr Leben nur auf dem Festland verbringen, können das nie verstehen. Das Meer ist manchmal grausam, manchmal sanft, nie vorhersehbar. Aber in Nächten wie diesen bin ich dankbar, daß die Götter mir erlaubt haben, Seemann zu werden.«

»Und so etwas wie ein Philosoph dazu.«

Amos kicherte. »Nehmt irgendeinen Hochseematrosen, der dem Tod auf See so oft ins Auge geschaut hat wie ich, Hoheit, und kratzt leicht an der Oberfläche. Darunter werdet ihr immer einen Philosophen finden. Keine tollen Worte, sicher nicht, aber ein tiefes Gefühl für seinen rechten Platz auf dieser Welt.«

Martin sprach ganz leise, fast wie zu sich selbst. »Als ich noch ein Junge war, zwischen den hohen Bäumen, da habe ich auch manchmal solche Gefühle gehabt. Wenn man neben einem Stamm steht, der älter ist als die älteste Erinnerung der Menschheit, dann bekommt man auch ein solches Gefühl.«

Arutha streckte sich. »Es ist schon spät. Ich wünsche euch beiden eine gute Nacht.« Er schickte sich zum Gehen an, als ihm plötzlich ein Gedanke zu kommen schien. »Ich bin zwar nicht so ein Philosoph wie ihr beide, aber ich freue mich, daß ich diese Reise mit euch machen kann.«

Nachdem er fort war, betrachtete Martin eine Weile die Sterne. Plötzlich wurde er sich bewußt, daß Amos ihn musterte. Er schaute dem Seemann ins Gesicht. »Ihr scheint nachdenklich, Amos.«

»Richtig, Meister Langbogen.« Er stützte sich gegen die Reling. »Fast sieben volle Jahre sind vergangen, seit ich nach Crydee gekommen bin. Und etwas geht mir nicht aus dem Kopf, seit ich Euch das erste Mal gesehen habe.«

»Und was ist das, Amos?«

»Ihr seid ein Mann der Geheimnisse, Martin. In meinem eigenen Leben gibt es auch viele Dinge, die ich jetzt lieber nicht bekannt werden lassen möchte. Aber bei Euch ist das etwas anderes.«

Martin schien der Wendung der Unterhaltung gleichgültig gegenüberzustehen, aber seine Augen verengten sich leicht. »Es gibt nur wenig, was in Crydee nicht über mich bekannt wäre.«

»Schon, aber eben dieses wenige ist es, was mich beunruhigt.«

»Macht Euch keine Gedanken, Amos. Ich bin der Jagdmeister des Herzogs, mehr nicht.«

Ruhig widersprach Amos: »Ich glaube, Ihr seid doch mehr, Martin. Während meiner Streifzüge durch die Stadt, als ich den Wiederaufbau überwachte, habe ich eine Menge Leute getroffen, und in den sieben Jahren habe ich viel Klatsch über Euch gehört. Vor einiger Zeit nun habe ich die Stücke zusammengesetzt und bin auf eine Antwort gestoßen. Sie erklärt, warum ich immer sehe, daß eine Veränderung mit Euch vorgeht, in Eurem Verhalten – nicht stark, nur ein wenig, aber doch so, daß man sie bemerken kann –, wenn Ihr in Aruthas Nähe seid. Und noch deutlicher ist sie zu erkennen, wenn die Prinzessin bei Euch ist.«

Martin lachte. »Ach, Amos, das ist doch ein altes Märchen. Glaubt Ihr wirklich, ich würde an Liebeskummer wegen der kleinen Prinzessin leiden? Glaubt Ihr, daß ich Carline liebe?«

Amos seufzte. »Das glaube ich allerdings. So, wie jeder Bruder seine Schwester liebt.«

Martin hatte sein Messer schon halb gezogen, als Amos seine Hand packte. Der untersetzte Seemann hielt das Handgelenk des Jagdmeisters wie in einem Schraubstock umfangen, und Martin konnte seinen Arm nicht rühren. »Bezwingt Euren Zorn, Martin. Ich würde Euch nicht gern über die Reling tauchen müssen, damit Ihr Euch beruhigt.«

Martin wehrte sich nicht länger gegen Amos und steckte sein Messer in die Scheide zurück.

