Fusion

Langbogen weinte stumm.

Am Rande des Elbenforstes stand der Jagdmeister von Crydee in einer Lichtung ganz allein über drei gefallene Elben gebeugt. Ihre leblosen Körper lagen am Boden, Arme und Beine in unmögliche Winkel gespreizt. Ihre hellen Gesichter waren von Blut bedeckt. Martin wußte, was der Tod für die Elben bedeutete, denn hier waren nur ein oder zwei Kinder in einer Familie pro Jahrhundert die Regel. Ein Gesicht kannte er gut. Es gehörte Algavin, Galains Kameraden aus seiner Jungenzeit. Er war noch keine dreißig Jahre alt, noch ein Kind, gemessen am Alter der Elben. Schritte hinter sich ließen Martin schnell die Tränen fortwischen. Dann nahm er seinen üblichen, gleichgültigen Ausdruck an. Er hörte Garret hinter sich sagen: »Da sind noch ein paar am Ende des Pfades, Jagdmeister. Die Tsuranis sind durch diesen Teil des Waldes wie ein übler Wind gerauscht.«

Martin nickte. Dann brach er wortlos auf, gefolgt von Garret. Trotz seiner Jugend war Garret Langbogens bester Spurenleser, und sie bewegten sich jetzt beide leichtfüßig den Weg entlang auf Elvandar zu. Nachdem sie vier Stunden lang gelaufen waren, überquerten sie den Fluß im Westen einer Enklave der Tsuranis. Als sie sich sicher im Wald der Elben befanden, begrüßte sie eine Stimme aus den Bäumen. »Gut gemacht, Martin Langbogen.«

Martin und Garret blieben stehen und warteten. Drei Elben tauchten scheinbar wie aus der Luft gegriffen zwischen den Bäumen auf. Galain und seine beiden Freunde näherten sich dem Jagdmeister und Garret. Martin deutete ganz leicht mit dem Kopf nach hinten zum Fluß, und Galain nickte. Das war alles, was nötig war, damit beide erkannten, daß der andere von Algavins Tod wußte. Garret bemerkte den Gedankenaustausch, obwohl er noch weit davon entfernt war, die Feinheiten im Umgang mit den Elben zu beherrschen.

»Tomas? Calin?« fragte Martin.

»Im Rat mit der Königin. Bringt Ihr Neuigkeiten?«

»Nachrichten von Prinz Arutha. Seid Ihr auf dem Weg zum Rat?«

Galain lächelte das elbische Halblächeln, das seinen ironischen Humor verriet. »Es ist uns aufgetragen worden, den Weg zu bewachen. Wir müssen noch eine Weile bleiben. Wir kommen, sobald die Zwerge den Fluß überqueren. Sie müssen jetzt jeden Augenblick auftauchen.«

Der Kommentar wurde von Martin nicht überhört. Er wünschte ihnen auf Wiedersehen und setzte seinen Weg nach Elvandar fort. Als er sich der Lichtung näherte, die die Baumstadt der Elben umgab, fragte er sich, warum Galain und die anderen jungen Elben vom Rate ausgeschlossen worden waren. Sie alle waren Tomas’ ständige Begleiter, seit er sich auf Dauer in Elvandar niedergelassen hatte. Martin war seit der Belagerung von Crydee nicht mehr dort gewesen. Er hatte aber in den vergangenen Jahren mit einigen der natalesischen Pfadfinder gesprochen, die die Botschaften vom Herzog nach Elvandar und Crydee brachten. Mehrmals hatte er sich mit dem Langen Leon und Grimsworth von Natal unterhalten. So verschlossen sie sonst auch waren, wenn sie sich nicht unter ihresgleichen befanden, so wenig hüteten sie sich vor Langbogen, denn im Jagdmeister von Crydee spürten sie einen verwandten Geist. Er war der einzige Mann außer den Pfadfindern von Natal, der Elvandar unaufgefordert betreten konnte. Die beiden natalesischen Pfadfinder hatten große Veränderungen am Hofe der Königin angedeutet, und Martin verspürte eine merkwürdige Unruhe.

