Flucht

Ein Mann machte Arutha ein Zeichen, einzutreten.

Er saß hinter einem kleinen Tisch und war der Tür zugewandt. Er beugte sich vor und sah in den Schein der kleinen Lampe hinein, die auf dem Tisch stand, und sagte: »Bitte, kommt herein.« Das Licht zeigte, daß sein Gesicht mit Pockennarben übersät war. Außerdem besaß er eine große Adlernase. Sein Blick wich nicht von Arutha, während die drei bewaffneten Männer zurücktraten und es dem Prinzen ermöglichten, einzutreten. Arutha zögerte, als er die gefesselten und bewußtlosen Gestalten von Amos und Martin an der Wand liegen sah. Amos stöhnte und rührte sich – aber Martin lag reglos da.

Arutha schätzte die Entfernung zwischen sich und den drei Schwerthaltern ab. Seine Hand befand sich schon fast am Griff seiner eigenen Waffe. Doch jeder Gedanke daran, zurückzuspringen und sein Schwert zu ziehen, verging ihm, als er den Dolch spürte, der sich in seinen Rücken bohrte.

Eine Hand langte von hinten um ihn herum und erleichterte ihn um sein Schwert.

Dann trat Jimmy vor den Prinzen. Sorgfältig verbarg er seinen Dolch in den Falten der losen Tunika und untersuchte dann den Degen. Er grinste breit. »Ich hab’ schon ein paar davon gesehen.

Der ist so leicht, daß ich ihn benutzen könnte.«

Trocken erklärte Arutha: »Unter diesen Umständen kann er ja mein Vermächtnis für dich werden. Möge er dir Gesundheit schenken und sie dir bewahren.«

Der pockennarbige Mann sagte: »Ihr seid vernünftig«, als Arutha von einem der Schwertträger ins Zimmer geschoben wurde. Ein anderer steckte seine Waffe fort und band Aruthas Arme hinter seinen Rücken. Dann wurde er grob gegenüber dem Mann, der gesprochen hatte und jetzt fortfuhr, in einen Sessel gedrückt: »Mein Name ist Aaron Cook. Jimmy die Hand habt ihr ja schon kennengelernt.« Er zeigte auf den Jungen. »Die anderen ziehen es im Augenblick noch vor, anonym zu bleiben.«

Arutha schaute auf den Jungen. »Jimmy die Hand?«

Der Junge verbeugte sich spöttisch, und Cook sagte: »Der beste Taschendieb in Krondor.

Wahrscheinlich wird aus ihm noch einmal der beste Dieb, wenn man dazu neigt, ihm zu glauben.

Aber jetzt zum Geschäft. Wer seid Ihr?«

Arutha erzählte die Geschichte, die Amos sich ausgedacht hatte. Er nannte sich Arthur und erklärte, er wäre Amos’ Geschäftspartner. Cook musterte ihn stoisch. Seufzend nickte er, und schon trat einer der schweigenden Männer vor und schlug Arutha über den Mund. Durch die Gewalt des Schlages sackte Aruthas Kopf in den Nacken, und Tränen traten ihm in die Augen. »Freund Arthur«, erklärte Aaron Cook kopfschüttelnd, »wir können diese Unterhaltung auf zwei Arten führen. Ich würde Euch raten, nicht den schwierigen Weg zu wählen. Er wird sich als äußerst unschön erweisen, und am Ende wissen wir doch alles, was wir wollen. Also denkt bitte sorgfältig über Eure Antwort nach.« Er erhob sich und kam um den Tisch. »Wer seid Ihr?«

Arutha fing an, seine Geschichte zu wiederholen, und der Mann, der ihn geschlagen hatte, trat erneut vor und beendete seine Antwort mit einem weiteren, schallenden Schlag. Der Mann namens Cook bückte sich, bis sein Gesicht auf einer Höhe mit dem Aruthas war. Arutha blinzelte, um die Tränen aus seinen Augen zu vertreiben, und Cook sagte: »Freund, sag uns, was wir wissen wollen, um keine Zeit zu verschwenden. Daß er« – er wies auf Amos – »Euer Kapitän ist, das wollen wir glauben. Aber Ihr sein Geschäftspartner… ich denke, nicht. Der andere Knabe hat in verschiedenen Tavernen der Stadt den Jäger aus den Bergen gespielt, und ich halte das nicht für Mummenschanz; er sieht aus wie einer, der die Berge besser kennt als die Straßen einer Stadt. Dieses Aussehen kann man nur schwer spielen.« Er musterte Arutha. »Aber Ihr… Ihr seid mindestens Soldat, und Eure teuren Stiefel und das feine Schwert weisen Euch als Herrn aus. Aber ich glaube, da steckt noch mehr dahinter.« Er schaute Arutha in die Augen und sagte: »Also, warum ist es für Jocko Radburn so wichtig, Euch zu finden?«

Arutha sah Aaron Cook offen in die Augen. »Ich weiß es nicht.«

Der Mann, der Arutha geschlagen hatte, trat schon wieder vor, aber Cook hielt eine Hand hoch.

»Das könnte stimmen. Ihr habt Euch ziemlich dumm benommen, so, wie Ihr hier und da aufgetaucht seid, wie Ihr Euch vor den Toren zum Palast herumgetrieben und den Unschuldigen gespielt habt. Entweder seid Ihr schlechte Spione oder arme Narren. Aber es besteht kein Zweifel daran, daß Ihr das Interesse der Männer des Vizekönigs erregt habt und deshalb auch unseres.«

»Wer seid Ihr?«

Cook ignorierte diese Frage. »Jocko Radburn ist der erste Offizier in der Geheimpolizei des Vizekönigs. Trotz seines offenen, ehrlichen Gesichtes ist Radburn ein Mann mit eisernen Nerven, der sich durch nichts rühren läßt. Er ist einer der härtesten Schurken, mit denen die Götter jemals diese Welt beschenkt haben. Er würde fröhlich seiner Großmutter das Herz aus dem Leibe schneiden, wenn er vermuten würde, daß das alte Mädchen Staatsgeheimnisse ausplaudern könnte.

Die Tatsache, daß er persönlich aufgetreten ist, verrät, daß er zumindest Euch für außerordentlich wichtig erachtet.

Wir haben ein oder zwei Tage nach Eurer Ankunft zum erstenmal davon gehört, daß drei Männer in der Stadt herumschnüffelten. Als unsere Leute dann hörten, daß ein paar von Radburns Männern Euch bewachten, beschlossen wir, es ebenfalls zu tun. Als sie dann noch anfingen, kleine Bestechungsgelder anzubieten, um Informationen über Euch drei zu erhalten, wurde unser Interesse noch größer. Wir waren zufrieden, Euch einfach zu beobachten und darauf zu warten, was geschehen würde.

Aber als Jocko und seine Männer in Eurer Unterkunft auftauchten, waren wir gezwungen zu handeln. Wir haben diese beiden da vor Jockos Nase weggeschnappt, aber Jocko und seine Bulldoggen gerieten dann in der Gasse zwischen Euch und uns. 5o haben wir sie vertrieben. Daß Jimmy Euch gefunden hat, war ein Glück, denn er wußte nicht, daß wir Euch hierhaben wollten.«

Er nickte dem Jungen lobend zu. »Du hast recht daran getan, ihn hierher zu bringen.«

 

Jimmy lachte. »Ich war auf den Dächern und habe die ganze Sache beobachtet. Ich wußte sofort, daß Ihr ihn hierhaben wolltet, als Ihr die beiden anderen gepackt habt.«

 

Einer der Männer fluchte. »Du solltest besser nicht versuchen, solche Extraleistungen zur Beförderung ohne schriftliche Genehmigung des Nachtmeisters zu vollbringen.«

Cook hob die Hand, und der Mann verstummte. »Es kann nicht schaden, wenn Ihr erfahrt, daß ein paar hier von uns Spötter sind, andere nicht. Aber wir alle haben uns zu einem Unternehmen von größter Wichtigkeit zusammengetan. Hört mir gut tu, Arthur. Eure einzige Hoffnung, diesen Ort hier lebend zu verlassen, besteht darin, daß Ihr uns davon überzeugt, daß Ihr dieses Unternehmen nicht gefährdet. Es ist möglich, daß Radburns Interesse an Euch nur zufällig mit seinem Interesse an anderen Dingen zusammenfällt. Vielleicht werden hier auch mehrere Fäden gesponnen und Pläne verfolgt, die wir noch nicht kennen. Auf jeden Fall werden wir die Wahrheit herausbringen, und wenn wir mit dem zufrieden sind, was Ihr uns erzählt habt, dann werden wir Euch frei lassen. Vielleicht werden wir sogar Euch und Euren Kameraden helfen, oder wir werden Euch töten. Jetzt fangt mit dem Anfang an. Warum seid Ihr nach Krondor gekommen?«

Arutha überlegte. Wenn er log, würde ihm das nur Schmerzen einbringen. Aber er war nicht gewillt, die ganze Wahrheit zu erzählen. Es war nicht bewiesen, daß diese Männer nicht für Guy arbeiteten. Das Ganze konnte auch eine List sein, und Radburn lauschte vielleicht aus dem Nebenzimmer jedem Wort. Er überlegte und entschied, welchen Teil der Wahrheit er erzählen wollte. »Ich bin für Crydee hier. Ich bin gekommen, um mit Prinz Erland und Lord Dulanic persönlich zu sprechen, um sie um Hilfe gegen einen kommenden Angriff der Tsuranis zu bitten. Als wir erfuhren, daß Guy du Bas-Tyra im Besitz der Stadt war, haben wir beschlossen, erst die Stimmung ein wenig zu erforschen, ehe wir uns zu einer neuen Handlungsweise entschlossen.«

Cook hörte ihm aufmerksam zu. »Warum sollte ein Botschafter aus Crydee sich in die Stadt stehlen? Warum nicht mit fliegenden Fahnen einfahren und als Staatsgast empfangen werden?«

»Weil der Schwarze Guy ihn genausogut gleich in eine Zelle werfen lassen könnte, du dummer Bastard.«

Cooks Kopf fuhr herum. Amos saß an die Wand gelehnt und schüttelte benommen den Kopf.