Amos hielt das Handgelenk des Jägers noch einen Moment länger, dann ließ er ihn los. Nach einer Weile meinte Martin: »Sie weiß nichts davon, ebensowenig wie ihre Brüder. Bis heute dachte ich, nur der Herzog und ein oder zwei andere würden davon wissen. Wie habt Ihr es erfahren?«

»Das war nicht schwer. Meistens sehen die Leute einfach nicht, was direkt unter ihren Augen vorgeht.« Amos drehte sich um und betrachtete die Segel über sich. Während er weitersprach, überprüfte er jede Einzelheit an Bord und bei der Mannschaft. »Ich habe ein Gemälde in der großen Halle gesehen, das den Herzog darstellt. Wenn Ihr Euch einen Bart wachsen lassen würdet, wie er ihn trägt, dann würde die Ähnlichkeit zwischen Euch zum Himmel schreien. Alle im Schloß reden immer nur davon, wie Arutha seiner Mutter von Jahr zu Jahr weniger und seinem Vater immer mehr ähnlich wird. Seit ich Euch zum erstenmal begegnet bin, habe ich mich gefragt, warum niemand bemerkt, daß er Euch ebenso ähnlich sieht. Ich vermute, sie sehen es nicht, weil sie es nicht wollen. Dabei erklärt es so vieles: daß Ihr vom Herzog dem alten Jagdmeister zugeteilt worden seid und daß Ihr dann zum neuen Jagdmeister gewählt worden seid, als einer benötigt wurde. Ich habe es schon seit einiger Zeit vermutet, aber heute abend war ich mir sicher. Als ich vorhin hier heraufkam und ihr euch beide umgedreht habt, wußte ich für einen Augenblick nicht, wer von euch wer war.«

Martin sprach völlig gefühllos und verdeutlichte nur eine Tatsache. »Es kostet Euch das Leben, wenn Ihr irgend jemandem gegenüber ein Wort davon verlauten lassen solltet.«

Amos machte es sich bequem. »Mir kann man nicht drohen, Martin Langbogen.«

»Es ist eine Sache der Ehre.«

Amos verschränkte die Arme vor der Brust. »Lord Borric ist nicht der erste Adlige, der Vater eines Bastards ist. Vielen von ihnen sind Rang und Würden verliehen worden. Wie also könnte es die Ehre des Herzogs von Crydee gefährden?«

Martin umklammerte die Reling. Wie eine Statue stand er in der Nacht. Seine Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen. »Nicht seine Ehre, Käpt’n. Meine.« Er sah Amos offen an. In der dunklen Nacht schienen seine Augen ein eigenes Leben zu haben und von innen heraus zu leuchten, als sie das Licht zurückwarfen, das von der Laterne ausging, die hinter dem Seemann hing. »Der Herzog weiß von meiner Geburt. Aus Gründen, die nur ihm bekannt sind, hat er beschlossen, mich nach Crydee zu holen, als ich kaum den Kinderschuhen entwachsen war. Ich bin sicher, daß Pater Tully Bescheid weiß, denn er genießt das Vertrauen des Herzogs. Möglicherweise ist es auch Kulgan bekannt. Aber keiner von ihnen vermutet, daß ich es weiß. Sie glauben, ich hätte keine Ahnung.«

Amos strich sich den Bart. »Ein dummes Problem, Martin. Geheimnisse über Geheimnisse. Nun, Ihr habt mein Wort – aus Freundschaft, nicht wegen Eurer Drohung –, daß ich zu niemandem etwas davon verlauten lassen werde, außer Ihr erlaubt es mir. Trotzdem, wenn ich Arutha richtig einschätze… Ich glaube, er sollte es besser wissen.«

»Das muß ich entscheiden, Amos, niemand sonst. Eines Tages werde ich es ihm vielleicht erzählen, vielleicht auch nicht.«

Amos stieß sich von der Reling ab. »Ich muß noch viel erledigen, ehe ich schlafen gehen kann, Martin, aber eines will ich doch noch sagen. Ihr habt einen einsamen Kurs eingeschlagen. Ich beneide Euch nicht um Euren Weg. Gute Nacht.«

»Gute Nacht.« Nachdem Amos aufs Achterdeck zurückgekehrt war, betrachtete Martin die vertrauten Sterne am Himmel. Alle Kameraden seiner einsamen Streifzüge durch die Berge von Crydee blickten auf ihn herab. Da waren der Wildjäger und der Jagdhund, der Drache, der Krake und die Fünf Juwelen. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Meer zu und starrte in die Schwärze hinab. Er war verloren in Gedanken, von denen er sich einmal eingebildet hatte, sie wären für alle Zeiten begraben.