Als sie sich laufend Elvandar näherten, sagte Garret: »Jagdmeister, schicken sie denn niemanden, der die Gefallenen holt?«

»Das ist nicht ihre Art. Der Forst wird sie zurücknehmen, denn die Elben glauben, daß der wahre Geist der Gefallenen jetzt schon auf den Gesegneten Inseln weilt.«

Bald darauf erreichten sie den Rand von Elvandar. Martin blieb stehen, als Garret vom Anblick der hohen Bäume gefesselt wurde. Die Spätnachmittagssonne warf lange Schatten durch den Wald, aber die hohen Stämme leuchteten schon in ihrem eigenen, märchenhaften Licht.

Martin ergriff Garret am Ellbogen und führte den staunenden Spurenleser sanft weiter.

Schließlich ließ er ihn bei einigen Elben zurück und setzte seinen Weg zum Hofe der Elbenkönigin allein fort. Er erreichte den Ring des Rates und trat ein, nachdem er die Königin gegrüßt hatte.

Aglaranna lächelte, als sie ihn sah. »Willkommen, Martin Langbogen. Es ist zu lange her, seit ihr das letzte Mal bei uns gewesen seid.«

Martin war zusammen mit den Kindern der Elben aufgewachsen. So war er besser als andere Männer in der Lage, seine Gefühle zu verbergen, wenn es nötig wurde. Aber als er jetzt Tomas erblickte, hätte er vor Überraschung fast einen Schrei ausgestoßen. Mühsam einen Kommentar unterdrückend, bezwang er sich, ihn nicht zu sehr anzustarren. Er hatte von den Veränderungen gehört, die mit Tomas vorgegangen waren, aber nichts hatte ihn auf den Anblick dieses riesenhaften Mannes vor ihm vorbereitet. Fremde Augen sahen ihn an. Es erinnerte nur noch wenig an den glücklichen, grinsenden Knaben, der ihm einst durch die Wälder gefolgt war und ihn angebettelt hatte, ihm Geschichten von den Elben zu erzählen. Ohne eine freundliche oder gar herzliche Geste trat Tomas jetzt vor und sagte: »Welche Nachricht bringt Ihr aus Crydee?«

Martin stützte sich auf seinen Bogen. »Prinz Arutha sendet Euch seine Grüße«, wandte er sich an die Königin, »und seine Liebe. Er hofft, daß Ihr Euch bei guter Gesundheit befindet.« Dann wandte er sich an Tomas, der offensichtlich eine wichtige Position im Rat der Königin übernommen hatte.

»Arutha läßt Euch folgende Nachricht übermitteln: Der Schwarze Guy, der Herzog von Bas-Tyra, herrscht jetzt in Krondor. Also wird von dort keine Hilfe für die Ferne Küste zu erwarten sein.

Außerdem hat der Prinz guten Grund zu der Annahme, daß die Außerweltlichen schon bald eine Großoffensive planen. Ob sie allerdings Crydee, Elvandar oder die Armee des Herzogs angreifen wollen, kann er nicht sagen. Aber die südlichen Enklaven werden jetzt durch die Zwerge aus den Minen Verstärkung erhalten. Meine Pfadfinder haben Anzeichen einer Bewegung gen Norden entdeckt, aber wohl nichts von größerem Umfang. Arutha vermutet, daß die Offensive höchstwahrscheinlich gegen die Armeen seines Vaters und Lord Brucals geführt werden wird.«

Dann sagte er: »Und dann muß ich Euch auch noch sagen, daß der Junker Aruthas ermordet worden ist.« Er achtete die Regel der Elben, die Namen der Toten nicht auszusprechen.

Tomas’ Augen verrieten einen Funken von Gefühl, als er von Rolands Tod erfuhr. Aber er sagte nur: »Menschen sterben nun einmal im Krieg.«

Calin erkannte, daß der Wortwechsel zwischen Langbogen und Tomas von persönlicher Natur war. Niemand bei Hofe hatte Roland gut gekannt, wenngleich Calin sich noch an ihn erinnerte.