»Ich glaube, du hast meinen Schädel zerschmettert, Cook.«

Aaron Cook musterte Amos scharf. »Du kennst mich?«

»Klar, du holzköpfige Seeratte, natürlich kenn’ ich dich. Gut genug, daß ich weiß, wir sagen kein Wort mehr, ehe du nicht Trevor Hull hergeholt hast.«

Aaron Cook erhob sich vom Tisch. Sein Gesicht zeigte einen unsicheren Ausdruck. Er deutete auf einen der Männer neben der Tür, der von Amos’ Worten ebenfalls verstört zu sein schien. Dieser nickte Cook zu und verließ den Raum. Ein paar Minuten später kehrte er zurück. Ihm folgte ein großer Mann mit einem grauen Schöpf, der aber dennoch mächtig und kräftig aussah.

Eine zackige Narbe lief von seiner Stirn durch sein rechtes Auge, das milchig-weiß war, und über die Wange hinab. Er schaute Amos lange an. Dann lachte er laut und zeigte auf die Gefangenen. »Bindet sie los.«

Zwei Männer hoben Amos auf und machten ihm die Fesseln ab. Als er frei war, meinte er: »Ich dachte, die hätten dich schon vor Jahren gehängt, Trevor.«

Der Mann schlug Amos auf den Rücken. »Das dachte ich von dir, Amos.«

Cook schaute den Neuankömmling fragend an, während Arutha losgebunden und Martin mit einem Glas Wasser zu neuem Leben erweckt wurde. Der Mann namens Trevor Hull sah Cook an und sagte: »Hast du den Verstand verloren, Mann? Er hat sich einen Bart wachsen lassen und seine berühmten langen Locken abgeschnitten. Er hat oben was verloren, dafür aber ein paar Pfund zugelegt – aber er ist immer noch Amos Trask.«

Cook musterte Amos noch einen Augenblick. Dann riß er die Augen auf. »Käpt’n Klinge?«

Amos nickte, und Arutha sah ihn überrascht an. Selbst im fernen Crydee hatten sie von Klinge, dem Piraten, dem Dolch der Meere, gehört. Es hieß, daß selbst die Kriegsgaleeren aus Quegan bei seinem Anblick kehrtgemacht hätten und geflohen wären. Und entlang der Küsten des Bitteren Meeres gab es nicht eine einzige Stadt, die seine Leute nicht gefürchtet hätte.

Aaron Cook steckte die Hand aus. »Tut mir leid, Käpt’n. Es ist schon so viele Jahre her, daß wir uns das letzte Mal begegnet sind. Wir konnten nicht sicher sein, daß Ihr nicht bei einem Komplott Radburns helfen solltet, uns ausfindig zu machen.«

»Wer seid Ihr?« fragte Arutha.

»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Hull. »Kommt!«

Einer der Männer half dem immer noch benommenen Martin auf die Beine, und Cook und Hull gingen ihnen allen voraus in einen gemütlicheren Raum, in dem genug Sessel für alle standen.

Als sie saßen, sagte Amos: »Dieser alte Schurke hier ist Trevor Hull, Käpt’n Weißauge, Herr des Roten Raben.«

Hull schüttelte traurig den Kopf. »Nicht mehr, Amos. Ist vor drei Jahren vor Elarial verbrannt worden, von kaiserlichen Kuttern aus Kesh. Mein Maat Cook hier und noch ein paar von meinen Jungs haben es mit mir geschafft, an Land zu kommen. Aber der Großteil der Mannschaft ist mit dem Roten Raben untergegangen. Wir sind zurück nach Durbin gezogen, aber die Zeiten haben sich geändert, mit dem Krieg und so. So sind wir vor einem Jahr nach Krondor gekommen und arbeiten seitdem hier.«

»Arbeiten? Du, Trevor?«

Der Mann lächelte, und seine Narbe verzog sich, als er sagte: »Schmuggel, um ehrlich zu sein.

Das hat uns auch mit den Spöttern zusammengebracht. In Krondor kann man in dieser Richtung ohne die Genehmigung des Aufrechten Mannes nicht viel unternehmen.

Als der Vizekönig nach Krondor gekommen ist, sind wir das erste Mal mit Jocko Radburn und seiner Geheimpolizei zusammengestoßen. Vom ersten Augenblick an war er uns ein Dorn im Auge.

Diese ganze Sache mit Wachen, die umherschleichen, gekleidet wie einfaches Volk – da ist einfach keine Ehre dahinter.«

Amos murmelte: »Ich wußte doch, daß ich ihm die Kehle hätte durchschneiden sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Das nächste Mal werde ich mich nicht so verdammt zivilisiert verhalten.«

»Wirst du etwas langsamer und sanfter, Amos? Nun, vor einer Woche erhielten wir Nachricht vom Aufrechten Mann, daß er eine kostbare Fracht hätte, die die Stadt verlassen müßte. Wir mußten nur warten, bis das richtige Schiff so weit war. Radburn ist sehr begierig darauf, diese Fracht zu finden, ehe sie Krondor verläßt. Ihr seht also, wir befinden uns in einer äußerst delikaten Situation, denn wir können erst auslaufen, wenn die Blockade aufgehoben worden ist. Oder wir müssen einen Kapitän finden, einen Blockadebrecher, den wir bestechen können. Als wir zuerst Wind davon bekamen, daß ihr drei Fragen stelltet, dachten wir, dahinter würde eine List von Jocko stecken, der diese Fracht finden wollte. Jetzt, wo die Luft rein ist, würde ich gern die Antwort erklärt bekommen, die ihr auf Cooks Frage gegeben habt. Warum sollte ein Gesandter von Crydee fürchten, von den Männern des Vizekönigs entdeckt zu werden?«

»So, gelauscht hast du, was?« Amos wandte sich an Arutha, und dieser nickte. »Das ist kein einfacher Gesandter, Trevor. Unser junger Freund hier ist Prinz Arutha, der Sohn von Herzog Borric.«

Aaron Cook riß die Augen auf, und der Mann, der Arutha geschlagen hatte, erbleichte. Trevor Hull nickte verständnisvoll. »Der Vizekönig würde gut dafür bezahlen, den Sohn seines alten Feindes in die Hände zu bekommen, vor allem wenn die Zeit kommt, seine Ansprüche im Kongreß der Herrscher zu vertreten.«

»Welche Ansprüche?« fragte Arutha.

Hull beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Ihr könnt das natürlich nicht wissen.

Wir haben die Nachricht selbst erst vor wenigen Tagen erhalten, und es ist noch nicht allgemein bekannt. Dennoch darf ich nicht offen sprechen, ohne vorher die Erlaubnis erhalten zu haben.«

Er erhob sich und verließ den Raum. Arutha und Amos wechselten fragende Blicke miteinander, und dann schaute Arutha zu Martin hinüber. »Bist du in Ordnung?«

Martin berührte vorsichtig seinen Kopf. »Ich werde mich davon erholen. Aber die müssen mich mit einem Baum getroffen haben.«

Einer der Männer grinste freundlich, fast entschuldigend. Er tätschelte einen Holzstock in seinem Gürtel und sagte: »Ist wirklich recht hart.«

Hull kehrte ins Zimmer zurück. Ihm folgte noch jemand. Die Männer im Raum erhoben sich, und Arutha, Amos und Martin folgten ihrem Beispiel. Hinter Hull erschien ein junges Mädchen von kaum mehr als sechzehn Jahren. Arutha war sofort wie gebannt, so viel kommende Schönheit verhießen ihre Züge: große, meergrüne Augen, eine gerade, schmale und zierliche Nase, ein Mund mit vollen Lippen. Zarte, nur angedeutete Sommersprossen übersäten ihre ansonsten blasse, feine Haut. Sie war groß und schlank und schritt aufrecht. Jetzt durchquerte sie das Zimmer, trat vor Arutha, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn leicht auf die Wange. Arutha war von dieser Geste überrascht und sah ihr zu, als sie mit einem Lächeln auf den Lippen zurücktrat. Sie trug ein einfaches dunkelblaues Kleid, und ihr rotbraunes Haar fiel offen auf ihre Schultern. Nach einer Sekunde sagte sie: »Ach natürlich, wie dumm ich doch bin. Du kennst mich ja gar nicht. Ich habe dich gesehen, als du das letzte Mal in Krondor warst, aber wir sind uns nie vorgestellt worden. Ich bin deine Cousine Anita, Erlands Tochter.«

Arutha war wie vom Donner gerührt. Abgesehen von der beunruhigenden Wirkung, die das Mädchen auf seine Haltung ausübte – mit ihrem gewinnenden Lächeln und dem offenen Blick –, war er doppelt überrascht, sie in der Gesellschaft dieser Schurken zu finden. Langsam setzte er sich, und sie griff nach einem Sessel. So sehr war er an die lässige Art bei Hofe seines Vaters gewöhnt, daß er etwas überrascht war, als sie den anderen die Genehmigung erteilte, sich zu setzen.

»Wie…?« fing Arutha an.

Amos unterbrach ihn. »Die kostbare Fracht des Aufrechten Mannes?«

Hull nickte, und die Prinzessin sprach. Ihr hübsches Gesicht verdüsterte sich unter ihren Gefühlen. »Als der Herzog aus Bas-Tyra mit Befehlen des Königs kam, hat Vater ihn herzlich begrüßt und keinerlei Widerstand geleistet. Zuerst hat Vater getan, was er konnte, um ihm behilflich zu sein, das Kommando über die Armee zu übernehmen. Aber als er erfuhr, was Guy mit seiner Geheimpolizei und den Preßpatrouillen trieb, da hat Vater protestiert. Als dann Lord Barry starb und Lord Dulanic verschwand – auf geheimnisvolle Weise –, da schickte Vater einen Brief an den König, in dem er Guys Rückruf verlangte. Guy hat die Nachricht abgefangen und uns in einem Flügel des Palastes gefangengesetzt. Dann, eines Abends, kam Guy in mein Zimmer.«

Sie schauderte. Arutha hätte beinahe ausgespuckt, als er sagte: »Du brauchst nicht über solche Dinge zu reden.« Seine plötzliche Wut überraschte das Mädchen.

