Sendbote

Die Truppen standen still.

Lange Schlangen von Männern warteten darauf, daß die Reihe an sie kam, um durch den Spalt nach Midkemia einzumarschieren. Offiziere schritten vorüber. Ihre Gegenwart sicherte die Disziplin in den Reihen. Laurie, in der Maske und dem Gewand eines Roten Priesters, war von der Kontrolle beeindruckt, die diese Offiziere über ihre Männer hatten. Er sah den Ehrenkodex der Tsuranis, nach dem Befehle ohne Frage befolgt wurden, als eine äußerst merkwürdige Sache an.

Er und Kasumi bewegten sich schnell die Reihe hinauf. Ihr Ziel war die erste Gruppe nach derjenigen, die jetzt den Spalt betrat. Laurie beugte die Knie und bückte sich, um von seiner auffälligen Größe abzulenken. Wie sie es erhofft hatten, schauten die meisten Soldaten gerade beiseite, als der verkrüppelte Rote Priester vorbeizog.

Als sie die Spitze der Kolonne erreichten, reihte sich Kasumi dort ein. Sein jüngerer Bruder, der bei dieser Offensive als Truppenführer eingesetzt war, schien sich um die späte Ankunft seines Kommandeurs nicht zu kümmern, und auch nicht um den Priester, der mit ihm gekommen war.

Nach einer scheinbar unendlichen Verzögerung ertönte endlich das Kommando, und sie traten ein in das schimmernde ›Nichts‹, das den Spalt zwischen den beiden Welten kennzeichnete. Ein kurzes Aufblitzen von Licht, eine momentane Benommenheit, und schon fanden sie sich in einem leichten Nieselregen auf Midkemia wieder. Feuchtigkeit, kaum mehr als ein dichter Nebel, senkte sich um sie her. Die Tsurani-Soldaten, die an heißes Wetter gewöhnt waren, hüllten sich in ihre Umhänge.

Ein Offizier beriet sich kurz mit Kasumi. Dann erhielten die Truppen den Befehl, sich ein Stück nach Nordosten zu begeben und dort ihr Lager aufzuschlagen. Anschließend sollten Kasumi und Hokanu sich beim Zelt des Kriegsherrn melden, um weitere Anweisungen zu erhalten. Der Kriegsherr selbst war zwar wieder in Kentosani, der Heiligen Stadt, wo er sich auf die kaiserlichen Festspiele vorbereitete, aber sein Unterkommandeur würde sie in ihre Pflichten und Verantwortlichkeiten einweisen, bis er zurückkehrte.

Schnell begaben sie sich zur Front und erreichten ihr Lager. Kaum war das Zelt des Kommandeurs aufgeschlagen, als Laurie und die Shinzawai-Brüder sich auch schon davonstahlen.

Während sie Bündel mit Kleidern und Waffen, die denen aus Midkemia glichen, auspackten, sagte Kasumi: »Sobald wir von unserem Treffen mit dem Kommandeur zurückkehren, werden wir essen.

Noch heute nacht werden wir eine Patrouille anführen, und dann werden wir versuchen, durch die Reihen zu schlüpfen.« Kasumi sah seinen Bruder an. »Wenn wir fort sind, Bruder, bist du dafür verantwortlich, unser Verschwinden so lange wie möglich geheimzuhalten. Sobald jedoch ein Kampf gemeldet wird, kannst du behaupten, wir wären in Gefangenschaft geraten.«

Hokanu stimmte zu. »Am besten erstatten wir jetzt Bericht.«

Kasumi schaute Laurie an. »Bleib drinnen. Wir wollen nichts riskieren. Du bist der verdammt größte Priester, den ich je gesehen habe.«

Laurie nickte. Er ließ sich auf ein paar Kissen nieder und wartete.

 

Die Patrouille bewegte sich langsam zwischen den Bäumen hindurch. Der Regen hatte aufgehört, aber es war kälter geworden, und Laurie unterdrückte ein Schaudern. Der jahrelange Aufenthalt im heißen Klima von Kelewan hatte seine ehemalige Fähigkeit verdrängt, die Kälte zu ignorieren. Er fragte sich, wie es den neuen Truppen aus Tsuranuanni ergehen mochte, und wie sie wohl reagieren würden, wenn der erste Schnee fiel. Höchstwahrscheinlich würden sie die erlernte Gleichgültigkeit zeigen, ungeachtet dessen, was in ihnen vorging. Ein Tsurani-Soldat würde sich niemals die Blöße geben, seine Erregung über so etwas Triviales wie festes Wasser, das vom Himmel fiel, zu zeigen.

Sie wählten den Nördlichen Paß, denn er führte zur größten Front. Auch war es hier weniger wahrscheinlich, daß sie bemerkt werden würden, wenn sie die Reihen durchkreuzten. Sie erreichten die Paßhöhe, und ein Wachtposten führte sie weiter. Kaum hatten sie das Tal hinter sich, als sie sich auch schon ein Stückchen weiter östlich hielten, als ihre Patrouille es erforderte.

Hinter den sanften Hügeln und Wäldern befand sich die Straße, die von Zun nach LaMut führte.

Sobald die beiden Reisenden ihre Patrouille verlassen und sie erreicht haben würden, wollten sie den Weg nach Zun einschlagen, Pferde kaufen und südwärts reiten. Mit etwas Glück könnten sie Krondor dann in zwei Wochen erreichen. Dort würden sie ihre Pferde wechseln und sich auf den Weg nach Salador machen, wo sie sich nach Rillanon einschiffen wollten.

Sie liefen in einem Trab, der sie schnell vorwärts brachte. Laurie rannte neben Kasumi her und bewunderte die Ausdauer des Soldaten. Sie zeigten ihre Müdigkeit vielleicht nicht, aber er spürte sie dennoch. Hokanu machte der Patrouille ein Zeichen, am Rande eines großen, flachen Gebietes in der Nähe des Waldes zu halten. »Von hier werden wir zu unserem Patrouillengebiet zurückkehren. Von jetzt an sollten wir keine Tsurani-Soldaten mehr treffen. Um euretwillen wollen wir hoffen, daß wir auch nicht auf Truppen des Königreiches stoßen.«

Er machte ein Zeichen, und sie zogen los. Laurie und Kasumi erhielten Rucksäcke und Kleider.

Schnell zogen sie sich um und folgten dann der Straße, die die Patrouille eingeschlagen hatte. Sie wollten ihr ein kurzes Stück folgen und sich durch die Patrouille decken lassen, falls königliche Truppen m der Nähe waren.

Sie betraten ein kleines Tal und stellten fest, daß die Patrouille durch irgend etwas weiter vorne aufgehalten worden war. Der letzte Mann in der Reihe bedeutete ihnen zu schweigen. Sie begaben sich ganz nach vorne. Laurie schaute sich nach einem Fluchtweg um, falls es Schwierigkeiten geben sollte. Leise sagte Hokanu: »Ich habe gedacht, ich hätte etwas gehört, aber seit ein paar Minuten war nichts mehr zu vernehmen.«

Kasumi nickte. »Dann zieht weiter. Wir warten hier, bis ihr das offene Feld vor uns überquert habt. Dann folgen wir euch.« Er wies auf die breite, flache Strecke zwischen dem Eingang zum Tal, an dem sie standen, und einer Baumgruppe am jenseitigen Ende.

Als die Patrouille die Mitte der offenen Fläche erreicht hatte, rissen die Wolken plötzlich auf, und Mondlicht erhellte das Gebiet. »Verdammt!« fluchte Kasumi leise. »Genausogut hätten sie gleich Fackeln anzünden können.«

Plötzlich brach zwischen den Bäumen Bewegung und Lärm aus. Der Boden bebte, als Reiter vorwärts stürzten. Sie kamen zwischen den Bäumen hervor, die sie verborgen hatten. Jeder Reiter trug ein schweres Kettenpanzerhemd und einen Helm. Lange Lanzen wurden auf die überraschten Tsurani-Soldaten gerichtet.