Indem er das Thema Krieg wieder aufgriff, sagte er: »Das ist logisch. Sollte die Armee des Königreichs im Westen besiegt werden, dann können die Außerweltlichen ihre volle Aufmerksamkeit den anderen Fronten zuwenden. Sie würden die Freien Städte und Crydee schnell für sich einnehmen können. Innerhalb eines Jahres, höchstens zwei, wäre alles, was einstmals Keshian Bosania war, unter ihrer Herrschaft. Dann könnten sie leicht auf Yabon marschieren. Und bald würden sie vor den Toren Krondors stehen.«

Tomas sah Calin an, als wollte er etwas sagen. Seine Augen verengten sich. Ein Blick ging zwischen der Königin und Tomas hin und her, und er trat an seinen Platz im Kreis des Rates zurück.

Calin fuhr fort: »Wenn die Außerweltlichen keine Soldaten in das Gebiet westlich der Berge durchschleusen, dann sollten die Zwerge bald bei uns eintreffen. Jenseits des Flusses hat es Ausfälle der Außerweltlichen gegeben. Sie sind auch schon auf unsere Seite vorgedrungen, aber es gibt keine Anzeichen für einen Großangriff. Ich glaube, Arutha hat mit seiner Vermutung recht. Sollten die Herzöge rufen, werden wir versuchen, ihnen zu helfen.«

Tomas wandte sich dem Elbenprinzen zu. »Elvandar ungeschützt lassen!« Sein Gesicht verriet seinen Zorn. Martin war von der Hitze dieses kaum verhüllten Ärgers überrascht. »Wenn wir die Verteidiger nicht aus dem Elbenforste abziehen, können wir nicht genügend Soldaten aufbringen, um in einer solchen Schlacht überhaupt von Wichtigkeit zu sein.«

Calins Gesicht blieb gleichgültig, aber seine Augen spiegelten Tomas’ Wut wider. Er sprach jedoch ganz ruhig. »Ich bin Kriegsführer von Elvandar. Ich würde unsere Wälder nie ungeschützt lassen. Aber sollten die Außerweltlichen wirklich einen Großangriff gegen die Herzöge führen, dann würden sie nicht genügend Soldaten am Fluß zurücklassen, um noch eine Bedrohung für unsere Wälder zu bedeuten. Sie haben uns nicht mehr angegriffen, seit wir sie mit der Hilfe des Zauberers geschlagen haben und ihre Schwarzen Roben getötet worden sind. Aber sollten sie sich mit Lord Borrics und Lord Brucals Armee eine Schlacht liefern, dann könnten unsere Soldaten vielleicht den Ausschlag geben.«

Tomas bewahrte seine Selbstbeherrschung und stand einen Augenblick starr da. Dann erklärte er mit eisiger Stimme: »Die Zwerge folgen Dolgan, und Dolgan folgt meiner Führung. Sie werden nicht kommen, ehe ich sie rufe.« Ohne ein weiteres Wort verließ er den Kreis des Rates.

Martin sah Tomas nach, als er ging. Er bekam eine Gänsehaut.

Er spürte jetzt zum erstenmal die Macht, die sich in dieser merkwürdigen Verschmelzung aus Mensch und was sonst noch in diesem ehemaligen Jungen aus Crydee lebte, verbarg. Er hatte nur einen schwachen Eindruck dessen erhalten, was in Tomas steckte, aber es war schon genug gewesen. Tomas war ein Wesen, das gefürchtet werden mußte. Erst dann bemerkte Martin ein Zucken in Aglarannas Gesicht. Sie stand auf und sagte: »Ich sollte besser mit Tomas reden. Er ist in letzter Zeit überarbeitet gewesen.«

Als sie ging, war Martin sich plötzlich ganz sicher. Was auch immer er gesehen haben mochte, er war Zeuge eines Konfliktes zwischen dem Sohn der Elbenkönigin und ihrem Liebhaber geworden, und auch eines tiefen Konfliktes in ihr selbst. Aglarannas Gesicht hatte den Ausdruck eines Menschen gehabt, der in einem hoffnungslosen Schicksal gefangen ist.