»Nein«, sagte sie. »Das ist es nicht. Er war sehr anständig, fast formell. Er informierte mich einfach darüber, daß wir heiraten würden und daß König Rodric ihn zum Erben des Thrones von Krondor ernennen würde. Er schien sogar zornig darüber, daß er sich die Mühe machen mußte, einen solchen Kurs einzuschlagen.«

Arutha hämmerte mit der Faust gegen die Wand hinter sich. »Jetzt ist alles klar! Guy will Erlands Krone an sich bringen, und anschließend noch die von Rodric. Er will König werden.«

Schüchtern schaute Anita Arutha an. »Es scheint so. Vater fühlt sich nicht wohl und konnte ihm keinen Widerstand leisten. So hat er sich geweigert, die Proklamation unserer Verlobung zu unterzeichnen. Guy hat ihn in den Kerker werfen lassen – bis er es tut.« Tränen standen in ihren Augen, als sie sagte: »Vater kann an einem solch kalten und feuchten Ort nicht lange leben. Ich fürchte, er stirbt eher, als daß er sich Guys Wünschen unterwirft.« Sie sprach weiter, und jetzt war ihr Gesicht eine Maske der Beherrschung, obwohl ihr Tränen über die Wangen liefen, als sie von der Gefangenschaft ihrer Mutter und ihres Vaters berichtete. »Dann erzählte mir eine meiner Hofdamen, daß eine Magd Leute in der Stadt kennen würde, die bereit sein könnten, uns zu helfen.«

Trevor Hull sagte: »Mit Eurer Erlaubnis, Hoheit. Eines der Mädchen im Palast ist die Schwester eines Spötters. Nachdem alles so durcheinander und der Ausgang offen war, entschied der Aufrechte Mann, daß es vielleicht von Vorteil für ihn sein könnte, die Sache in die Hand zu nehmen. Er sorgte dafür, daß die Prinzessin am Abend von Guys Abreise aus dem Palast geschmuggelt wurde, und seither ist sie hier gewesen.«

»Dann bezogen sich die Gerüchte, die wir hörten, ehe wir unser Quartier verließen, auf Anita.

Sie war der ›königliche Verwandte‹, den sie suchten, nicht Arutha.«

Hull wies auf den Prinzen. »Es kann sein, daß Radburn und seine Knaben noch immer nicht wissen, wer Ihr seid. Wahrscheinlich haben sie sich in der Hoffnung auf Euch gestürzt, Ihr hättet teil an der Flucht der Prinzessin. Wir sind fast sicher, daß der Vizekönig keine Ahnung hat, daß sie aus dem Palast verschwunden ist, denn sie ist erst geflohen, nachdem er die Stadt bereits verlassen hatte. Ich vermute, daß Radburn verzweifelt bemüht ist, sie zurückzuholen, ehe sein Herr aus dem Krieg mit Kesh zurückkehrt.«

Arutha musterte die Prinzessin. Er verspürte den übermächtigen Wunsch, etwas für sie zu tun, ein Wunsch, der nichts damit zu tun hatte, sich an Guy zu rächen. Er verdrängte diese merkwürdigen Gefühle und fragte Trevor Hull: »Warum will sich der Aufrechte Mann mit Guy anlegen? Warum übergibt er sie nicht gegen eine Belohnung?«

Trevor Hull schaute zu Jimmy der Hand hinüber, der grinsend antwortete: »Mein Meister, ein äußerst empfindsamer Mann, erkannte sofort, daß es seinen eigenen Interessen am dienlichsten war, wenn er der Prinzessin helfen würde. Seitdem Erland Prinz von Krondor ist, laufen die Geschäfte in der Stadt reibungslos, was dem Erfolg der Unternehmung meines Herrn äußerst dienlich ist. Seht Ihr, wir alle profitieren von dieser Stabilität. Jetzt, wo Guy hier ist, haben wir es mit seiner Geheimpolizei zu tun, die den normalen Handel unserer Gilde völlig durcheinander bringt.

Außerdem sind wir Seiner Hoheit, dem Prinzen von Krondor, ausgesprochen treue Untertanen.

Wenn er nicht wünscht, daß seine Tochter den Vizekönig heiratet, dann wollen wir es auch nicht.«

Lachend fügte Jimmy hinzu: »Außerdem hat die Prinzessin eingewilligt, fünfundzwanzigtausend Goldtaler zu zahlen, wenn es unserem Herrn und unserer Gilde gelingt, sie aus Krondor heraus zuschmuggeln. Das Geld soll ausbezahlt werden, wenn ihr Vater an die Macht zurückkehrt oder wenn ein anderes Schicksal sie selbst auf den Thron zwingt.«

Arutha ergriff Anitas Hand und sagte: »Nun, Cousine, es gibt nichts anderes zu tun. Bei erster Gelegenheit müssen wir dich nach Crydee bringen.«

Anita lächelte, und Arutha ertappte sich dabei, daß er zurücklächelte. Trevor Hull sagte: »Wie ich bereits erwähnte, haben wir nur auf die richtige Gelegenheit gewartet, sie aus der Stadt zu schmuggeln.« Er wandte sich an Amos. »Du bist der richtige Mann für diese Sache, Amos. Es gibt im ganzen Bitteren Meer keinen besseren Blockadebrecher – abgesehen von mir selbst natürlich, aber ich muß mich hier um andere Dinge kümmern.«

Trask erklärte: »Selbst wenn die Blockade aufgehoben würde, könnten wir erst in ein paar Wochen fahren, denn mein Schiff bedarf dringender Reparaturen. Außerdem müßten wir ziellos umhersegeln, wenn wir jetzt abreisen würden, bis das Wetter m der Straße der Finsternis sich ändert. Und das wäre mehr als riskant, wo Jessups Flotte im Hinterhalt lauert. Ich würde mich lieber noch eine Weile hier verstecken, dann schnell nach Westen reisen, durch die Straße der Finsternis und die Ferne Küste hinauf, dies ohne Verzögerung.«

Hull klopfte ihm auf die Schulter. »Gut, das gibt uns Zeit. Ich labe von deinem Schiff gehört. Die Jungs haben mir erzählt, daß es kaum besser als eine Barke ist. Wir werden ein anderes für dich finden. Ich lasse es deine Männer wissen, wenn die rechte Zeit gekommen ist. Radburn wird deine Mannschaft höchstwahrscheinlich in Ruhe lassen, in der Hoffnung, daß ihr dort auftauchen werdet.

Wir bringen sie heimlich bei Nacht an Bord des neuen Schiffes, immer ein paar auf einmal, die wir dann durch meine eigenen Jungs ersetzen. So werden Radburns Männer nichts Ungewöhnliches an Bord bemerken.«

Er wandte sich an Arutha. »Ihr seid hier sicher, Hoheit. Dieses Gebäude ist eines von vielen, die den Spöttern gehören. Niemand wird sich ihm nähern, ohne daß wir vorher gewarnt werden. Wenn die rechte Zeit gekommen ist, bringen wir Euch alle aus der Stadt. Jetzt zeigen wir Euch Eure Zimmer, damit Ihr ruhen könnt.«

Arutha, Martin und Amos wurden in einen Raum am anderen Ende des Flures gebracht, während die Prinzessin in ihre eigenen Gemächer zurückkehrte. Das Zimmer, das sie betraten, war einfach, aber sauber. Alle waren müde. Martin fiel schwerfällig auf einen Schlafsack und war bald darauf fest eingeschlafen. Amos ließ sich langsamer nieder, und Arutha beobachtete ihn eine Weile. Leise lächelnd bemerkte er dann: »Als du damals nach Crydee gekommen bist, habe ich dich für einen Piraten gehalten.«

Amos kämpfte mit einem Stiefel, den er ausziehen wollte. »Ehrlich, Hoheit, ich habe versucht, das hinter mir zu lassen.« Er lachte. »Vielleicht war es die Rache der Götter. Aber wißt Ihr, fünfzehn Jahre lang war ich Korsar. Dann, als ich mich das erste Mal als ehrlicher Händler versuchte, wurde mein Schiff aufgebracht und verbrannt. Meine Mannschaft wurde hingemetzelt, und ich selbst fand mich gestrandet, so weit entfernt vom Herzen des Königreichs, wie man nur davon entfernt sein und immer noch darin sein kann.«

Arutha legte sich nieder. »Du warst ein guter Ratgeber, Amos Trask, und ein tapferer Kamerad.

Deine Hilfe im Laufe der Jahre wird durch Verzeihen eines großen Teiles deiner Vergehen belohnt werden, aber« – er schüttelte den Kopf – »Klinge, der Pirat! Großer Gott, Mann, da gibt es so viel zu verzeihen!«

Amos gähnte und reckte sich. »Wenn wir nach Crydee zurückkehren, könnt Ihr mich ja hängen, Arutha. Aber jetzt habt bitte die Güte, ruhig zu sein und das Licht zu löschen. Ich werde zu alt für diese Dummheiten. Ich brauche etwas Schlaf.«

 

Anita klatschte beifällig, als Arutha die Spitze von Jimmys Schwert abwehrte. Der junge Dieb errötete vor Verlegenheit, aber Arutha sagte: »Das war schon besser.«

Er und Jimmy übten den Umgang mit dem Schwert. Jimmy war mit einem Rapier ausgerüstet, das er von dem Gold erstanden hatte, welches Arutha ihm gegeben hatte. Seit einem Monat vertrieben sie sich auf diese Weise die Zeit, und Anita hatte es sich angewöhnt, ihnen zuzuschauen.

Immer, wenn die Prinzessin in der Nähe war, wurde der für gewöhnlich so vorwitzige Jimmy schüchtern, und wann immer sie ihn ansprach, lief er dunkelrot an. Arutha war sich inzwischen sicher, daß der junge Dieb sehr in die Prinzessin verliebt war, die nur drei Jahre älter war als er selbst. Arutha konnte Jimmys Verhalten verstehen, denn auch er selbst wurde durch die Anwesenheit der Prinzessin abgelenkt. Obwohl sie erst am Beginn ihres Frauenlebens stand, ging sie doch schon mit bei Hofe anerzogener Würde und Grazie umher, verfügte über Geist und Bildung und verhieß künftige, reife Schönheit. Arutha fand es einfacher, sich in Gedanken mit anderen Themen als der Prinzessin zu beschäftigen.

Die Tür ging auf, und Amos trat mit Martin und Trevor Hull ein. Amos sagte: »Verdammter…

Ich bitte die Prinzessin um Verzeihung. Das Schlimmste ist eingetreten, Arutha.«

Mit einem Tuch wischte sich Arutha den Schweiß von der Stirn. »Steh nicht da und warte, daß ich rate. Was ist passiert?«

»Heute morgen erreichte uns die Nachricht, daß Guy nach Krondor zurückkehrt«, erklärte Hull.

»Warum?« fragte Arutha.