Die Tsuranis hatten kaum genügend Zeit, um eine grobe Verteidigungslinie aufzubauen, da waren die Reiter auch schon über ihnen. Schreie von Pferden und Männern erfüllten die Luft, und die Tsuranis fielen vor dem Angriff zurück. Die Reiter ritten einfach über sie hinweg und formierten sich wieder am anderen Ende des Tales, dort, wo sich die Flüchtlinge versteckten. Sie wirbelten herum und griffen erneut an. Die überlebenden Tsuranis, kaum die Hälfte der ausgezogenen Soldaten, begaben sich hastig auf die Westseite des Tales, wo die Bäume und die Neigung des Hügels die Reiter bei ihrem Angriff beeinträchtigen würden.

Laurie berührte Kasumi am Arm und deutete nach rechts. Es war offensichtlich, daß der Tsurani-Offizier sich nur mühsam zurückhielt, um sich nicht zu seinen Männern zu gesellen. Plötzlich war Kasumi fort, duckte sich und lief an den Bäumen entlang. Laurie folgte ihm und entdeckte einen Pfad, der scheinbar nach Osten verlief. Er packte Kasumis Ärmel und zeigte darauf. Sie wandten sich vom Kampf ab und flohen den Pfad entlang.

 

Am nächsten Tag befanden sich zwei Reisende auf der Straße nach Zun. Beide trugen Wollhemden, Hosen und Mäntel. Bei genauerer Betrachtung hätte ein geübtes Auge erkennen können, daß das Material nicht aus richtiger Wolle war, sondern nur so ähnlich aussah. Gürtel und Stiefel waren aus Needrahaut, die gegerbt worden war, damit sie Leder ähnelte. Der Stil war der von Midkemia, ebenso wie die Schwerter, die sie an ihren Gürteln trugen.

Der eine von ihnen war ganz offensichtlich ein Minnesänger, denn eine Laute hing ihm über der Schulter. Der andere sah aus wie ein Händler. Es war unwahrscheinlich, daß ein zufälliger Beobachter ihre wahre Herkunft erraten hätte, oder die Reichtümer, die sie in ihren Bündeln mit sich trugen, denn jeder hatte ein kleines Vermögen an Edelsteinen bei sich.

Auf dem Weg nach Norden überholte sie auf der Straße eine berittene Truppe, und Laurie sagte:

»Es hat sich einiges verändert, seit ich das letzte Mal hier war. Die Männer im Wald waren königlich-krondonanische Ulanen, und die, die gerade hier vorüberritten, trugen die Farben von Shamata. Alle Armeen des Westens müssen sich hier versammeln, so scheint es jedenfalls. Irgend etwas liegt hier in der Luft. Vielleicht haben sie irgendwie den Plan Eures Kriegsherrn zu einer Großoffensive erraten?«

»Ich weiß nicht. Was auch geschieht, es sieht nicht so aus, als wäre alles so gesichert, wie man es uns daheim glauben macht. Die Konzentration der Truppen hier läßt mich glauben, daß der Sieg des Kriegsherrn vielleicht doch nicht so leicht zu erringen ist.« Kasumi schwieg einen Moment, während sie weiterzogen. »Ich hoffe, daß Hokanu unter jenen war, die die Bäume erreicht haben.«

Es war das erste Mal, daß er seinen Bruder erwähnte, und Laurie fiel nichts ein, was er dazu hätte sagen können.

 

Zwei Tage später saßen Laurie, ein Troubadour aus Tyr-Sog, und Kenneth, ein Händler aus dem Tal der Träume, im Gasthof zur Grünen Katze in der Stadt Zun. Beide aßen mit gutem Appetit, denn zwei Tage lang hatte es für sie nur getrocknete Kuchen aus Hirsemehl und Obst gegeben.

Laurie hatte eine Stunde lang mit einem alles andere als ehrenwerten Edelsteinhändler verhandelt. Schließlich hatte er ein paar der kleineren Steine für ein Drittel ihres wahren Wertes verkauft und bemerkt: »Wenn er glaubt, sie wären gestohlen, wird er nicht so leicht Fragen stellen.«

Kasumi fragte: »Warum hast du ihm nicht gleich alle Steine verkauft?«

»Dein Vater hat uns so viele gegeben, daß wir für den Rest unserer Tage davon leben können.

Ich bezweifle, daß alle Händler in Zun zusammengenommen das Gold aufbringen könnten, um die Steine zu bezahlen. Wir werden unterwegs immer wieder mal ein paar verkaufen. Außerdem wiegen sie auch weniger als Gold.«

Die beiden Männer beendeten ihr Mahl, zahlten und gingen. Kasumi konnte sich nur schwer beherrschen, nicht all das Metall anzustarren, das er überall sehen konnte. Auf Kelewan hätte das einen unermeßlichen Reichtum bedeutet. Allein die Kosten ihres Mahles in Silber hätten eine Tsurani-Familie ein Jahr lang am Leben erhalten können.

Sie eilten eine der Geschäftsstraßen der Stadt entlang und auf das Südtor zu. In dessen Nähe, so hatten sie erfahren, würde ihnen ein angesehener Händler Pferde und Zaumzeug zu einem guten Preis überlassen. Sie fanden den Mann. Er war ein dünner, hakennasiger Kerl namens Brin. Laurie verbrachte fast eine Stunde damit, sich mit dem Händler über den Verkauf von zweien seiner besseren Tiere zu einigen. Als sie ihn verließen, jammerte er und drückte seine Sorge darüber aus, daß sie des Nachts nicht würden schlafen können, nachdem sie einen ehrlichen Geschäftsmann so übers Ohr gehauen hatten. Sie hätten ihn um das Geld gebracht, das er benötigte, um seine hungrigen Kinder zu ernähren.

Als sie durch das Tor ritten, hinter dem die Straße nach Ylith lag, meinte Kasumi: »Dieses euer Land erscheint mir schon sehr merkwürdig, aber als du mit dem Händler gestritten hast, mußte ich doch an daheim denken. Unsere Händler sind viel höflicher und würden niemals so ihre Stimme erheben, aber es ist trotzdem dasselbe. Sie haben alle hungrige Kinder.«

Laurie lachte und trieb sein Pferd vorwärts. Bald darauf waren sie außer Sichtweite der Stadt.

 

Vierzehn Tage später erreichten sie das nördliche Tor von Krondor. Als sie hindurchritten, wurden sie von mehreren Wachtposten in Schwarz und Gold mißtrauisch betrachtet. Kaum konnten sie von ihnen nicht mehr gehört werden, da sagte Laurie: »Das sind nicht die Röcke des Prinzen. Das Banner von Bas-Tyra flattert über Krondor.«

Sie ritten eine Minute lang langsam weiter. Dann meinte Kasumi: »Was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß nicht. Aber ich kann mir vorstellen, wo wir das herausfinden können.« Er trieb sein Pferd an, und Kasumi folgte ihm. Sie ritten durch eine Anzahl von Straßen, zu deren beiden Seiten sich Lager- und Geschäftshäuser erhoben. Man hörte Geräusche von den Docks, die ein paar Straßen weiter lagen. Im übrigen war die Gegend ruhig. »Es ist merkwürdig«, bemerkte Laurie, als sie weiterritten. »Für gewöhnlich ist dieser Teil der Stadt um diese Tageszeit am belebtesten.«

Kasumi schaute sich um, ohne zu wissen, was er zu sehen erwartete. Die Städte Midkemias erschienen ihm im Vergleich zu denen des Kaiserreichs klein und schmutzig. Trotzdem war der Mangel an Aktivität hier irgendwie merkwürdig. Sowohl Zun als auch Ylith hatten von Soldaten, Händlern und Bürgern gewimmelt, obwohl sie kleinere Städte waren als Krondor. Als sie weiterritten, wurde Kasumi von einem Gefühl der Unruhe befallen.

Sie erreichten einen Teil der Stadt, der noch mehr heruntergekommen war als der Lagerhaus-Distrikt. Die Straßen hier waren schmal, und vier- bis fünfstöckige Häuser duckten sich an ihren Seiten. Dunkle Schatten waren überall, selbst am Mittag. Die Menschen auf der Straße, ein paar Händler und Frauen auf dem Weg zum Markt, bewegten sich leise und mit Hast. Wohin die Reiter auch schauten, bemerkten sie Vorsicht und Mißtrauen in den Gesichtern.