Das Pochen war immer schlimmer geworden. Es war noch kein Schmerz, aber ein Unwohlsein, das zunehmend eindringlicher und nervtötender wurde. Tomas saß auf der kühlen Schneise, neben dem stillen Teich, und kämpfte mit sich. Seit er nach Elvandar gekommen war, um hier zu leben, waren seine Träume kaum mehr als schattenhafte Bilder gewesen. Sätze und Namen waren aufgetaucht, die er nicht hatte packen können. Sie waren weniger besorgniserregend, weniger beängstigend, nicht so wichtig in seinem Alltagsleben, aber der Druck in seinem Kopf, der dumpfe schmerzähnliche Zustand, hatte ständig zugenommen. Wenn er im Feld war, verlor er sich in rasender Wut. Dann spürte er keinen Schmerz, aber sobald die Kampflust nachließ, vor allem, wenn er nur langsam nach Elvandar zurückkehrte, kam auch das Pochen wieder. Schritte klangen leise hinter ihm. Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Ich will allein sein.«

»Der Schmerz, Tomas?« fragte Aglaranna.

Ein schwaches, fremdes Gefühl erhob sich kurz in ihm. Er neigte den Kopf, als wollte er auf etwas lauschen. Dann antwortete er kurz angebunden: »Ja. Ich werde bald in unsere Gemächer zurückkehren. Geh jetzt und bereite dich auf meinen späteren Besuch vor.«

Aglaranna trat zurück. Ihre stolzen Züge verrieten den Schmerz darüber, daß er sie so anredete.

Schnell drehte sie sich um und ging.

Während sie durch das Holz wanderte, war alles in ihr aufgewühlt. Seit sie sich Tomas’ – und ihrem eigenen – Verlangen gebeugt hatte, hatte sie die Fähigkeit verloren, ihn zu beherrschen oder seinen Befehlen zu widerstehen. Er war jetzt Herr über sie, und sie schämte sich. Es war eine freudlose Verbindung, nicht die Rückkehr verlorenen Glücks, die sie erhofft hatte. Aber da war eine Leidenschaft in ihr, ein Bedürfnis, mit ihm zusammenzusein, ihm zu gehören, und alles andere wich davor zurück. Tomas war dynamisch, mächtig, und manchmal auch grausam. Sie verbesserte sich: nicht grausam. Er war einfach allen anderen Wesen so entrückt, daß man keinen Vergleich anstellen konnte. Er stand ihren Bedürfnissen nicht gleichgültig gegenüber. Er bemerkte einfach nicht, daß sie welche hatte. Als sie sich Elvandar näherte, spiegelte sich das weiche, märchenhafte Licht in den schimmernden Tränen auf ihren Wangen. Tomas war sich ihres Fortgehens kaum bewußt. Unter dem dumpfen Schmerz in seinem Schädel rief ihn eine Stimme leise an. Er bemühte sich, zu hören, erkannte die Stimme und wußte, wer rief…

 

»Tomas?«

Ja.

Ashen-Shugar blickte über die verlassene Öde hin, über das trocken-rissige Land bar jeglicher Flüssigkeit, abgesehen von den blubbernden Alkali-Quellen, die faulige Dämpfe in die Luft spien.

Laut sagte er zu seinem unsichtbaren Begleiter: »Es ist einige Zeit her, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben.«

Tathar und die anderen haben versucht, uns voneinander fernzuhalten. Du bist häufig vergessen.

Die stinkenden Winde bliesen von Norden her, kalt, aber stickig. In den Überresten des mächtigen Irrsinns, der das Universum um sie her gefangen hielt, spürte man nur schwaches Leben.