»Es sieht aus, als hätte unser Lord von Bas-Tyra in Shamata offene Türen eingerannt. Der Kommandeur der keshianischen Truppen hatte so viel Ehrgefühl, daß er einmal noch der Form halber zum Angriff blies, nachdem er Guys Banner entdeckt hatte. Und dann hätte er sich fast überschlagen, so eilig hatte er es, heimzurennen«, berichtete Amos. »Er hat eine Handvoll kleiner Adliger zurückgelassen, die jetzt mit Guys Leutnants über die Bedingungen des Waffenstillstands streiten, bis ein offizieller Vertrag zwischen dem König und der Kaiserin von Kesh abgeschlossen werden kann. Es gibt bloß einen Grund, warum Guy hierher zurückeilt.«

Leise sagte Anita: »Er weiß, daß ich geflohen bin.«

»Ja, Hoheit.« Das war Trevor Hull. »Dieser Schwarze Guy ist ein schlauer Fuchs. Er muß einen Spion unter Radburns Leuten haben. Scheinbar traut er nicht einmal seiner eigenen Geheimpolizei.

Zum Glück haben wir im Palast immer noch Leute, die Eurem Vater treu ergeben sind, sonst hätten wir wohl nie von dieser neuerlichen Wendung erfahren.«

Arutha setzte sich neben die Prinzessin. »Nun, dann müssen wir bald abreisen. Das bedeutet entweder, heimzusegeln oder nach Ylith und zu Vater.«

»Es scheint so, als ob das eine nicht besser wäre als das andere«, bemerkte Amos. »Beides hat Vor- und Nachteile und ist nicht ungefährlich.«

Martin betrachtete das Mädchen. »Das Lager des Herzogs ist wohl nicht der rechte Aufenthaltsort für eine junge Frau.«

Amos setzte sich nun auch neben Arutha. »Eure Anwesenheit in Crydee ist nicht übermäßig wichtig, zumindest nicht im Augenblick. Fannon und Gardan sind fähige Männer, und sollte es notwendig werden, glaube ich, daß sich Eure Schwester als tüchtiger Kommandeur erweisen würde.

Sie sollten ebensogut in der Lage sein, alles unter Kontrolle zu halten, wie Ihr.«

Martin meinte: »Aber du mußt dir selbst folgende Frage stellen: Was wird dein Vater tun, wenn er erfährt, daß Guy in Krondor nicht nur als Erlands Helfer tätig ist, sondern die Stadt voll in seiner Macht hat, daß er keine Hilfe an die Ferne Küste entsendet und daß er beabsichtigt, den Thron an sich zu bringen?«

Arutha nickte heftig. »Du hast recht, Martin. Du kennst Vater gut. Das würde den Bürgerkrieg bedeuten.« Kummer zeigte sich auf seinem Gesicht. »Er würde die halbe Armee des Westens abziehen und die Küste hinab nach Krondor marschieren. Und er würde erst dann Ruhe geben, wenn Guys Kopf auf einem Pfahl vor den Toren der Stadt zu besichtigen wäre. Dann muß er sich gen Osten wenden und gegen Rodric in den Krieg ziehen. Er würde die Krone niemals für sich selbst beanspruchen, aber wenn er erst einmal angefangen hat, dann kann er nicht aufhören, ehe Sieg oder Niederlage total sind. So aber würden wir den Westen an die Tsuranis verlieren. Brucal könnte sie mit nur der halben Armee nicht lange aufhalten.«

Jimmy bemerkte: »Dieser Bürgerkrieg – das klingt schlimm.«

Arutha beugte sich vor. Er wischte sich über die Stirn und starrte unter seinen feuchten Locken hervor. »Seit zweihundertundfünfzig Jahren, seit der erste Borric seinen Halbbruder, Johann, den Thronbewerber, ermordet hat, hatten wir hier keinen mehr. Aber verglichen mit dem, was jetzt auf uns zukommen würde, wäre das nur ein kleines Scharmützel gewesen.«

Besorgt schaute Amos Arutha an. »Geschichte ist zwar nicht meine starke Seite, aber ich glaube, Ihr tut gut daran, wenn Ihr Euren Vater im Ungewissen laßt, bis die Frühlingsoffensive der Tsuranis beendet ist.«

Arutha atmete lang und vernehmlich aus. »Etwas anderes gibt es nicht. Wir wissen, daß wir für Crydee keine Hilfe zu erwarten haben. Ich kann am besten entscheiden, was ich tun soll, wenn ich zurückkomme. Vielleicht kann ich im Rat mit Fannon und den anderen eine Verteidigung ausarbeiten, für den Augenblick, wenn die Tsuranis kommen.« Seine Stimme klang resigniert.

»Vater wird noch rechtzeitig von Guys Verschwörung erfahren. Diese Art von Neuigkeiten kann man nur schwer geheimhalten. Wir können nur hoffen, daß er erst nach der Tsurani-Offensive davon hört. Vielleicht hat sich die Lage bis dahin geändert.« Aus seinem Ton war klar zu erkennen, daß er das nicht für wahrscheinlich hielt.

Martin sagte: »Vielleicht entscheiden sich die Tsuranis auch, gegen Elvandar in den Krieg zu ziehen, oder gegen deinen Vater. Wer kann das wissen?«

Arutha lehnte sich zurück. Erst jetzt wurde er sich bewußt, daß Anitas Hand sanft auf seinem Arm ruhte. »Welch angenehme Wahl haben wir doch«, sagte er leise. »Entweder sehen wir uns dem möglichen Verlust von Crydee und der Fernen Küste an die Tsuranis gegenüber, oder aber wir steuern mit dem Königreich in einen Bürgerkrieg. Die Götter müssen das Königreich wirklich hassen.«

Amos erhob sich. »Trevor hat mir erzählt, daß er ein Schiff gefunden hat. Wir können in wenigen Tagen abreisen. Mit etwas Glück wird sich das Wetter schon geklärt haben, wenn wir die Straße der Finsternis erreichen.«

In düstere Gedanken über seine eigene, persönliche Niederlage verloren, hörte Arutha ihn kaum.

Er war überzeugt davon gewesen, daß er Erlands Unterstützung gewinnen würde und daß Crydee von den Tsuranis befreit werden würde. Jetzt jedoch stand er einer noch schlimmeren Situation gegenüber, als wenn er daheim geblieben wäre. Die anderen ließen ihn allein, außer Anita, die schweigende Minuten an seiner Seite verbrachte.

 

Dunkle Gestalten bewegten sich aufs Wasser zu. Trevor Hull führte ein Dutzend Männer, Arutha und seine Kameraden die stille Straße entlang. Sie drängten sich dicht an den Mauern der Gebäude entlang, und alle paar Meter schaute sich Arutha um, um zu sehen, wie sich Anita hielt. Sie erwiderte seine Sorge mit tapferem Lächeln, das er in der abendlichen Dämmerung nur schwach wahrnehmen konnte.

Arutha wußte, daß sich mehr als einhundert Männer auf den angrenzenden Straßen bewegten.

Sie räumten das Gebiet von Radburns Männern und der Stadtwache. Die Spötter waren in voller Zahl ausgeschwirrt, damit Arutha und die anderen die Stadt sicher verlassen konnten. Am Vorabend hatte Hull sie benachrichtigt, daß der Aufrechte Mann als Gegenleistung für eine immense Summe dafür gesorgt hatte, daß eines der Blockadeschiffe von seinem Platz ›getrieben wurde‹. Seit er erfahren hatte, wie die Lage wirklich war, seit er auch von Guys Plan wußte, Prinz von Krondor zu werden, hatte der Aufrechte Mann seine nicht unerheblichen Mittel dazu bereitgestellt, die Flucht der Prinzessin und Aruthas zu unterstützen. Arutha fragte sich, ob jemals irgend jemand, der nicht zur Gilde der Diebe gehörte, die wahre Identität dieses geheimnisvollen Anführers in Erfahrung bringen würde. Aus den zufälligen Bemerkungen, die Arutha aufgeschnappt hatte, schloß er, daß selbst innerhalb der Spötter nur wenige wußten, wer er war.

Jetzt, wo sich Guy auf seinem Weg zurück in die Stadt befand, hatten Jocko Radburns Männer ihre Suche noch intensiviert. Man hatte Ausgehverbote erlassen, und mitten in der Nacht war man überraschend in Häuser eingedrungen und hatte sie durchsucht. Jeder bekannte Informant der Stadt und auch viele Bettler und Gerüchteverkäufer waren in die Verließe geschleppt und verhört worden.

Aber was Radburns Männer auch immer taten, sie brachten nicht in Erfahrung, wo die Prinzessin versteckt gehalten wurde. So sehr die Bürger der Stadt Radburn auch fürchteten, den Aufrechten Mann fürchteten sie noch mehr.

Arutha hörte, wie Hull leise zu Amos sagte: »Ist ein Blockadebrecher, heißt Seetaube, und der Name paßt gut. Im ganzen Hafen gibt es kein schnelleres Schiff, jetzt, wo alle großen Kriegsschiffe mit Jessups Flotte unterwegs sind. Du solltest schnell nach Westen gelangen. Der vorherrschende Wind kommt aus Norden. So lauft ihr die meiste Zeit am Wind.«

»Trevor, ich bin schon ein bißchen im Bitteren Meer gesegelt. Ich weiß so gut wie jeder andere, woher der Wind um diese Zeit des Jahres bläst.«

Hull schnaubte. »Also gut, wie du willst. Deine Männer und das Gold des Prinzen sind sicher an Bord, und Radburns Wachhunde scheinen noch nichts bemerkt zu haben. Sie beobachten noch immer die Morgenwind, wie eine Katze das Mauseloch, aber die Seetaube wird in Ruhe gelassen.

Wir haben dafür gesorgt, daß gefälschte Papiere bei einem Makler landen, m denen das Schiff zum Verkauf angeboten wird. Selbst wenn jetzt keine Blockade bestehen würde, würden sie also wohl kaum vermuten, daß sie demnächst den Hafen verlassen könnte.«

Sie erreichten die Docks und eilten zu einem wartenden Langboot. Man hörte erstickte Laute, und Arutha wußte, daß die Spötter und Trevors Schmuggler die von Radburn eingesetzten Wachen beseitigten.

Dann ertönten plötzlich Rufe hinter ihnen. Das Klirren von Stahl durchbrach die Stille, und Arutha hörte Hull rufen: »Ins Boot!«

Das Donnern von Stiefeln auf dem Holz des Kais rief Spötter herbei, die aus den nahen Straßen strömten und jeden überwältigten, der die Flucht zu verhindern suchte.