Laurie führte Kasumi zu einem Tor, hinter dem der obere Teil eines dreistöckigen Gebäudes zu sehen war. Laurie bückte sich im Sattel und zog an der Klingelschnur. Als er nach ein paar Minuten noch immer keine Antwort erhalten hatte, klingelte er noch einmal.

Einen Augenblick später glitt ein Spion beiseite. Zwei Augen konnten in dem winzigen Fenster gesehen werden, und eine Stimme fragte: »Was wollt Ihr?«

Lauries Ton war scharf. »Lucas, bist du es? Was geht denn hier vor, daß Reisenden nicht einmal mehr Einlaß gewährt wird?«

Die Augen wurden größer, das Fenster glitt zu. Dann schwang das Tor mit knirschendem Protest auf, und ein Mann trat vor, um es weit zu öffnen. »Laurie, du Schurke!« rief er aus, als er die Reiter einließ. »Es ist fünf – nein, sechs Jahre her!«

Sie ritten in den Hof, und Laurie war entsetzt über den Zustand des Gasthofs. An einer Seite befand sich ein verfallener Stall. Dem Tor gegenüber hing ein Schild über dem Haupteingang. In verblichenen Tönen zeigte es einen farbenprächtigen Papageien mit ausgebreiteten Flügeln. Sie konnten hören, wie das Tor hinter ihnen geschlossen wurde.

Der Mann, den man Lucas nannte, ein großer, dünner Kerl mit grauem Haar, sagte: »Ihr müßt die Tiere selbst versorgen. Ich bin allein hier und muß in den Schankraum zurückkehren, ehe meine Gäste dort alles stehlen. Ich bringe dich und deinen Freund hinein, und dann können wir uns unterhalten.« Er wandte sich ab, und die beiden Reiter blieben allein zurück, um ihre Pferde zu versorgen.

Als sie ihnen die Sättel abnahmen, sagte Laurie: »Hier geht eine Menge vor, was ich nicht verstehe. Der Bunte Papagei war niemals ein vornehmer Ort, aber immer noch eine der besseren Tavernen im Armenviertel.« Schweigend rieb er sein Reittier trocken. »Wenn es überhaupt einen Ort gibt, an dem wir herausfinden können, was hier in Krondor vorgeht, dann ist das bei Lucas. Und in den Jahren, in denen ich durchs Königreich gezogen bin, habe ich etwas gelernt: Wenn die Wachtposten an den Stadttoren Reisende genau mustern, dann ist es Zeit, sich an einen Ort zu begeben, wo sie wahrscheinlich nicht suchen werden. Im Armenviertel kann es dir leicht passieren, daß man dir die Kehle durchschneidet, aber du wirst hier kaum einen Wachtposten sehen. Und wenn sie doch mal kommen, dann wird der Mann, der versucht hat, dich umzubringen, dich eher verstecken, bis sie gegangen sind, als dich ihnen ausliefern.«

»Und dann versuchen, dir die Kehle durchzuschneiden.«

Laurie lachte. »Du begreifst schnell.«

Als die Pferde versorgt waren, schleppten die beiden Reisenden ihre Sättel und Bündel ins Gasthaus. Drinnen empfing sie ein schwach beleuchteter Schankraum mit einer langen Bar an der rückwärtigen Wand. Linker Hand erhob sich ein hoher Kamin, und rechts führte eine Treppe nach oben. Eine Anzahl leerer Tische stand im Raum, und an zweien saßen auch Gäste. Sie warfen auf die Neuankömmlinge einen schnellen Blick und wandten sich dann wieder ihren Getränken und ihrer leisen Unterhaltung zu.

Laurie und Kasumi gingen zur Bar hinüber, wo Lucas stand und mit einem nicht sehr sauberen Tuch ein paar Weinbecher putzte. Sie ließen ihre Bündel vor ihre Füße fallen, und Laurie sagte:

»Gibt’s Wein aus Kesh?«

»Ein bißchen. Ist aber teuer. Seit der Ärger angefangen hat, hat es kaum Handel mit Kesh gegeben«, antwortete Lucas.

Laurie schaute ihn abwägend an. »Dann zwei Bier.«

Einen Augenblick später tauchten riesige Becher Bier vor ihnen auf, und Lucas sagte: »Schön, dich zu sehen, Laurie. Ich habe deine zarte Stimme vermißt.«

»Das letzte Mal hast du das aber nicht gesagt. Wenn ich mich recht entsinne, hast du es mit dem Schreien einer Katze verglichen, die einen Kampf sucht.«

Sie kicherten alle, und Lucas erklärte: »Jetzt, wo alles so düster aussieht, bin ich denen gegenüber, die wahre Freunde waren, sanfter geworden, regelrecht geschmolzen. Es sind nur noch wenige von uns übriggeblieben.« Er warf einen deutlich fragenden Blick auf Kasumi.

»Das ist Kenneth, ein wirklicher Freund von mir, Lucas«, stellte Laurie ihn vor.

Lucas betrachtete den Tsurani noch eine Weile länger, dann lächelte er. »Lauries Empfehlungen zählen hier viel. Willkommen.« Er streckte seine Hand aus, und Kasumi schüttelte sie, wie es im Königreich üblich war.

»Ich freue mich über Euer Willkommen.«

Lucas runzelte beim Klang seines Akzents die Stimme. »Ein Ausländer?«

»Aus dem Tal der Träume«, erklärte Kasumi.

»Von der königlichen Seite«, ergänzte Laurie.

Lucas musterte den Kämpen. Nach einem Augenblick meinte er achselzuckend: »Wie auch immer, für mich ist das unwichtig. Aber seid auf der Hut. Wir leben in mißtrauischen Zeiten, und Fremden wird hier nur wenig Liebe entgegengebracht. Paßt auf, mit wem Ihr redet, denn es geht das Gerücht, daß Hundesoldaten aus Kesh bereit sind, wieder gen Norden zu ziehen. Und Ihr seid fast ein Keshianer.«

Ehe Kasumi noch etwas sagen konnte, antwortete Laurie: »Heißt das, es wird Ärger mit Kesh geben?«

Lucas schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht sagen. Derzeit gibt es mehr Gerüchte, als ein Bettler Flöhe hat.« Er senkte die Stimme. »Vor zwei Wochen trafen Händler ein. Sie wußten zu berichten, daß das Kaiserreich Großkesh wieder bis weit in den Süden hinein kämpft. Man versucht, die ehemaligen Provinzen der Konföderation zurückzugewinnen. Also sollte es hier eine Weile ruhig bleiben. Vor über einhundert Jahren haben sie ja gelernt, was aus einem Zwei-Fronten-Krieg werden kann. Damals haben sie ganz Bosania verloren, aber die Konföderation dennoch nicht besiegt.«

»Wir sind seit langer Zeit unterwegs und haben nur wenig Neuigkeiten gehört«, berichtete Laurie. »Warum weht Bas-Tyras Banner über Krondor im Wind?«

Lucas sah sich schnell im Raum um. Die Trinkenden schienen von der Unterhaltung an der Bar nichts zu verstehen, aber Lucas machte ihnen dennoch ein Zeichen, zu schweigen. »Ich werde Euch ein Zimmer zuweisen«, sagte er laut. Sowohl Laurie als auch Kasumi waren überrascht, nahmen aber ihre Bündel auf und folgten Lucas wortlos nach oben.

Er führte sie in eine kleine Kammer mit zwei Betten und einem Tischchen. Als die Tür hinter ihnen zugefallen war, sagte er: »Ich vertraue dir, Laurie, deshalb stelle ich keine Fragen. Aber du mußt wissen, daß sich die Dinge hier grundlegend geändert haben, seit du das letzte Mal hier warst.