»Unwichtig. Wir sind wieder zusammen.«

Was ist das hier für ein Ort?

»Die Einöde der Chaotischen Kriege. Draken-Korins Monument, die leblose Tundra, die einstmals Grasland war. Nur wenige lebende Dinge hausen noch hier.«

Wer bist du?

Ashen-Shugar lachte. »Ich bin, was du werden wirst. Wir sind eins. Das hast du selbst oft gesagt.«

Ich hatte es vergessen.

Ashen-Shugar rief, und Shuruga schoß über eine graue Landschaft zu ihm hin. Schwarze Wolken türmten sich über ihnen. Der mächtige Drache landete, und sein Herr stieg auf seinen Rücken. Er warf noch einen Blick auf die mit Asche gekennzeichnete Stelle, die einzige Erinnerung an Draken-Korins Existenz. Dann sagte der Valheru: »Komm, mal sehen, was das Schicksal mit uns vorhat.«

Shuruga machte einen Satz gen Himmel, und sie flogen über die Einöde dahin. Ashen-Shugar schwieg, als er auf Shurugas breitem Rücken ritt und fühlte, wie der Wind über sein Gesicht strich.

Sie flogen, und die Zeit ging an ihnen vorüber, und sie teilten miteinander den Tod eines Zeitalters und erlebten die Geburt eines anderen. Hoch im blauen Himmel zogen sie dahin, frei vom Horror der Chaotischen Kriege.

Es ist Kummer wert.

»Ich glaube nicht. Da steckt eine Lektion dahinter, aber ich erkenne sie einfach nicht. Aber ich spüre, daß du sie kennst.« Ashen-Shugar schloß die Augen, als das Pochen wiederkehrte. Ja, ich erinnere mich.

»Tomas?«

Tomas riß die Augen auf. Galain stand ein Stück vor ihm, am Rande der Lichtung. »Soll ich später wiederkommen?«

Langsam erhob sich Tomas. Seine Stimme war rauh und müde. »Nein, was gibt es?«

»Dolgans Zwerge haben den äußeren Forst erreicht und warten in der Nähe des sich windenden Baches auf dich. Die Zwerge haben eine außerweltliche Enklave überfallen, als sie den Fluß überquerten.« Ein fröhliches Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des jungen Elben. »Sie haben endlich Gefangene gemacht.«

Ein merkwürdiger Ausdruck, gemischt aus Entzücken und Wut, zog über Tomas’ Gesicht. Ein unheimliches Gefühl überkam Galain, als er die Reaktion des Kriegers in Weiß und Gold beobachtete, dem er diese Neuigkeit überbracht hatte. Als lausche er auf einen fernen Ruf, sprach Tomas abwesend: »Geh zum Lager der Zwerge. Ich werde mich unverzüglich zu euch gesellen.«

Galain zog sich zurück, und Tomas lauschte. Eine ferne Stimme wurde lauter.

 

»Habe ich gefehlt?«

Der große Raum hallte von den Worten wider, denn er war jetzt leer. Die Diener hatten sich zurückgezogen. Ashen-Shugar hockte nachdenklich auf seinem Thron. Er sprach zu den Schatten.

»Habe ich gefehlt?«

Jetzt kennst du den Zweifel, antwortete die allgegenwärtige Stimme.

»Diese merkwürdige Stille im Innern, was ist das?«

Das ist der nahende Tod.

Ashen-Shugar schloß die Augen. »Das dachte ich mir. Nur wenige meiner Art haben diese Schlacht überlebt. Ich bin der letzte. Dennoch würde ich gern noch ein letztes Mal auf Shuruga fliegen.«

Er ist dahin. Tot, vor Zeitaltern.

»Aber ich bin noch heute morgen auf ihm geflogen.«

Das war ein Traum. Genau wie das jetzt.

»Bin ich dann auch verrückt?«

Du bist nichts als eine Erinnerung. Das ist nichts als ein Traum.