Sie erreichten das Ende des Kais und eilten die Leiter hinab ins Langboot. Arutha wartete oben, bis Anita sicher unten war, dann drehte er sich um. Als er auf die oberste Sprosse trat, hörte er Hufgetrappel und sah Pferde, die sich durch die Spötter drängten, die vor diesem Angriff zurückwichen. Reiter in Schwarz und Gold von Bas-Tyra hieben mit ihren Waffen auf die Männer ein, die versuchten, sie aufzuhalten.

Martin rief aus dem Boot, und Arutha hastete die Leiter hinab.

Als er dort angelangt war, erklang eine Stimme von oben. »Lebt wohl!«

Er schaute auf und entdeckte Jimmy die Hand, der nervös grinsend über den Rand des Kais hing.

Wie es dem Jungen gelungen war, zu ihnen vorzudringen, wo alle dachten, daß er sicher m ihrem Versteck wäre, blieb Arutha ein Rätsel. Doch als er den unbewaffneten Jungen jetzt sah, bekam der Prinz einen heftigen Schreck. Er löste sein Rapier und warf es empor. »Hier, benutz das, um gesund zu bleiben!« Blitzschnell packte Jimmy die Waffe, und schon war er auch damit verschwunden.

Matrosen legten sich kräftig in die Ruder, und das Boot schoß vom Kai fort. Laternen tauchten am Ufer auf, und der Lärm des Kampfes wurde lauter. Selbst jetzt, kurz vor Morgengrauen, hörte man die Männer, die beauftragt waren, die Schiffe und Waren im Hafen zu bewachen, rufen: »Was ist los?« »Was geht da vor?« »Wer ist da?« Arutha blickte über die Schulter, um zu sehen, was hinter ihnen geschah. Immer mehr Laternen wurden gebracht, und plötzlich brach auch ein Feuer auf dem Dock aus. Große Ballen von irgend etwas, das unter Planen gelagert war, explodierten.

Jetzt konnten die Menschen im Boot den Kampf deutlich sehen. Viele der Diebe flohen in die schmalen Gassen der Stadt hinein, oder sie stürzten sich kopfüber ins eisige Wasser des Hafens. Die grauhaarige Gestalt von Trevor Hull konnte Arutha nirgends ausmachen, ebensowenig die kleine von Jimmy der Hand. Dann sah er ganz deutlich Jocko Radburn. Wie früher war er in eine einfache Tunika gekleidet. Er trat an den Rand des Kais und beobachtete das sich entfernende Boot. Mit seinem Schwert zeigte er in dessen Richtung und rief etwas, das im Lärm aber unterging.

Arutha drehte sich um und sah Anita, die ihm gegenübersaß. Ihren Umhang hatte sie zurückgeworfen. Ihr Gesicht war im Schein der Flammen vom Ufer klar zu erkennen. Das Geschehen am Kai nahm sie so gefangen, daß sie sich anscheinend nicht bewußt war, daß man sie entdeckt hatte. Schnell zog Arutha ihr die Kapuze übers Gesicht, aber er wußte, daß es bereits zu spät war. Wieder sah er sich um und entdeckte Radburn, der seine Männer hinter den flüchtigen Spöttern hersandte. Er stand allein dort. Dann drehte er sich um und verschwand in dem Augenblick in der Dämmerung, als das Langboot die Seetaube erreichte.

Sobald alle an Bord waren, löste Amos’ Mannschaft die Leinen und kletterte in die Takelage, um die Segel zu setzen. Die See-taube bewegte sich aus dem Hafen. Die versprochene Lücke in der Hafenblockade war zu erkennen, und Amos steuerte darauf zu. Er segelte hindurch, ehe auch nur ein Versuch gemacht werden konnte, sie aufzuhalten, und plötzlich lag der Hafen hinter ihnen, und sie befanden sich auf offener See.

Arutha verspürte ein merkwürdiges Triumphgefühl, als ihm klar wurde, daß sie Krondor verlassen hatten. Dann hörte er Amos fluchen. »Seht nur!«

Im schwachen Licht der Morgendämmerung bemerkte Arutha dort einen Umriß, wohin Amos zeigte. Das Kriegsschiff, der Dreimaster, den sie gesehen hatten, als sie in den Hafen eingelaufen waren, lag hier draußen vor Anker. Er war hier allen Blicken aus der Stadt her entzogen. »Ich dachte, der wäre mit Jessups Flotte draußen«, sagte Amos. »Dieser verdammte Radburn ist doch ein gerissenes Schwein. Die wird sich uns sofort an die Fersen heften, sobald er an Bord gehen kann.«

Er befahl, alle Segel zu setzen, und beobachtete dann, wie das Schiff hinter ihnen zurückblieb. »An Eurer Stelle würde ich zu Ruthia beten, Hoheit. Wenn wir genug Zeit herausschinden können, ehe sie lossegelt, wären wir vielleicht trotz allem noch in der Lage zu entkommen. Aber wir brauchen alles Glück, was die Göttin des Glücks erübrigen kann.«

Der Morgen war klar und kalt. Amos und Vasco beobachteten die Mannschaft bei der Arbeit, und beide waren mehr als zufrieden damit. Die weniger erfahrenen Männer waren durch Leute ersetzt worden, die Trevor Hull ausgesucht hatte. Sie arbeiteten schnell und gut, und die Seetaube raste gen Westen.

Anita war in einer Kabine unter Deck geführt worden, und Arutha und Martin standen bei Amos.

Der Ausguck verkündete klaren Horizont.

»Das wird eine knappe Sache, Hoheit. Wenn sie dieses verdammte Schiff so schnell wie möglich in Gang gesetzt haben, dann haben wir nur ein, höchstens zwei Stunden Vorsprung. Der Kapitän schlägt vielleicht zuerst noch den falschen Kurs ein. Aber da wir vor Jessups Flotte auf der Hut sein müssen, laufen sie wahrscheinlich an der keshianischen Küste entlang. Sicher riskieren sie es lieber, mit einem Kriegsschiff aus Kesh zusammenzustoßen, als uns zu verlieren. Ich werde mich erst wieder wohler fühlen, wenn wir mindestens zwei Tage keine Verfolger mehr gesehen haben.

Aber selbst wenn sie sofort ausgelaufen sind, holen sie doch in jeder Stunde nur ein kleines Stückchen auf. Deshalb sollten wir uns alle noch ein bißchen ausruhen, bis wir sicher wissen, daß sie uns in Sichtweite haben. Geht nach unten. Ich werde Euch rufen, wenn irgend etwas geschieht.«

Arutha nickte und ging, und Martin folgte ihm. Er wünschte ihm einen guten Schlaf und sah zu, wie der Jagdmeister seine Kabine betrat, die er mit Vasco teilte. Arutha trat in seine eigene Unterkunft. Dann blieb er stehen, als er Anita auf seiner Koje sitzen sah. Langsam schloß er die Tür. »Ich dachte, du würdest in deiner eigenen Kabine schlafen.«

Sie schüttelte leicht den Kopf. Und dann stand sie plötzlich vor ihm, den Kopf an seine Brust gelehnt. Sie wurde von Schluchzen geschüttelt, als sie sagte: »Ich habe versucht, tapfer zu sein, Arutha, aber ich hatte doch solche Angst.«

Einen Augenblick stand er unschlüssig und verlegen da. Dann legte er sanft die Arme um sie.

Ihre königliche Haltung war dahin, und Arutha erkannte plötzlich, wie jung sie noch war. Ihre Erziehung bei Hofe und ihre Manieren hatten ihr gute Dienste geleistet, als sie zwischen der rauhen Gesellschaft der Spötter Haltung bewahren mußte, aber jetzt hielt die Maske dem Druck nicht länger stand. Er strich ihr übers Haar und sagte: »Es wird ja alles wieder gut.«

Er murmelte weiterhin beruhigend auf sie ein, ohne zu wissen, was er eigentlich sagte, denn ihre Nähe beunruhigte ihn. Sie war so jung, daß er sie immer noch als Mädchen betrachtete, aber doch auch wieder so alt, daß er an seinem Urteil zweifelte. Er hatte noch nie mit den jungen Frauen bei Hofe herumschäkern können, so wie Roland es tat. Er hatte immer eine gute, offene Unterhaltung vorgezogen, die die Damen kaltzulassen schien. Auch hatte er nie ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen, so wie Lyam mit seinem guten Aussehen, den blonden Locken und auch mit seinem immerwährenden Lachen, seiner offenen, fröhlichen Art. Im großen und ganzen verursachten ihm Frauen immer ein unbehagliches Gefühl, und diese Frau – oder dieses Mädchen, er konnte sich nicht so recht entschließen – noch mehr als andere.

Als ihre Tränen versiegten, schob er sie zu dem einzigen Sessel in der überfüllten Kabine und setzte sich selbst auf die Koje. Sie schnüffelte kurz. »Entschuldige, das ist so – unschicklich.«

Plötzlich mußte Arutha lachen. »Was bist du doch für ein Mädchen!« erklärte er voll ehrlicher Zuneigung. »Ich an deiner Stelle wäre schon längst zusammengebrochen, wenn man mich aus dem Palast geschmuggelt, unter Halsabschneidern und Dieben versteckt gehalten und vor Radburns Spürhunden in Sicherheit gebracht hätte.«

Sie zog ein kleines Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich damit die Nase. Dann lächelte sie ihm zu. »Danke, daß du das gesagt hast. Aber ich glaube, du hättest dich besser gehalten. Martin hat mir in den letzten Wochen eine Menge von dir erzählt, und demnach bist du ein ziemlich tapferer Mann.«

Arutha war verlegen, daß sie ihm so viel Beachtung geschenkt hatte. »Der Jagdmeister neigt zu Übertreibungen«, widersprach er, obwohl er wußte, daß das nicht wahr war. So wechselte er hastig das Thema. »Amos hat mir gesagt, wir haben gewonnen, wenn wir dieses Schiff zwei Tage lang nicht sehen.«

Sie schlug die Augen nieder. »Das ist gut.«

Er beugte sich vor und wischte eine Träne von ihrer Wange. Dann wurde er plötzlich verlegen und zog seine Hand wieder weg. »Bei uns m Crydee, fern von Guys Komplott, wirst du sicher sein.