Sogar im Armenviertel, wo es Ohren gibt, die dem Vizekönig gehören. Bas-Tyra hat die Stadt unter Kontrolle, und nur ein dummer Mann redet, ohne zu wissen, wer ihm zuhört.«

Lucas ließ sich auf eines der beiden Betten nieder, und Laurie und Kasumi setzten sich ihm gegenüber. Lucas fuhr fort: »Als Bas-Tyra nach Krondor kam, trug er den Erlaß des Königs bei sich, der ihn zum Herrscher von Krondor mit aller Macht des Vizekönigs ernannte. Prinz Erland und seine Familie wurden im Palast gefangengesetzt, wenngleich Guy das ›Schutzhaft‹ nennt. Dann stürzte sich Guy auf die Stadt. Preßpatrouillen zogen am Meer entlang, und es gibt jetzt viele Männer, die in Jessups Flotte segeln, ohne daß ihre Frauen und ihre Kinder wissen, was aus ihrem alten Papa geworden ist. Seit damals verschwindet einfach jeder, der etwas gegen den Vizekönig oder den König verlauten läßt, denn Guy hat eine Geheimpolizei, die an jeder Tür der Stadt lauscht.

Jedes Jahr werden die Steuern erhöht, um die Kosten für den Krieg aufzubringen, und der Handel trocknet langsam aus. Der läuft nur noch für diejenigen, die an die Armee verkaufen, und sie werden mit wertlosen Scheinchen bezahlt. Es sind harte Zeiten, und der Vizekönig unternimmt nichts, um sie leichter zu machen. Essen ist knapp, und es gibt nur wenig Geld, um für das zu zahlen, was es noch gibt. Viele Bauern haben ihre Höfe an die Steuern verloren, und jetzt liegt das Land brach, weil niemand da ist, der es bebaut. Die Bauern ziehen in die Stadt, wo die Bevölkerung immer mehr zunimmt. Die meisten jungen Männer sind in der Armee oder dienen bei der Flotte.

Gebt acht, daß ihr nicht von den Wachen herausgepickt werdet, aus welchem Grund auch immer, und hütet euch vor den Preßpatrouillen.

Aber trotzdem war hier einiges los«, berichtete Lucas dann kichernd weiter, »als Prinz Arutha nach Krondor gekommen ist.«

»Borrics Sohn? Er ist in der Stadt?« fragte Laurie.

Lucas’ Augen blinzelten vergnügt. »Nicht mehr.« Wieder kicherte er. »Im letzten Winter segelte der Prinz frech wie Oskar in den Hafen von Krondor. Er muß die Straße der Finsternis im Winter durchquert haben, andernfalls hätte er die Stadt niemals zu dieser Zeit erreicht.« Schnell erzählte er ihnen von Aruthas und Anitas Flucht.

»Sind sie nach Crydee zurückgekehrt?« wollte Laurie wissen. Lucas nickte. »Ein Händler, der vor einer Woche aus Carse kam, war randvoll mit Neuigkeiten über dieses und jenes. Unter anderem erzählte er, daß ein paar Tsuranis sich um Jonril gesammelt hätten. Der Prinz von Crydee ist bereit, der Garnison zu Hilfe zu kommen, wenn es erforderlich wird. Also muß Arutha zurückgekommen sein.«

»Bei dieser Neuigkeit muß Guy dem Platzen nahe gewesen sein«, meinte Laurie.

Lucas’ Lächeln verging. »War er auch, Laurie. Er hatte Prinz Erland ins Verließ werfen lassen, damit er ihm die Erlaubnis erteilen würde, Anita zu heiraten. Nachdem er von Anitas Flucht gehört hatte, hielt er ihn weiterhin dort gefangen. Ich vermute, er hoffte, das Mädchen würde lieber zurückkommen, als seinen Vater in der feuchten Zelle sitzen zu lassen, aber er hat sich geirrt. Jetzt geht die Kunde, daß der Prinz dem Tode durch Kälte nahe ist. Deshalb ist die Stadt auch in einem solchen Zustand. Niemand weiß, was geschehen wird, wenn Erland stirbt. Er ist beliebt, und es könnte Ärger geben.« Laurie schaute Lucas fragend an. »Keinen Aufstand«, erklärte der. »Dazu sind wir zu niedergeschlagen. Aber ein paar von Guys Wachtposten erscheinen vielleicht nicht zur Musterung, und es könnte beschwerlich für die Garnison und den Palast werden, Vorräte zu bekommen. Ich möchte auch nicht der Steuereintreiber des Vizekönigs sein, wenn der das nächste Mal ms Armenviertel geschickt wird.«

Laurie überdachte, was er gehört hatte. »Unser Ziel ist im Osten. Wie ist der Zustand der Straße?«

Lucas schüttelte langsam den Kopf. »Es sind immer noch Leute unterwegs. Wenn ihr erst einmal am Finstermoor vorüber seid, solltet ihr kaum noch Probleme haben. Wir haben gehört, daß die Dinge im Osten wieder so sind, wie sie waren. Trotzdem würde ich mich vorsichtig bewegen.«

»Werden wir Schwierigkeiten haben, die Stadt zu verlassen?« erkundigte sich Kasumi.

»Das Nordtor ist immer noch die beste Möglichkeit. Wie immer ist es unterbemannt. Gegen eine geringe Gebühr würden die Spötter euch sicher hindurchbringen.«

»Spötter?« fragte der Soldat.

Lucas zog überrascht die Brauen hoch. »Ihr kommt wirklich von weit her. Die Gilde der Diebe.

Sie beherrschen das Armenviertel immer noch, und der Aufrechte Mann hat nichts von seinem Einfluß auf Händler und Reisende eingebüßt, vor allem nicht an den Docks. Das Gebiet der Lagerhäuser ist ihre zweite Heimat. Es kommt gleich nach dem Armenviertel. Sie können euch hinausbringen, wenn ihr irgendwelche Probleme am Tor haben solltet.«

»Wir werden das nicht vergessen, Lucas. Was ist aus deiner Familie geworden? Ich habe niemanden von ihnen gesehen.«

Lucas schien zu schrumpfen. »Meine Frau ist tot, Laurie. Sie ist vor einem Jahr am Fieber gestorben. Meine Söhne sind beide in der Armee. Ich habe im letzten Jahr nur wenig von ihnen gehört. Als ich das letzte Mal von ihnen Nachricht erhielt, befanden sie sich im Norden bei Lord Borric und Brucal.

Die Stadt ist voll von Kriegsveteranen. Überall kann man sie sehen. Es sind die mit den fehlenden Gliedern oder mit den blinden Augen. Aber immer tragen sie ihre alte Rüstung. Sie sind in der Tat ein trauriger Anblick.« Ein sehnsüchtiger Ausdruck trat in seine Augen. »Ich hoffe nur, daß meine Jungs nicht so enden.«

Laurie und Kasumi sagten nichts. Lucas erwachte aus seinen Träumen. »Ich muß wieder nach unten. In vier Stunden ist das Essen fertig. Es ist nicht mehr so wie das, was ich früher serviert habe.« Als der Wirt sich zum Gehen wandte, sagte er: »Wenn ihr Kontakt zu den Spöttern aufnehmen wollt, laßt es mich wissen.«

Nachdem er gegangen war, meinte Kasumi: »Es fällt schwer, den Krieg noch immer als glorreich anzusehen, Laurie, wenn man dein Heimatland kennt.«

Laurie nickte.

 

Das Lagerhaus war dunkel und staubig. Abgesehen von Laurie, Kasumi und zwei frischen Pferden war es leer. Sie hatten die vergangene Nacht im Bunten Papagei verbracht, hatten sich unter großen Kosten und Mühen die beiden neuen Reittiere besorgt und dann versucht, die Stadt zu verlassen. Als sie die Stadttore erreichten, waren sie von einer Gruppe von Bas-Tyras Wachen aufgehalten worden. Als es deutlich wurde, daß die Männer sie nicht ohne Ärger ziehen lassen würden, hatten sich Laurie und Kasumi ihren Weg freigeschlagen. Eine wahnsinnige Jagd durch die Stadt war gefolgt. Im Armenviertel hatten sie ihre Verfolger abgehängt und waren zum Bunten Papagel zurückgekehrt. Lucas hatte den Aufrechten Mann benachrichtigt, und jetzt warteten sie hier auf einen Dieb, der sie aus der Stadt führen sollte.