»Dann will ich tun, was geplant ist. Ich nehme das Unabwendbare hin. Ein anderer wird an meine Stelle treten.«

So ist es bereits geschehen, denn ich bin es, der gekommen ist, und ich habe dein Schwert aufgehoben und deinen Mantel angezogen. Deine Sache ist jetzt die meine. Ich stelle mich denen entgegen, die diese Welt plündern wollen.

»Dann bin ich es zufrieden zu sterben.«

Er öffnete die Augen und warf einen letzten Blick auf seine Halle, die jetzt mit uraltem Staub bedeckt war. Dann schloß der Herrscher über das Reich der Adler ein letztes Mal die Augen und sprach seinen letzten Zauberspruch. Seine schwindenden Kräfte, noch immer unerreicht auf dieser Welt – außer von den neuen Göttern –, entflohen aus seinem müden Körper und hielten Einzug in seine Rüstung. Rauchsäulen stiegen von der Stelle auf, an der sein Körper geruht hatte, und kurz darauf blieben nur noch die goldene Rüstung, der weiße Heroldsrock, das Schwert und der Schild aus Weiß und Gold zurück.

Ich bin Ashen-Shugar; ich bin Tomas.

Tomas öffnete die Augen. Einen Moment lang war er erstaunt und verwirrt, sich auf der Lichtung zu befinden. Eine fremdartige merkwürdige Leidenschaft wuchs in ihm, und er fühlte eine neue Stärke in sich wachsen. Eine Glocke schlug in seinem Geiste an: Ich bin Ashen-Shugar, der Valheru. Ich werde alle zerstören, die versuchen, meine Welt zu plündern.

Mit einem schrecklichen Entschluß verließ er die Lichtung, um den Ort zu finden, an den die Zwerge seine Feinde gebracht hatten.

»Es tut gut, Euch wiederzusehen, Freund Langbogen«, erklärte Dolgan und paffte an seiner Pfeife. Seit einem zufälligen Treffen vor einigen Jahren hatten sie einander nicht mehr gesehen.

Damals waren die Zwerge auf ihrem Weg nach Elvandar durch den Wald östlich von Crydee gezogen.

Martin, Calin und ein paar Elben waren gekommen, um sich die Gefangenen der Zwerge anzuschauen, die noch immer gefesselt waren. Sie warteten in einer Ecke der Lichtung.

Zusammengedrängt funkelten sie ihre Bewacher an. Galain betrat die Lichtung. »Tomas wird gleich kommen.«

»Wie kommt es, Dolgan, daß es Euch nach all den Jahren gelungen ist, Gefangene zu machen? Und dann gleich eine ganze Enklave?« wollte Martin wissen.

Hinter den acht gefesselten Soldaten stand ein verängstigtes Grüppchen von Tsuranis. Es waren Sklaven, die sich über ihr künftiges Schicksal im unklaren waren. Dolgan winkte ab. »Für gewöhnlich greifen wir über den Fluß hinweg an, und Gefangene verzögern den Rückzug, weil sie entweder bewußtlos sind oder aber nicht kooperativ. Diesmal blieb uns allerdings kaum eine Wahl, denn wir mußten den Crydee-Fluß überqueren. In den vergangenen Jahren hätten wir gewartet, bis wir im Dunkeln heimlich die andere Seite erreichen könnten. Aber in diesem Jahr befinden sich die Tsuranis überall den Fluß entlang. Dieses Grüppchen haben wir an einer ziemlich verlassenen Stelle entdeckt. Nur diese acht waren da, um die Sklaven zu bewachen. Sie haben einen Erdwall in Ordnung gebracht. Ich nehme an, er ist vor kurzer Zeit während eines Ausfalls der Elben überrannt worden. Wir sind um sie herumgeschlichen. Dann sind ein paar der Jungs auf die Bäume geklettert, obwohl ihnen das überhaupt nicht gefiel. Wir haben drei Wachen überwältigt, ehe sie die anderen zu Hilfe rufen konnten. Die anderen fünf haben geschlafen, diese faulen Stücke. Wir sind ins Lager geschlüpft, und nach ein paar gut plazierten Schlägen mit unseren Hämmern haben wir sie gefesselt.