Meine Schwester wird sich freuen, dich als Gast in unserem Haus begrüßen zu dürfen.«

Sie lächelte schwach. »Trotzdem mache ich mir Sorgen um Vater und Mutter.«

Arutha tat sein Bestes, um ihre Ängste zu mildern. »Jetzt, wo du nicht mehr in Krondor bist, hat Guy nichts zu gewinnen, wenn er deinen Eltern Leid zufügt. Vielleicht zwingt er deinen Vater trotzdem, seine Einwilligung zur Ehe zu geben. Aber wenn Erland sie jetzt erteilt, kann er damit keinen Schaden mehr anrichten. Du bist außer Reichweite, und so hat es überhaupt keine Bedeutung mehr. Ehe das alles zu Ende ist, werden wir mit unserem lieben Vetter Guy noch abrechnen.«

Sie seufzte. »Danke, Arutha. Jetzt fühle ich mich schon viel besser.«

Er stand auf. »Versuch zu schlafen. Ich werde vorläufig deine Kabine benutzen.« Sie lächelte, als sie zu seiner Koje hinüberging. Er schloß die Tür hinter sich. Plötzlich fühlte er sich überhaupt nicht mehr müde und kehrte an Deck zurück. Amos stand neben dem Steuermann und hatte die Augen in die Ferne gerichtet. Arutha trat neben ihn. »Da, am Horizont, könnt Ihr es sehen?«

Arutha kniff die Augen zusammen und entdeckte vor dem Blau des Himmels einen kleinen, weißen Punkt. »Radburn?«

Amos spie aus. »Denke schon. Der Abstand wird immer kleiner. Aber es wird ein hartes und langes Rennen werden. Wenn wir für den Rest des Tages weit genug voraus bleiben können, dann gelingt es uns vielleicht, ihnen im Laufe der Nacht zu entschlüpfen – wenn genug Wolken den Mond verdecken, damit er uns nicht verrät.«

Arutha sagte nichts, er beobachtete nur weiterhin den Fleck in der Ferne.

 

Während des ganzen Tages beobachteten sie, wie das Verfolgerschiff immer größer wurde.

Zuerst kam es nur ganz langsam, doch dann plötzlich mit erschreckender Geschwindigkeit. Arutha konnte die Segel schon deutlich erkennen. Jetzt war es nicht mehr nur ein weißer Fleck. Er konnte sogar einen winzigen schwarzen Punkt am Mast ausmachen – zweifellos Guys Banner.

Amos betrachtete die untergehende Sonne. Sie lag direkt vor der fliehenden Seetaube. Dann beobachtete er das Schiff, das sie verfolgte. Er rief zu der Wache empor: »Kannst du sie ausmachen?«

Der Ausguck rief zurück: »Dreimaster, Kriegsschiff, Käpt’n.«

Amos sah Arutha an. »Das ist die Royal Griffin, der Königliche Greif. Bei Sonnenuntergang wird sie uns eingeholt haben. Wenn wir bloß zehn Minuten mehr Zeit hätten, oder eine Schlechtwetterfront käme, so daß wir uns verstecken könnten, oder wenn sie ein bißchen langsamer wäre…«

»Was könnt Ihr tun?«

»Nur wenig. Bei halbem Wind ist sie einfach schneller, und zwar so schnell, daß wir sie nicht durch irgendwelche Tricks beim Segeln abhängen können. Wenn ich versuchen würde zu drehen, wenn sie ganz nah ist, dann könnte ich den Abstand zwischen uns ein wenig vergrößern, weil wir beide an Geschwindigkeit verlieren würden – aber sie würde eine Weile schneller abfallen. Aber sobald sie ihre Segel gerafft hat, würde sie uns wieder einholen. Nur kämen wir dadurch nach Süden ab, und da erwarten uns ein paar böse Klippen und Untiefen an der Küste, nicht weit von hier. Es ist ein bißchen Glückssache. Nein, wenn sie neben uns liegt, dann nehmen uns ihre höheren Mäste den Wind weg, und wir werden so langsam, daß sie längsseits gehen und an Bord kommen können, ohne uns um Erlaubnis zu bitten.«

Arutha beobachtete das Schiff noch eine halbe Stunde lang. Es kam immer näher. Martin erschien jetzt ebenfalls an Deck und sah zu, wie die Entfernung zwischen den beiden Schiffen sich mit jeder Minute verringerte. Amos hielt sein Schiff dicht am Wind und holte alles an Geschwindigkeit heraus, aber dennoch kam das andere immer mehr an sie heran.

»Verdammt!« sagte Amos. »Wenn wir gen Osten segeln würden, würden wir sie in der Dunkelheit verlieren, aber westwärts zeichnen wir uns noch einige Zeit nach Sonnenuntergang deutlich vom Abendhimmel ab. Sie können uns immer noch sehen, wenn sie unseren Blicken schon längst entzogen sind.«

Die Sonne ging unter, aber die Jagd hielt an. Als die Sonne sich dem Horizont näherte – ein leuchtendroter Ball über einer schwarzgrünen See –, folgte das Kriegsschiff ihnen in weniger als tausend Meter Entfernung.

Amos erklärte: »Vielleicht versuchen sie, die Takelage zu zerstören oder mit ihren überdimensionalen Armbrüsten das Deck leerzufegen, aber mit dem Mädchen an Bord wird Radburn das vielleicht nicht riskieren, aus Angst, sie zu verletzen.«

Neunhundert Meter, achthundert, der Königliche Greif kam unaufhaltsam immer näher. Arutha konnte Gestalten ausmachen, kleine Pünktchen in der Takelage, schwarz vor den Segeln, die im Widerschein der untergehenden Sonne blutrot leuchteten.

Als das Verfolgerschiff nur noch fünfhundert Meter hinter ihnen lag, rief der Ausguck plötzlich:

»Nebel!«

Amos schaute auf. »Wo?«

»Südwestlich. Eine Meile, vielleicht mehr.«

Amos raste zum Bug, und Arutha folgte ihm. In der Ferne konnten sie die Sonne untergehen sehen, währende sich linker Hand ein nebliges, weißes Band entlang der schwarzen See erstreckte.

»Götter!« brüllte Amos. »Wir haben eine Chance!«

Amos befahl dem Steuermann, nach Südwesten zu steuern. Dann sprintete er zum Heck, dicht gefolgt von Arutha. Als sie dort ankamen, erkannten sie, daß ihre Wende die Entfernung zwischen den beiden Schiffen halbiert hatte. »Martin, kannst du ihren Steuermann erkennen?« fragte Amos.

Martin kniff die Augen zusammen. »Es ist ein bißchen dunkel, aber er ist kein schweres Ziel.«

»Dann versuche, ob du ihn davon abbringen kannst, seinen Kurs zu halten.«

Martin zog seinen allgegenwärtigen Bogen. Er legte einen Pfeil ein und zielte auf das sie verfolgende Schiff. Er wartete, verlegte sein Gewicht, um das Stampfen des Schiffes abzufangen, und schoß. Wie ein wütender Vogel raste der Pfeil übers Wasser und schlug im Baum ein. Nur Zentimeter vom Kopf des Steuermanns entfernt blieb er zitternd stecken.

Von der Seetaube aus konnten sie erkennen, wie der Steuermann der Königlichen Greif sich zu Boden fallen ließ und dabei das Ruder losließ. Das Kriegsschiff drehte bei, und der Abstand wurde wieder größer. »Ein bißchen windig für gutes Schießen«, meinte Martin und sandte einen zweiten Pfeil hinterher, der nur wenige Zentimeter entfernt vom ersten steckenblieb. Das Ruder blieb auch weiterhin unbemannt.

Langsam vergrößerte sich die Entfernung zwischen den Schiffen, und Amos wandte sich der Mannschaft zu. »Gebt die Parole aus: Wenn ich den Befehl zur Ruhe gebe, wird jeder Mann, der auch nur flüstert, zu Fischfutter. Ist das klar?«

Das Kriegsschiff schwankte noch eine Minute hinter ihnen.

Dann nahm es wieder Kurs auf. Martin sagte: »Sieht aus, als würden sie nun einen etwas anderen Kurs nehmen, nicht mit der vollen Breitseite zu uns, Amos. Ich kann nicht durch die Segel schießen.«

»Nein, aber ich wäre dir dankbar, wenn du die Jungs im Bug von ihren Waffen fernhalten könntest. Ich glaube, du hast Radburn schon ganz schön irritiert.«

Martin und Arutha sahen, wie die Mannschaft ihre Waffen bereit machte. Der Jagdmeister sandte einen Schwärm von Pfeilen zum Bug des verfolgenden Schiffes. Einer flog hinter dem anderen her, noch ehe dieser auch nur halb das Ziel erreicht hatte. Der erste traf einen Mann ins Bein, fällte ihn, und die anderen Seeleute brachten sich in Deckung.

»Nebel dicht voraus, Käpt’n!« kam der Ruf von oben.

Amos wandte sich dem Steuermann zu. »Hart nach backbord.«

 

Die Seetaube drehte nach Süden bei. Der Königliche Greif folgte ihr dicht auf. Die beiden Schiffe waren jetzt nur noch knapp vierhundert Meter auseinander.

Abrupt drangen sie in eine Mauer aus dichtem, grauem Nebel ein. Schnell wurde es dunkel um sie her, als die Sonne am Horizont versank. Sobald das Kriegsschiff ihren Blicken entzogen wurde, sagte Amos: »Refft die Segel!«

Die Mannschaft holte die Segel ein, und sofort wurde das Schiff langsamer. Dann sagte Amos:

»Hart steuerbord« und erteilte den Befehl zur Ruhe.

Grabesstille senkte sich auf das Schiff. Amos wandte sich Arutha zu und flüsterte: »Der Wind hat nachgelassen, er ist kaum mehr als ein wütender Furz. Aber hier gibt es Strömungen nach Westen. Wir lassen uns von denen von hier forttragen. Ich hoffe bloß, daß Radburns Kapitän ein Mann aus dem Königreich ist.«

»Ruder mittschiffs«, flüsterte er dem Steuermann zu.

Plötzlich wurde sich Arutha der Stille bewußt. Nach dem Lärm der Jagd, dem frischen Wind aus Norden, der die Segel und Taue singen machte und in dem das Canvas ständig flatterte, war diese gedämpfte Nebelbank unnatürlich still. Die Angst ließ die Minuten endlos werden.