Ein einzelner Pfiff durchbrach die Stille, und augenblicklich hatten Laurie und Kasumi ihre Schwerter in den Händen. Ein hohes Kichern begrüßte sie, und eine kleine Gestalt fiel von oben vor ihre Füße. Im Dunkeln war es schwer zu sehen, woher sie kam, aber Laurie vermutete, daß ihr Besucher sich schon seit geraumer Zeit im Gebälk versteckt gehalten hatte.

Die Gestalt trat vor. Im schwachen Licht konnten sie erkennen, daß es ein Knabe von nicht mehr als dreizehn Jahren war. »Mutter gibt eine Gesellschaft«, sagte der Neuankömmling.

»Und alle werden eine schöne Zeit verbringen«, erwiderte Laurie.

»Dann seid Ihr also die Reisenden.«

»Bist du der Führer?« fragte Kasumi und versuchte gar nicht erst, die Überraschung in seiner Stimme zu unterdrücken.

Herausfordernd antwortete der Junge: »Richtig, Jimmy die Hand ist Euer Führer. Und einen besseren findet man in ganz Krondor nicht.«

»Was müssen wir tun?« wollte Laurie wissen.

»Zuerst ist da mal die Bezahlung. Kostet hundert Taler für jeden.«

Wortlos zog Laurie ein paar kleine Juwelen hervor und reichte sie ihm. »Gehen die auch?«

Der Knabe wandte sich der Tür zu und öffnete sie einen Spaltbreit. Im Mondschein inspizierte er mit fachmännischen Augen die Steine und kehrte dann zu den beiden Flüchtlingen zurück. »Geht in Ordnung. Noch weitere einhundert, und Ihr könnt das hier haben.« Er bot ihnen ein Stück Pergament an.

Laurie nahm es entgegen, konnte aber im schwachen Licht nicht erkennen, was darauf geschrieben stand. »Was ist das?«

Jimmy kicherte. »Ein königlicher Erlaß, der es seinem Träger gestattet, auf der königlichen Hochstraße zu reisen.«

»Ist der echt?« wollte der Troubadour wissen.

»Mein Wort darauf. Ich habe es selbst erst heute morgen einem Händler aus Ludland abgenommen. Gilt noch einen ganzen Monat.«

»Abgemacht«, erklärte Laurie und gab dem Knaben einen weiteren Edelstein.

Als der die Juwelen sicher in seiner Tasche verstaut hatte, sagte der Dieb: »Wir werden bald großen Lärm am Tor hören. Ein paar der Jungs lenken die Wachen ab. Wenn alles wild durcheinander ist, schleichen wir uns vorbei.«

Er kehrte zur Tür zurück und schaute ohne weiteren Kommentar hinaus. Während sie warteten, frage Kasumi leise: »Können wir ihm trauen?«

»Nein, aber uns bleibt keine andere Wahl. Wenn es für den Aufrechten Mann profitabler ist, uns hereinzulegen, dann wird er das vielleicht tun. Aber die Spötter lieben die Wachen nicht gerade, und jetzt noch weniger als sonst, wenn man Lucas Glauben schenken darf. Also ist es unwahrscheinlich. Trotzdem, sei auf der Hut.«

Die Zeit zog sich endlos dahin. Dann konnten sie plötzlich Rufe vernehmen. Jimmy stieß einen scharfen Pfiff aus, der von draußen beantwortet wurde. »Es wird Zeit«, erklärte er und schlüpfte auch schon durch die Tür.

Laurie und Kasumi führten ihre Pferde hinter ihm her. »Folgt mir, schnell und dicht«, sagte ihr kleiner Führer.

Sie umrundeten eine Ecke des Gebäudes und konnten das Nordtor sehen. Eine Gruppe von Männern war in einen Kampf verwickelt. Viele von ihnen schienen Seeleute von den Docks zu sein.

Die Wachen taten ihr Bestes, um die Ordnung wiederherzustellen, aber jedesmal, wenn einer einen Kämpfenden aus dem Knäuel zog, tauchte aus dem Schatten am Tor ein anderer auf und kämpfte für ihn weiter. Nach ein paar Minuten waren alle Posten damit beschäftigt, den Kampf zu beenden, und Jimmy sagte: »Jetzt!«

Mit den Reisenden dicht auf den Fersen, löste er sich vom Gebäude und schoß zu der Mauer, die dem Haus der Wachen am Tor am nächsten war. Sie hielten sich im Schatten der Mauer. Das Hufgeklapper ihrer Pferde wurde von dem Lärm des Kampfes überdeckt. Als sie ganz nah am Tor waren, konnten sie einen einsamen Wachtposten entdecken. Er stand auf der anderen Seite, und so hatten sie ihn von ihrem vorherigen Aufenthaltsort aus nicht sehen können.

Laurie packte Jimmy an der Schulter. »Mit dem müssen wir schnell fertig werden.«

»Nein«, widersprach Jimmy. »Wenn die Waffen gezogen werden, dann verlassen die Posten den Spaß hier, als wäre es ein brennendes Hurenhaus. Überlaßt den einfach mir.«

Jimmy sprang vor und lief zu dem Posten. Als der seinen Speer ausstreckte und »Halt!« rief, trat Jimmy ihn oberhalb des Stiefels kräftig ans Bein. Der Mann heulte auf. Dann sah er seinen kleinen Angreifer mit wutverzerrtem Gesicht an. »Du.«

Jimmy streckte ihm die Zunge heraus und rannte auf den Hafen zu. Wütend schickte sich der Posten an, ihn zu verfolgen, und die beiden Reisenden schlüpften schnell durch das Tor. Kaum befanden sie sich außerhalb der Stadt, da bestiegen sie hastig ihre Pferde und ritten davon. Noch aus der Ferne konnten sie den Lärm des Kampfes hören.

 

Das Schiff stemmte sich gegen die Wellen, während die Mannschaft die Segel reffte. Laurie und Kasumi standen an Deck und betrachteten die Türmchen und Zinnen von Rillanon, als das Schiff in den Hafen einlief. »Eine fabelhafte Stadt«, bemerkte der einstige Tsurani-Offizier. »Nicht so groß wie die Städte meiner Heimat, aber so anders. All diese winzigen Finger aus Stein und die Farben der Banner lassen sie wie eine Stadt aus einem Märchen aussehen.«

»Merkwürdig«, sagte Laurie. »Pug und ich hatten dasselbe Gefühl, als wir Jamar zum erstenmal gesehen haben. Ich nehme an, das liegt daran, daß sie so verschieden voneinander sind.«

Sie standen in der kalten Brise an Deck und spürten doch immer noch die Wärme der Sonne.

Beide trugen die feinsten Kleider, die sie in Salador hatten kaufen können, denn sie wollten bei Hofe einen guten Eindruck machen. Sie wußten, daß sie kaum Chancen haben würden, vom König empfangen zu werden, wenn sie wie einfache Landstreicher aussehen würden.

Der Kapitän des Schiffes gab Anweisung, die letzten Segel einzuholen, und einen Augenblick später ging das Schiff an den Docks vor Anker. Taue wurden den Männern zugeworfen, die am Kai warteten, und schnell war das Schiff festgemacht.

Sobald es möglich war, gingen die beiden Reisenden an Land und durch die Stadt. Rillanon, die berühmte ehemalige Hauptstadt des Königreichs der Inseln, leuchtete bunt im Sonnenschein. Aber eine unterschwellige Spannung erfüllte die Atmosphäre in den Straßen und auf den Märkten. Wo sie auch hinkamen, sprachen die Menschen in gedämpften Tönen, als fürchteten sie, daß jemand sie belauschen könnte. Selbst die Händler in ihren Ständen schienen ihre Waren nur halbherzig anzubieten.

 

Es war fast Mittag, und ohne sich erst eine Unterkunft zu suchen, begaben sie sich direkt zum Palast. Als sie das Haupttor erreichten, fragte ein Offizier in der purpur- und goldfarbenen Livree des königlichen Haushalts nach ihrem Anliegen.