 

»Land ahoi!« brüllte die Wache. »Wo?« rief Amos zurück. »Direkt voraus, Käpt’n!«

Arutha, Martin und Amos verließen das Achterdeck und begaben sich schnell zum Bug. Als sie darauf warteten, daß das Land sichtbar würde, meinte Amos: »Spürt Ihr jedesmal das Beben, wenn wir eine Welle von vorne nehmen? Das ist das Kielschwein, wenn ich mich nicht sehr irre. Ich weiß schließlich, wie ein Schiff gemacht ist. Wir müssen in Krondor in eine Werft und das Schiff überholen lassen.«

Arutha sah zu, wie der schmale Landstrich in der Ferne im Licht der Nachmittagssonne immer klarer zu sehen war. Die Sonne strahlte zwar nicht vom Himmel, aber es war ein ziemlich klarer, nur leicht bewölkter Tag. »Wir sollten Zeit genug haben. Ich möchte nach Crydee zurückkehren, sobald Erland von dem Risiko überzeugt ist. Aber selbst wenn er sofort zu stimmt, wird es doch einige Zeit beanspruchen, bis wir die Männer und Schiffe zusammengestellt haben.«

Trocken bemerkte Martin: »Außerdem würde ich persönlich die Straße der Finsternis nicht gern noch einmal durchqueren, ehe das Wetter wenigstens etwas besser ist.«

»Ihr seid ein Mann mit schwachem Herzen. Ihr habt es schon einmal auf die harte Art gemacht.

Wenn man mitten im Winter die Ferne Küste ansteuert, dann ist das etwas selbstmörderisch.«

Arutha wartete schweigend, bis sich das ferne Land immer deutlicher abzeichnete. Es war noch keine Stunde vergangen, da konnten sie Krondor schon deutlich an seinen Türmen erkennen, die zum Himmel aufragten, und an den Schiffen, die in seinem Hafen vor Anker lagen.

»Nun«, meinte Amos, »wenn Ihr ein Empfangskomittee wollt, dann lasse ich jetzt wohl besser Euer Banner setzen.«

Arutha hielt ihn zurück. »Wartet, Amos. Seht Ihr das Schiff am Eingang zum Hafen?«

Als sie sich dem Hafen näherten, musterte Amos das Schiff gründlicher. »Tolles Ding. Seht nur, wie groß das ist. Der Prinz läßt es um ein verdammtes Stück vergrößern. Dreimaster, ausgerüstet für dreißig oder noch mehr Segel. Mit der möchte ich mich nicht anlegen, wenn’s nicht sein muß. Und auch dann müßte man eine Galeere aus Quegan haben. Die Männer müßten rudern, denn dieses Schiff würde ruckzuck die Takelage zerstören.«

»Schaut nur das Banner am Mast, Amos«, bemerkte Arutha.

Als sie jetzt in den Hafen einliefen, kamen sie dicht daran vorbei. Royal Griffin prangte als Name am Bug. »Ein Kriegsschiff des Königreiches, zweifellos«, sagte Amos. »Aber ich habe noch niemals eines unter der Flagge von Krondor laufen sehen.« Am höchsten Mast des Schiffes flatterte ein schwarzes Banner mit einem goldenen Adler darauf in der Brise. »Ich dachte, ich würde jedes Banner kennen, das man auf dem Bitteren Meer sehen kann, aber dieses hier ist mir neu.«

»Dasselbe sieht man auch am Kai, Arutha«, sagte Martin und deutete in die Ferne, auf die Stadt.

Ruhig antwortete Arutha: »Das Banner hat noch niemand zuvor auf dem Bitteren Meer gesehen.« Sein Gesicht wurde grimmig, als er fortfuhr: »Solange ich nichts anderes sage, sind wir natalesische Händler, sonst nichts. Ist das klar?«

»Wessen Banner ist das denn?« wollte Amos wissen.

Arutha umspannte die Reling und antwortete wütend: »Es ist das des Zweitältesten Hauses im Königreich. Es verkündet, daß mein entfernter Cousin, Guy, der Herzog von Bas-Tyra, sich in Krondor aufhält.«