Dann plötzlich, so als hätte ein Wecker geläutet, hörten sie Stimmen und die Geräusche eines Schiffes. Minutenlang konnte Arutha nichts sehen. Doch dann durchdrang ein schwacher Schein den Nebel in ihrem Rücken, zog von Nordost nach Südwest – die Laternen der sie verfolgenden Königlichen Greif. Jedermann an Bord der Seetaube, an Deck und in der Takelage, blieb auf seinem Platz und hatte Angst, sich zu rühren, denn in dieser Stille würde jedes Geräusch weit getragen werden. In der Ferne konnten sie einen Ruf von dem anderen Schiff vernehmen. »Ruhe, verdammt!

Wir können sie nicht hören, so laut sind wir selbst!« Dann war es plötzlich ruhig, man hörte nur noch das Flattern der Segel der Königlichen Greif.

Die Zeit verging endlos, und sie warteten in der Dunkelheit. Dann ertönte plötzlich ein schreckliches Knarren, ein reißendes, krachendes Knirschen von Holz, das zerschmettert wurde.

Gleich darauf konnte man die Schreie von Männern vernehmen, Schreie der Angst und Panik.

Amos wandte sich den anderen zu. »Die sind aufgelaufen. Dem Geräusch nach zu urteilen, haben sie sich den Rumpf weggerissen. Das sind tote Männer.« Er befahl, das Ruder nach Nordwesten umzulegen, fort von den Untiefen und Klippen, und hastig setzten seine Matrosen die Segel.

»Eine schlimme Art zu sterben«, bemerkte Arutha.

Martin zuckte die Achseln, was im Licht der Laternen, die jetzt an Deck gebracht wurden, zu erkennen war. »Gibt es eine gute Art? Ich habe schon Schlimmeres gesehen.«

Arutha verließ das Achterdeck. Noch immer hallten die mitleiderregenden Schreie der Ertrinkenden schwach an sein Ohr.

Er schloß die Tür hinter sich und versperrte sich so gegen die traurigen Töne. Dann öffnete er leise die Tür zu seiner Kabine. Im Licht einer niedergebrannten Kerze sah er Anita schlafend in seiner Koje liegen. Ihr rotbraunes Haar wirkte fast schwarz, als es jetzt um ihren Kopf ausgebreitet war. Er wollte gerade die Tür schließen, als er sie sagen hörte: »Arutha?«

Er trat ein. Sie beobachtete ihn im schwachen Licht. Er setzte sich auf den Rand des Bettes.

»Fühlst du dich besser?« fragte er.

Sie reckte sich und nickte. »Ich habe fest geschlafen. Ist alles in Ordnung?« Sie setzte sich auf.

Plötzlich war ihr Gesicht dem seinen ganz nahe.

Er legte seine Arme um sie und zog sie an sich. »Alles ist bestens. Wir sind jetzt in Sicherheit.«

Sie seufzte, als sie den Kopf an seine Schulter lehnte. »Danke für alles, Arutha.«

Er sagte nichts, denn er wurde plötzlich von starken Gefühlen übermannt. Er wollte Anita beschützen, er wollte für sie sorgen. Lange blieben sie so sitzen. Dann gewann Arutha wieder die Kontrolle über seine starken Gefühle, rückte ein Stück von ihr ab und sagte: »Du mußt hungrig sein, nehme ich an.«

Sie lachte. Es klang tatsächlich fröhlich. »Ehrlich gesagt, ich bin am Verhungern.«

»Ich werde etwas kommen lassen. Aber es wird etwas ganz Einfaches sein, selbst verglichen mit dem, was du bei den Spöttern bekommen hast, fürchte ich.«

»Das ist egal.«

Er ging an Deck und trug einem Matrosen auf, für die Prinzessin etwas zu essen zu holen. Als er zu ihr zurückkehrte, war sie dabei, sich zu kämmen. »Ich muß ja schrecklich aussehen.«

Arutha mußte plötzlich gegen ein Grinsen ankämpfen. Er wußte nicht, warum, aber er war unerklärlich glücklich. »Aber überhaupt nicht. Im Gegenteil, du siehst recht hübsch aus.«

Sie hörte auf, sich zu kämmen. Arutha staunte, daß sie in der einen Minute so jung, in der nächsten so fraulich aussehen konnte. Sie lächelte ihm zu. »Ich kann mich noch erinnern, wie ich damals, während des Essens an Vaters Hofe, versucht habe, einen Blick auf dich zu werfen. Als du das letzte Mal in Krondor warst, weißt du noch?«

»Auf mich? Aber warum denn nur?«

Sie schien die Frage zu überhören. »Ich fand damals auch, daß du gut aussiehst, wenn auch ein bißchen ernst. Damals war da ein Junge, der mich hochhielt, damit ich dich sehen konnte. Er gehörte zur Gesellschaft deines Vaters. Ich habe seinen Namen vergessen, aber er hat mir erzählt, daß er Lehrling bei einem Magier war.«

Aruthas Lächeln verging. »Das war Pug.«

»Was ist aus ihm geworden?«

»Er ist im ersten Jahr des Krieges gefallen.«

Sie legte ihren Kamm beiseite. »Das tut mir leid. Er war sehr freundlich zu einem lästigen Kind.«

»Er war ein netter Kerl und sehr tapfer, und meine Schwester hatte ihn besonders gern. Sie hat lange um ihn getrauert.« Er unterdrückte seine düstere Stimmung. »Aber warum wollte die Prinzessin von Krondor einen Blick auf einen entfernten Cousin vom Lande werfen?«

Anita musterte Arutha einen langen Augenblick lang. »Ich wollte dich sehen, weil Vater es für wahrscheinlich hielt, daß wir heiraten würden.«

Arutha war verblüfft. Er bedurfte all seiner Beherrschung, um Haltung zu bewahren. Er zog einen Sessel herbei und setzte sich. Anita sagte: »Hat dein Vater es dir gegenüber niemals erwähnt?«

Da ihm nichts Kluges zu sagen einfiel, schüttelte Arutha bloß den Kopf.

Anita nickte. »Ich weiß, der Krieg und all das. Ist alles recht wild geworden, kurz nachdem ihr nach Rillanon aufgebrochen seid.«

Arutha schluckte. Plötzlich fühlte sich sein Mund trocken an. »Also, was soll das heißen, daß unsere Väter Pläne für… unsere Ehe hatten?«

Anita schaute Arutha an. In ihren grünen Augen spiegelte sich das Kerzenlicht – und noch etwas anderes stand darin. »Ich fürchte, das waren Staatsgeschäfte. Vater wünschte, daß mein Anspruch auf den Thron gestärkt würde, und Lyam als der Ältere ist als Partner zu gefährlich gewesen. Du dagegen warst ideal, denn der König würde höchstwahrscheinlich keine Einwände haben… oder hätte sie zumindest damals nicht gemacht, denke ich. Jetzt jedoch, wo Guy sich in den Kopf gesetzt hat, mich zu bekommen – ich nehme an, der König ist einverstanden.«

Arutha wurde plötzlich zornig, obwohl er nicht wußte, weshalb. »Und ich vermute, wir werden in dieser Angelegenheit überhaupt nicht gefragt!« Seine Stimme wurde lauter.

»Bitte, ich kann doch nichts dafür.«

»Entschuldige. Ich wollte dich nicht ängstigen. Es ist nur so, daß ich noch nie viel über eine Ehe nachgedacht habe, und schon ganz gewiß nicht über eine aus politischen Gründen.« Sein trockenes Grinsen kehrte zurück. »Für gewöhnlich ist das Sache der ältesten Söhne. Wir Zweitgeborenen müssen normalerweise sehen, wie wir das Beste daraus machen. Für uns bleiben dann alte, verwitwete Herzoginnen oder die Tochter eines reichen Händlers.« Er versuchte, seinen Spaß damit zu treiben. »Die hübsche Tochter eines reichen Händlers, wenn wir Glück haben – und das haben wir selten.« Der leichte Ton gelang ihm nicht so recht, und er lehnte sich zurück. Schließlich sagte er: »Anita, du kannst in Crydee bleiben, solange es nötig ist. Eine Zeitlang wird das wegen der Tsuranis vielleicht gefährlich sein, aber irgendwie stehen wir das durch. Vielleicht können wir dich auch nach Carse schicken. Wenn dieser Krieg dann vorüber ist, kannst du in deine Heimat zurückkehren und bist dort ganz sicher. Das verspreche ich dir. Und niemals, niemals, hörst du, wird dich jemand zwingen, etwas zu tun, was du nicht willst.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihre Unterhaltung. Der Seemann trat ein. Er brachte eine Schüssel mit dampfendem Gemüse, dazu Brot und Pökelfleisch auf einem Teller. Während er das Essen auf den Tisch stellte und einen Becher Wein einschenkte, beobachtete Anita Arutha.

Nachdem der Matrose gegangen war, fing sie zu essen an.

Arutha sprach über Kleinigkeiten. Wieder ertappte er sich dabei, wie angetan er von der offenen Art des jungen Mädchens war. Als er ihr schließlich eine gute Nacht wünschte und die Tür hinter sich schloß, wurde ihm plötzlich bewußt, daß die Vorstellung einer Ehe aus politischen Gründen ihm nur sehr wenig Mißbehagen verursachte. Er ging an Deck hinauf. Der Nebel hatte sich gehoben, und wieder einmal fuhren sie vor einer leichten Brise dahin. Er betrachtete die Sterne über seinem Kopf, und zum erstenmal seit Jahren pfiff er fröhlich vor sich hm.

In der Nähe des Ruders tranken Amos und Martin Wein und unterhielten sich leise dabei.

»Der Prinz scheint heute abend außergewöhnlich fröhlich zu sein«, bemerkte Amos.