Laurie erklärte: »Wir bringen Nachrichten von größter Wichtigkeit für den König. Es geht um den Krieg.«

Der Offizier dachte nach. Sie waren gut genug gekleidet und schienen keine von den üblichen Wahnsinnigen zu sein, die das Verhängnis vorhersagten. Auch keine Propheten einer namenlosen Wahrheit. Andererseits waren sie aber auch keine Beamten oder Mitglieder der Armee. Er entschied sich für den Weg, der zu allen Zeiten und in allen Nationen am häufigsten eingeschlagen wird: sie an eine höhergestellte Persönlichkeit weiterzureichen.

Ein Wachtposten begleitete sie zum Büro eines Helfers des königlichen Kanzlers. Hier mußten sie eine halbe Stunde warten, ehe der Assistent bereit war, sie zu empfangen. Sie betraten das Büro und fanden sich dem Haushofmeister des königlichen Haushalts gegenüber. Er war ein wichtigtuerischer kleiner Mann mit dickem Bauch, und er sprach immer keuchend. »Was haben die Herren für einen Wunsch?« erkundigte er sich.

»Wir bringen Kunde zum König, den Krieg betreffend«, antwortete Laurie.

»Oh?« schnüffelte er. »Und weshalb werden diese Dokumente oder Nachrichten oder was immer durch Euch geschickt wird, nicht durchs Militär überbracht?«

Kasumi, der offensichtlich vom langen Warten jetzt, wo sie bereits im Palast waren, verärgert war, sagte: »Laßt uns mit jemandem sprechen, der uns zum König bringen kann.«

Der Haushofmeister des königlichen Haushalts sah wütend aus. »Ich bin Baron Gray. Ich bin es, mit dem Ihr sprechen werdet, Mann! Und ich hätte große Lust, die Wachen aufzufordern, Euch auf die Straße hinauszuwerfen. Seine Majestät kann sich nicht mit jedem Scharlatan belasten, der um eine Audienz bittet. Ich bin es, den Ihr zufriedenstellen müßt, und das habt Ihr nicht getan.«

Kasumi trat vor und packte den Mann vor ihm an seiner Tunika. »Und ich bin Kasumi von den Shinzawai. Mein Vater ist Kamatsu, Herr der Shinzawai, Kriegsherr des Kanazawai Clans. Ich will Euren König sprechen!«

Lord Gray wurde sichtbar blasser. Verzweifelt zerrte er an Kasumis Hand und versuchte zu sprechen. Sein Entsetzen darüber, was er gerade gehört hatte und was er empfand, als er so behandelt wurde, war zu groß. Es war alles zu viel für ihn. Er konnte nicht sprechen. Er nickte heftig, bis Kasumi ihn losließ.

Während er seine Tunika glattstrich, sagte der Mann: »Der königliche Kanzler wird unterrichtet werden – unverzüglich.«

Er ging zur Tür. Laurie sah ihm nach, falls er die Wachen in der Annahme rufen sollte, sie wären wahnsinnig. Was immer der Mann sonst dachte: Kasumis Verhalten hatte ihn überzeugt, daß er etwas ganz anderes war als alles, was er bisher hier gesehen hatte. Ein Bote wurde ausgesandt, und einige Minuten später betrat ein ältlicher Mann den Raum.

Er fragte bloß: »Was gibt es?«

»Euer Gnaden«, erklärte der Haushofmeister, »ich glaube, es wäre das beste, wenn Ihr selbst mit diesen Männern sprechen und entscheiden würdet, ob Seine Majestät sie empfangen soll.«

Der Mann wandte sich um, um die beiden anderen Männer im Büro zu mustern. »Ich bin Herzog Caldric, der königliche Kanzler. Welchen Grund habt Ihr, um Seine Majestät zu sehen?«

Kasumi antwortete: »Ich bringe eine Nachricht vom Kaiser von Tsuranuanni.«

 

Der König saß auf einem Balkon, von dem aus er den Hafen überblicken konnte. Unter ihm strömte ein Bergbach direkt vor dem Palast. Er war Teil der ursprünglichen Verteidigung, wurde aber schon lange nicht mehr als Burggraben benutzt. Graziöse Brücken spannten sich darüber, auf denen Menschen von einer Seite des Flusses zur anderen hinüberschritten.

König Rodric saß da und hörte scheinbar aufmerksam zu, was Kasumi sagte. Geistesabwesend spielte er mit einer goldenen Kugel in seiner rechten Hand, während Kasumi die Friedensbotschaft des Kaisers bis ins Detail überbrachte.

Nachdem er geendet hatte, war Rodric noch eine Weile stumm, als wollte er abwägen, was er gehört hatte. Kasumi überreichte Lord Caldric einige Dokumente und fügte nach einiger Zeit des Schweigens hinzu: »Die Vorschläge des Kaisers werden auf diesen Papieren genauestens erklärt, Eure Majestät. Wenn Ihr sie bitte nach Belieben studieren möchtet. Ich werde warten, bis es Euch genehm ist, und erst dann aufbrechen, um Eure Antwort zu überbringen.«

Noch immer schwieg Rodric, und die in der Nähe versammelten Höflinge schauten einander nervös an. Kasumi wollte schon wieder sprechen, als der König sagte: »Es amüsiert mich immer, wenn ich meine kleinen Untertanen beobachte, wie sie durch die Stadt eilen. Wie kleine Ameisen.

Ich frage mich oft, was sie wohl denken, während sie ihr eigenes, kleines Leben leben.« Er wandte sich um, um die beiden Boten anzusehen. »Wißt ihr, ich könnte den Befehl geben, irgendeinen von ihnen zu töten. Könnte einfach von hier oben einen auswählen. Ich müßte bloß zu meinen Wachen sagen: ›Seht Ihr den Kerl mit der blauen Kappe? Geht und schlagt ihm den Kopf ab‹, und sie würden es tun, wißt Ihr. Weil ich der König bin.«

Laurie fühlte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hinablief. Das war ja noch schlimmer als alles, was er sich vorgestellt hatte. Der König schien kein einziges Wort von dem gehört zu haben, was sie gesagt hatten. Leise und sehr ruhig sagte Kasumi in der Tsurani-Sprache: »Wenn wir keinen Erfolg haben, muß einer von uns meinen Vater benachrichtigen.«

Bei diesen Worten fuhr der Kopf des Königs auf. Seine Augen wurden rund und groß, und mit bebender Stimme fragte er: »Was hat das zu bedeuten?« Sein Ton wurde schrill und lauter. »Ich dulde nicht, daß jemand flüstert!« Sein Gesicht nahm einen wilden Ausdruck an. »Wißt Ihr, sie flüstern immer über mich, die Ungetreuen. Aber ich weiß, wer sie sind, und ich werde sie noch auf Knien vor mir liegen sehen. Jawohl, das werde ich. Der Verräter Kerus hat auch vor mir auf den Knien gelegen, ehe ich ihn hängen ließ. Ich hätte auch seine Familie hängen lassen, wenn sie nicht nach Kesh geflohen wäre.« Dann musterte er Kasumi. »Ihr glaubt wohl, Ihr könnt mich mit Eurer merkwürdigen Geschichte und diesen sogenannten Papieren hereinlegen. Jeder Narr würde diese Verkleidung durchschauen. Ihr seid Spione!«

Herzog Caldric schien schmerzerfüllt. Er versuchte, den König zu beruhigen. Ein paar Wachen standen in der Nähe. Sie verlagerten unruhig ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, denn es behagte ihnen nicht, was sie da hörten.

Der König stieß den Herzog zurück. Sein Ton klang jetzt fast hysterisch. »Ihr seid Agenten dieses Verräters Borric. Er und mein Onkel haben sich verschworen, um mir den Thron zu nehmen.