Martin blies eine Rauchwolke aus seiner Pfeife. »Und ich wette, er weiß nicht einmal, warum er sich so wohl fühlt. Anita ist jung, aber nicht so jung, daß er ihre Aufmerksamkeiten lange ignorieren kann. Wenn sie ihren Entschluß gefaßt hat – und ich glaube, das hat sie –, dann sitzt er in einem Jahr in ihrer Falle. Und er wird sich noch freuen, gefangen zu sein.«

Amos lachte. »Aber es wird noch geraume Zeit vergehen, bis es wirklich soweit ist. Ich wette, der junge Roland wird eher vor den Altar geschleppt als Arutha.«

Martin schüttelte den Kopf. »Das ist keine Wette. Roland sitzt seit Jahren in der Falle. Anita hat noch eine Menge Arbeit vor sich.«

»Dann warst du nie verliebt, Martin?«

»Nein, Amos. Förster geben genauso schlechte Ehemänner ab wie Seeleute. Sie sind nie lange daheim, verbringen Tage, ja Wochen allein. Da wird man leicht zum Eigenbrötler. Und du?«

»Kaum der Rede wert.« Amos seufzte. »Je älter ich werde, desto häufiger frage ich mich, was ich versäumt habe.«

»Aber würdest du etwas daran ändern wollen?«

Kichernd erwiderte Amos: »Wahrscheinlich nicht, Martin, wahrscheinlich nicht.«

 

Als das Schiff am Kai anlegte, stiegen Fannon und Gardan von ihren Pferden. Arutha führte Anita an Land und stellte sie dem Schwertmeister von Crydee vor.

»Wir haben keine Kutschen in Crydee, Hoheit«, erklärte Fannon, »aber ich lasse unverzüglich einen Wagen schicken. Es ist ein langer Weg bis zum Schloß.«

Anita lächelte. »Ich kann reiten, Meister Fannon. Jedes Pferd, das nicht zu lebhaft ist, reicht aus.«

Fannon befahl zwei seiner Männer, zum Stall zu reiten und eines von Carlines Pferden mit einem anständigen Damensattel zu holen. »Was gibt es Neues?« wollte Arutha wissen.

Fannon führte den Prinzen ein kurzes Stück beiseite. »Das Tauen in den Bergen hat erst spät eingesetzt, Hoheit. So hat es bisher noch keine Großoffensive der Tsuranis gegeben. Ein paar der kleineren Garnisonen sind überfallen worden, aber noch deutet nichts auf eine Frühjahrsoffensive hin. Jedenfalls nicht hier. Vielleicht ziehen sie doch gegen Euren Vater ins Feld.«

»Ich hoffe, Ihr habt recht, denn Vater hat den größten Teil der Garnison von Krondor als Verstärkung erhalten.« In kurzen Zügen berichtete er, was in Krondor geschehen war, und Fannon hörte aufmerksam zu.

»Ihr habt richtig gehandelt, daß Ihr nicht ins Lager Eures Vaters gesegelt seid. Ich glaube, Ihr habt die Lage richtig beurteilt.

Nichts könnte sich als verhängnisvoller erweisen, als wenn die Tsuranis eine Großoffensive gegen Herzog Borric planen, wenn dieser sich gerade darauf vorbereitet, gegen Guy in den Kampf zu ziehen. Doch behalten wir das besser noch einige Zeit für uns. Euer Vater wird früh genug erfahren, was geschehen ist. Aber je länger es dauert, bis er etwas von Guys Verrat hört, desto größer ist unsere Chance, die Tsuranis ein weiteres Jahr m Schach zu halten.«

Arutha schien besorgt. »Das kann nicht mehr lange so weitergehen, Fannon. Wir müssen diesem Krieg bald ein Ende setzen.« Er drehte sich kurz um und bemerkte, daß Leute aus der Stadt die Prinzessin anstaunten. »Aber immerhin haben wir noch ein bißchen Zeit, um uns etwas gegen die Tsuranis einfallen zu lassen. Hoffentlich fällt uns wirklich etwas ein.«

Fannon verstummte, setzte zum Sprechen an, brach dann aber wieder ab. Sein Gesicht wurde grimmig, fast schmerzlich. »Was ist los, Schwertmeister?« wollte Arutha wissen.

»Ich habe ernste und traurige Neuigkeiten für Euch, Hoheit. Junker Roland ist tot.«

Arutha war erschüttert. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob Fannon einen geschmacklosen Witz gemacht hätte, denn er wollte einfach nicht glauben, was er da gehört hatte. Schließlich stammelte er: »Aber… wie?«

»Vor drei Tagen erreichte uns die Nachricht von Baron Tolburt, der schrecklich traurig ist. Der Junker wurde während eines Tsurani-Gefechtes getötet.«

Arutha schaute zur Burg auf dem Hügel hinauf. »Carline?«

»Wie man es erwarten konnte. Sie weint, aber sie trägt es mit Fassung.«

Arutha kämpfte gegen ein erstickendes Gefühl an. Sein Gesicht war eine grimmige Maske, als er zu Anita, Amos und Martin zurückkehrte. Die Nachricht, daß die Prinzessin aus Krondor im Hafen war, hatte sich in Windeseile verbreitet. Die Soldaten, die Fannon und Gardan begleitet hatten, bildeten einen schweigenden Kreis um sie. Sie hielten die Stadtbevölkerung in respektvoller Entfernung, während Arutha die traurige Nachricht Martin und Amos mitteilte.

Bald trafen die Pferde ein, und sie ritten zum Schloß. Arutha spornte seinen Gaul an und war schon abgestiegen, ehe die anderen noch den Hof erreicht hatten. Der Großteil der Bediensteten erwartete ihn, und ohne jedes Zeremoniell rief er dem Diener Samuel zu: »Die Prinzessin von Krondor ist unser Gast. Sorge dafür, daß Gemächer vorbereitet werden. Dann geleite sie in die große Halle und erkläre ihr, daß ich in kurzer Zeit zu ihr kommen werde.«

Er eilte durch den Eingang, an Wachtposten vorbei, die Haltung annahmen, als ihr Prinz an ihnen vorüberstürmte. Er erreichte Carlines Gemächer und klopfte an die Tür.

»Wer ist da?« kam eine leise Stimme.

»Arutha.«

Die Tür flog auf. Carline eilte in die Arme ihres Bruders und klammerte sich an ihn. »Oh, ich bin so froh, daß du wieder da bist. Du weißt gar nicht, wie froh!« Sie trat zurück und musterte ihn.

»Entschuldige bitte. Ich wollte mit zum Hafen reiten, um dich zu begrüßen, aber ich konnte mich einfach nicht zusammenreißen.«

»Fannon hat es mir gerade erzählt. Es tut mir so schrecklich leid.«

Sie schaute ihn ruhig an. Aus ihrem Gesicht sprach nichts als Akzeptieren. Dann nahm sie seine Hand und führte ihn in ihr Zimmer. Dort setzte sie sich auf einen Diwan. »Ich wußte immer, daß das geschehen könnte. Es war wirklich eine dumme Sache, weißt du. Baron Tolburt hat einen sehr langen Brief geschrieben. Der arme Mann. Er hat so wenig von seinem Sohn gesehen, und er war so entsetzt.« Tränen traten ihr in die Augen. Sie schluckte hart und wandte sich ab. »Roland ist gestorben…«

»Du mußt es mir nicht erzählen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es geht schon. Es tut weh…« Wieder kamen ihr die Tränen, aber sie sprach dennoch weiter. »Oh, es schmerzt, aber ich werde darüber hinwegkommen. Roland hat mir das beigebracht, Arutha. Er wußte, daß Risiken und Gefahren auf ihn warteten, und daß ich weiterleben müßte, mein eigenes Leben führen müßte, wenn er sterben sollte. Er hat mich das gut gelehrt, glaube ich. Denn endlich wußte ich, wie sehr ich ihn liebte, und ich habe es ihm auch gesagt. Und ich glaube, das hilft mir jetzt, den Verlust zu ertragen.

Roland ist bei dem Versuch gestorben, ein paar Kühe von irgendwelchen Bauern zu retten.« Sie lächelte unter Tränen. »Ist das nicht typisch für ihn? Da hat er den ganzen Winter damit verbracht, eine Festung aufzubauen, und wenn es dann das erste Mal Ärger gibt, dann sind das bloß ein paar hungrige Tsuranis, die versuchen, ein paar knochige Kühe zu stehlen. Roland ist mit seinen Männern ausgeritten, um sie zu verjagen, und wurde von einem Pfeil getroffen. Er war der einzige Verletzte, und er ist gestorben, ehe sie ihn in die Festung zurückbringen konnten.« Sie seufzte tief.

»Er war manchmal ein solcher Narr, ich glaube fast, er hat das absichtlich getan.«

Sie fing an zu weinen, und Arutha betrachtete sie schweigend. Aber schnell gewann sie ihre Beherrschung wieder und sagte: »Das hilft ja alles nichts.« Sie stand auf und trat ans Fenster. Leise sagte sie: »Verdammter, dummer Krieg.«

Arutha trat neben sie und zog sie einen Augenblick fest an sich. »Verdammt seien alle Kriege.«

Ein paar Minuten schwiegen sie noch. Dann sagte sie: »Jetzt erzähle, was gibt es Neues in Krondor?«

Arutha gab ihr einen kurzen Überblick über die Ereignisse und seine Erlebnisse in Krondor. In seinen Gedanken war er aber bei ihr. Sie schien Rolands Verlust weit besser zu ertragen, schien auch eher bereit, ihn zu akzeptieren, als sie es in ihrem Kummer um Pug gewesen war. Arutha teilte ihren Schmerz, aber er war sich auch sicher, daß sie darüber hinwegkommen würde. Er war froh zu sehen, wieviel reifer Carline in den vergangenen Jahren geworden war. Als er ihr auch von Anitas Rettung erzählt hatte, unterbrach Carline ihn. »Was, Anita, die Prinzessin aus Krondor, ist hier?«

Arutha nickte, und Carline meinte: »Ich muß ja schrecklich aussehen, und du bringst die Prinzessin von Krondor hierher. Arutha, du bist ein Ungeheuer.« Sie eilte vor einen Spiegel aus poliertem Metall und werkelte an ihrem Gesicht herum. Sie betupfte es mit einem feuchten Tuch.

Arutha lächelte. Unter dem Mantel der Trauer zeigte seine Schwester doch noch immer einen Funken ihres alten Selbst.

Während sie ihr Haar ausbürstete, wandte sich Carline ihrem Bruder zu. »Ist sie hübsch, Arutha?«

An die Stelle von Aruthas Lächeln trat ein Grinsen. »Ja, das würde ich schon sagen.«

Carline musterte sein Gesicht. »Ich sehe schon, ich werde sie kennenlernen müssen, und zwar gut.« Sie legte ihren Kamm nieder und strich ihr Kleid glatt. Dann streckte sie die Hand nach ihrem Bruder aus. »Komm, wir können deine junge Dame doch nicht warten lassen.«

Hand in Hand verließen sie den Raum und gingen die Treppe hinunter in die Haupthalle, um Anita in Crydee willkommen zu heißen.