Aber dem habe ich ein Ende gemacht. Mein Onkel Erland ist gestorben, im…« Er machte eine kurze Pause und war wie verwirrt. »Nein, ich meine, er ist krank. Deshalb wurde mein treuer Herzog Guy aus Bas-Tyra gesandt, um über Krondor zu herrschen, bis es meinem geliebten Onkel wieder bessergeht…« Seine Augen schienen einen Augenblick lang klar zu werden. Dann sagte er: »Ich fühle mich nicht wohl. Bitte entschuldigt mich. Ich werde morgen wieder zu Euch sprechen.« Er erhob sich. Nachdem er einen Schritt gemacht hatte, drehte er sich um und sah Laurie und Kasumi an. »Weshalb wolltet Ihr mich gleich wieder sprechen? Ach ja, Frieden. Ja, das ist gut. Dieser Krieg ist eine schreckliche Sache. Wir müssen ihn beenden. Wir müssen wieder mit dem Aufbau beginnen.«

Ein Page ergriff den Arm des Königs und führte ihn fort. Der königliche Kanzler sagte: »Folgt mir und sagt nichts.«

Er eilte mit ihnen durch den Palast und führte sie zu einem Raum, vor dessen Tür zwei Wachen standen. Einer der Männer öffnete ihnen, und sie traten ein. Innen fanden sie ein Schlafzimmer mit zwei großen Betten und einem Tisch mit Stühlen in der Ecke. Der Kanzler sagte: »Ihr kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Unser König ist, wie Ihr zweifellos bemerkt haben werdet, ein kranker Mann, und ich fürchte, er wird sich auch niemals mehr erholen. Ich hoffe, daß er morgen in der Lage ist, Eure Botschaft zu verstehen. Bitte, bleibt, wohin man Euch schickt. Zu essen wird Euch gebracht werden.«

Er trat zur Tür hinüber und erklärte noch, ehe er ging: »Also dann, bis morgen.«

 

Mitten in der Nacht riß ein Schrei sie aus dem Schlaf. Hastig sprang Laurie auf und ging zum Fenster. Als er durch die Vorhänge spähte, konnte er eine einsame Gestalt auf dem Balkon unter sich erkennen. In seinem Nachthemd stand König Rodric da und stocherte mit seinem Schwert in den Büschen herum. Durchs Fenster sah Laurie, wie Kasumi sich ihm näherte. Von unten konnte er den König schreien hören: »Mörder! Sie sind gekommen!« Wachen eilten herbei und durchsuchten die Büsche, während Pagen des Hofes den kreischenden Monarchen in seine Gemächer zurückgeleiteten.

Kasumi sagte: »Wirklich, die Götter haben ihn heimgesucht. Sie müssen eure Nation wahrhaft hassen.«

Laurie widersprach. »Ich fürchte, Freund Kasumi, daß die Götter nur wenig damit zu tun haben.

Gerade jetzt, glaube ich, sollten wir versuchen, einen Weg hier heraus zu finden. Ich habe das Gefühl, daß Seine Königliche Majestät nicht sehr gut geeignet ist, einen Friedensvertrag zu schließen. Ich glaube, wir ziehen besser westwärts und sprechen mit Herzog Borric.«

»Wird er denn in der Lage sein, diesen Krieg zu beenden?«

Laurie ging zu dem Stuhl hinüber, über dem seine Kleider lagen. Er nahm seine Tunika auf. »Ich hoffe es. Wenn die Herren hier zusehen können, wie sich der König aufführt, ohne etwas zu unternehmen, dann werden wir bald den Bürgerkrieg haben. Es ist besser, einen Krieg abzuschließen, ehe man einen zweiten anfängt.«

Schnell kleideten sie sich an. »Hoffentlich werden wir ein Schiff finden, mit dem wir bei der Morgenflut auslaufen können«, meinte Laurie. »Wenn der König befiehlt, den Hafen zu schließen, sitzen wir in der Falle. Es ist eine weite Strecke zum Schwimmen.«

Als sie ihre Habe zusammensuchten, öffnete sich die Tür, und der königliche Kanzler trat ein. Er blieb stehen, als er sie vollständig angekleidet sah. »Gut«, sagte er und schloß schnell die Tür hinter sich. »Ihr habt genau soviel Verstand, wie ich es von Euch erhofft hatte. Der König hat befohlen, die Spione zu töten.«

Laurie wollte es nicht glauben. »Er hält uns für Spione?«

Herzog Caldric ließ sich in einen der Sessel am Tisch fallen. Deutlich zeichnete sich die Müdigkeit auf seinem Gesicht ab. »Wer weiß schon, was Seine Majestät denkt? Es gibt einige unter uns, die versuchen, seine gefährlicheren Impulse zu unterdrücken, aber das wird von Tag zu Tag schwieriger. Die Krankheit, die in ihm steckt, ist entsetzlich anzusehen. Vor Jahren schon war er ein ungestümer Mann, das ist richtig, aber seine Pläne wiesen eine gewisse irrsinnige Brillanz auf. Wir hier hätten die größte Nation in Midkemia werden können. Jetzt gibt es am Hofe viele, die ihn ausnutzen und die seine Ängste dazu benutzen, ihre eigenen Pläne durchzusetzen. Ich fürchte, daß auch ich bald als Verräter gebrandmarkt und wie die anderen hingerichtet werde.«

Kasumi schnallte sein Schwert um. »Aber warum dann bleiben, Euer Gnaden? Wenn das wahr ist, warum kommt Ihr dann nicht mit uns zu Herzog Borric?«

Der Herzog sah den älteren Sohn der Shinzawai an. »Ich bin ein Edler dieses Königreichs, und er ist mein König. Ich muß tun, was immer ich kann, um ihn daran zu hindern, dem Königreich zu schaden, selbst wenn es mein Leben kosten sollte. Aber ich kann keine Waffe gegen ihn erheben und auch denjenigen nicht helfen, die das tun. Ich weiß nicht, wie das in Eurer Welt ist, Tsurani, aber ich muß hier bleiben. Er ist mein König.«

Kasumi nickte. »Ich verstehe. An Eurer Stelle würde ich genauso handeln. Ihr seid ein tapferer Mann, Herzog Caldric.«

Der Herzog erhob sich. »Ich bin ein müder Mann. Der König hat ein starkes Getränk aus meiner Hand zu sich genommen. Er will sich von niemandem sonst etwas geben lassen, denn er fürchtet Gift. Ich habe ihm vom Arzt etwas zum Schlafen verordnen lassen. Ihr solltet schon auf See sein, wenn er erwacht. Ich weiß nicht, ob er sich an Euren Besuch erinnern wird. Aber seid versichert, daß irgend jemand ihm davon berichten wird. Also haltet Euch nicht unnötig lange auf. Begebt Euch direkt zu Lord Borric und erzählt ihm, was geschehen ist.«

»Ist Prinz Erland wirklich tot?« wollte Laurie noch wissen.

»Ja. Die Nachricht erreichte uns vor einer Woche. Aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit hat er die Kälte im Verließ nicht ertragen können. Jetzt ist Borric Thronerbe. Rodric hat nie geheiratet: Seine Furcht vor anderen steckt zu tief in ihm. Das Schicksal des Königreiches liegt in seinen Händen. Berichtet das Borric.«

Sie traten zur Tür. Ehe der Herzog sie öffnete, sprach er: »Sagt ihm auch, daß ich höchstwahrscheinlich tot sein werde, wenn er nach Rillanon kommt. Und es wird gut sein, denn ich müßte mich gegen jeden stellen, der eine Waffe gegen das Königshaus erhebt.«

Ehe Laurie oder Kasumi noch etwas antworten konnten, öffnete er die Tür. Zwei Wachen standen davor. Der Herzog befahl ihnen, Laurie und Kasumi zu den Docks zu geleiten. »Die Königliche Schwalbe liegt im Hafen vor Anker. Übergebt das dem Kapitän.« Er hielt Laurie ein Stück Papier entgegen. »Das ist ein königlicher Erlaß. Er erhält den Befehl, Euch nach Salador zu bringen.« Dann reichte er ihm ein zweites Papier. »Dieses hier enthält den Befehl an jedes Mitglied einer Armee des Königreiches, Euch bei Eurer Reise weiterzuhelfen.« Sie reichten sich die Hand.

Dann folgten die beiden Boten den Wachen den Flur entlang. Als sie gingen, sah Laurie sich über die Schulter noch einmal nach Caldric um. Der alte Herzog wartete, gebeugt und müde. Tiefe Falten von Kummer, Sorge und Angst waren in sein Gesicht eingegraben. Als sie um eine Ecke bogen und den Herzog aus den Augen verloren hatten, sagte sich Laurie, daß er um nichts in der Welt den Platz mit dem alten Mann tauschen wollte.

 

Die Pferde waren schaumbedeckt, als die Reiter sie den Hügel hinaufpeitschten. Es war das letzte Stück ihrer Reise zu Lord Borric, die sie vor mehr als einem Monat angetreten hatten, und das Ende war in Sicht. Die Königliche Schwalbe hatte sie eiligst nach Salador getragen, wo sie sofort gen Westen aufgebrochen waren. Sie hatten unterwegs nur wenig geschlafen, hatten frische Pferde gekauft oder gefordert, wann immer es möglich gewesen war. Die königliche Vollmacht hatte ihnen dabei gute Dienste erwiesen. Laurie war sich nicht sicher, aber er vermutete, daß sie die Strecke schneller zurückgelegt hatten als irgend jemand vor ihnen.

Mehrere Male waren sie von Soldaten angehalten worden, nachdem sie Zun verlassen hatten.

Jedesmal hatten sie die Vollmacht des Kanzlers präsentiert und durften weiterziehen. Jetzt näherten sie sich dem Lager des Herzogs.

Der Kriegsherr der Tsuranis hatte seine Großoffensive begonnen. Die Streitkräfte des Königreichs hatten ihm eine Woche lang standgehalten. Dann waren sie zusammengebrochen, als zehntausend frische Tsurani-Soldaten sich über sie ergossen hatten. Die Schlacht war bitter und hart gewesen und hatte drei volle Tage gedauert. Schließlich wurde die Armee des Königreichs zurückgetrieben. Als die Schlacht beendet war, war ein großer Teil der Front gefallen, und die Tsuranis hatten aus dem Nördlichen Paß heraus einen großen Keil getrieben. Jetzt waren die Elben und die Zwerge, ebenso wie die Burgen der Fernen Küste, vom Hauptteil der Armee des Königreichs getrennt. Es gab keinerlei Verbindung mehr zwischen ihnen, denn die Tauben, die sonst die Nachrichten überbracht hatten, waren getötet worden, als das alte Lager überrannt worden war. Das Schicksal der anderen Frontlinien war unbekannt.

Die Armeen des Westens gruppierten sich neu, und es dauerte einige Zeit, bis Laurie und Kasumi das Hauptquartier ausfindig gemacht hatten. Als sie zum großen Zelt des Kommandierenden ritten, bemerkten sie auf allen Seiten Zeichen einer bitteren Niederlage. Es war der schlimmste Schlag für das Königreich, den es in diesem Krieg hatte einstecken müssen. Wohin sie auch schauten, sie sahen verwundete oder kranke Männer, und diejenigen, die keine Wunden aufwiesen, schauten niedergeschlagen aus.

Ein Hauptmann der Wache inspizierte ihre Vollmacht und gab ihnen dann einen Posten mit, der sie zum Zelt des Herzogs führte. Sie erreichten das große Kommando-Zelt, und ein Lakai nahm ihnen ihre Pferde ab, während der Wachtposten hineinging. Einen Augenblick später trat ein großer, junger Mann mit blondem Bart und im Wappenrock von Crydee heraus. Hinter ihm erschien ein untersetzter Mann mit grauem Bart – seiner Kleidung nach ein Magier –, und noch ein weiterer großer folgte, mit einer zackigen Narbe im Gesicht. Laurie fragte sich, ob sie alte Freunde sein könnten, die Pug erwähnt hatte. Er richtete seine Aufmerksamkeit dann aber schnell auf den jungen Offizier, der vor ihm stehenblieb. »Ich bringe eine Nachricht für Lord Borric.«

Der junge Mann lächelte ein bitteres Lächeln. »Ihr könnt mir die Nachricht geben, mein Herr. Ich bin Lyam, sein Sohn.«

»Ich möchte nicht unhöflich sein, Hoheit, aber ich muß mit dem Herzog persönlich sprechen. Das hat mir Herzog Caldric ausdrücklich aufgetragen.«

Als Laurie den Namen des königlichen Kanzlers erwähnte, wechselte Lyam schnelle Blicke mit seinen Kameraden. Dann hielt er die Zeltklappe beiseite. Laurie und Kasumi traten ein, die anderen folgten. Im Zelt brannte ein kleines Kohlebecken, und auf einem großen Tisch lagen unzählige Karten. Lyam führte sie in einen anderen Teil, der durch einen Vorhang abgetrennt war. Er zog ihn zurück, und sie sahen einen Mann auf seiner Schlafstatt liegen.

Es war ein großer Mann mit dunklem, grau durchwirkten! Haar. Sein Gesicht war eingefallen, blutleer, seine Lippen fast blau. Sein Atem ging stoßweise, laut rasselnd, während er schlief. Er trug saubere Nachtkleider, aber unter dem losen Kragen konnte man schwere Verbände sehen.

Lyam ließ den Vorhang zurückfallen, als ein anderer Mann das Zelt betrat. Er war alt, hatte eine fast weiße Mähne, hielt sich aber immer noch aufrecht und hatte sehr breite Schultern. Leise sagte er: »Was gibt es?«

Lyam erwiderte: »Diese Männer bringen Nachricht für Vater, von Caldric.«

Der alte Krieger streckte die Hand aus. »Gebt sie mir.«

Als Laurie zögerte, fuhr der Mann ihn an: »Verdammt, Kerl, ich bin Brucal. Jetzt, wo Borric verwundet ist, bin ich der Kommandeur der Armeen des Westens.«

»Ich habe keine geschriebenen Nachrichten, Euer Gnaden. Herzog Caldric hat gesagt, ich soll meinen Begleiter vorstellen. Dies ist Kasumi von den Shinzawai, Abgesandter des Kaisers von Tsuranuanni, der dem König ein Friedensangebot überbringen soll.«

»Wird es also endlich Frieden geben?« meinte Lyam.

Laurie schüttelte den Kopf. »Leider nein. Der Herzog hat mir auch aufgetragen, folgendes zu sagen: Der König ist wahnsinnig, und der Herzog von Bas-Tyra hat den Prinzen Erland getötet. Er fürchtet, nur Lord Borric kann das Königreich noch retten.«

Brucal war sichtlich erschüttert von diesen Nachrichten. An Lyam gewandt, sagte er leise: »Jetzt wissen wir, daß die Gerüchte wahr waren. Erland war tatsächlich Guys Gefangener. Erland ist tot.

Ich kann es kaum glauben.« Er schüttelte sein Entsetzen ab und sagte: »Lyam, ich weiß, daß du jetzt an deinen Vater denkst, aber du mußt auch folgendes beachten: Dein Vater ist dem Tode nahe. Bald wirst du Herzog von Crydee sein. Und wenn Erland tot ist, dann wirst du damit auch der Thronerbe, so will es das Gesetz.«

Brucal ließ sich schwerfällig auf einen Stuhl neben dem Kartentisch fallen. »Das ist eine schwere Last, die dir da auferlegt wird, Lyam. Aber andere im Westen werden sich an dich als ihren Führer halten, so, wie sie sich einst an deinen Vater gehalten haben. Wenn es jemals Liebe zwischen den beiden Reichen gegeben hat, dann ist sie jetzt bis zum Zerreißen gespannt, jetzt, wo Guy auf dem Thron in Krondor sitzt. Nun können es alle klar sehen: Bas-Tyra will König werden, denn einem wahnsinnigen Rodric kann man den Thron nicht mehr lange überlassen.« Er musterte Lyam mit festem Blick. »Du wirst bald entscheiden müssen, was wir im Westen tun sollen. Dein Wort genügt, und wir haben den Bürgerkrieg.«