Die anderen« – er wies auf die Sklaven – »waren viel zu eingeschüchtert, um auch nur einen Ton von sich zu geben. Als deutlich wurde, daß die Enklaven in der Nähe von alldem nichts bemerkt hatten, dachten wir daran, sie mitzunehmen. Es schien eine wahre Verschwendung zu sein, sie einfach zurückzulassen. Dachte, vielleicht könnten wir was Nützliches erfahren.« Dolgan bemühte sich, eine gleichgültige Miene aufzusetzen, aber der Stolz über die Leistung seiner Kameraden strahlte aus ihm heraus.

Martin lächelte zufrieden. Dann meinte er zu Calin: »Ich hoffe nur, wir erfahren von ihnen, was uns erwartet, ob die gefürchtete Offensive tatsächlich stattfinden wird, und wenn ja, wo. Ich habe ein paar Sätze ihrer Sprache gelernt, aber nicht genug, um irgend etwas von dem zu verstehen, was sie uns vielleicht erzählen wollen. Nur Pater Tully und Charles, mein Tsurani-Spurenleser, können ihre Sprache fließend sprechen. Vielleicht sollten wir versuchen, sie nach Crydee zu bringen?«

Calin widersprach. »Wir haben Mittel und Wege, ihre Sprache zu lernen, wenn wir Zeit genug haben. Ich bezweifle, daß sie leicht zu transportieren wären. Höchstwahrscheinlich würden sie unterwegs auf Schritt und Tritt versuchen, Alarm zu schlagen.«

Martin dachte darüber nach und gab ihm recht. Dann bemerkte er eine gewissen Unruhe und wandte sich um.

Tomas marschierte auf die Lichtung zu. Dolgan setzte zum Gruß an, aber etwas im Gehabe des jungen Kriegers ließ ihn verstummen. In Tomas’ Augen stand Irrsinn, etwas, das der Zwerg schon früher als einen schwachen Schein darin entdeckt hatte. Aber jetzt strahlte es in voller Kraft.

Tomas betrachtete die gefesselten Gefangenen. Dann zog er langsam sein Schwert und deutete auf sie. Die Worte, die er sprach, waren sowohl Martin als auch den Zwergen fremd und unverständlich. Aber die Elben waren entsetzt über das, was sie hörten. Ein paar der älteren Elben fielen flehentlich auf die Knie, und die jüngeren wandten sich in instinktiver Furcht ab. Nur Calin blieb stehen, wenngleich er erschüttert schien. Dann wandte sich der Elbenprinz langsam Martin zu.

Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Mit entsetzter Stimme erklärte er: »Nun ist der Valheru doch wahrhaftig unter uns.«

Ohne sich um die anderen auf der Lichtung zu kümmern, schritt Tomas zu dem ersten Tsurani-Gefangenen hinüber. Der gefesselte Soldat sah mit einer Mischung aus Furcht und Trotz zu ihm empor.

Plötzlich wurde das goldene Schwert hoch erhoben, sauste schwungvoll herab und trennte den Kopf des Mannes von seinen Schultern. Blut befleckte den weißen Heroldsrock, floß dann aber davon und ließ ihn fleckenlos zurück. Ein leises, angstvolles Stöhnen erhob sich unter den zusammengedrängten Sklaven, und die Augen der anderen Soldaten weiteten sich vor Entsetzen.

Langsam wandte sich Tomas dem nächsten Gefangenen zu, und wieder beendete sein Schwert ein Leben.

Martin befreite sich von seinem Entsetzen, das ihn hatte erstarren lassen. Er zwang sich, den Blick von diesem Gemetzel abzuwenden. Er verspürte eine schreckliche Furcht, aber verglichen mit dem, was die Elben Tomas entgegenbrachten, schien es ein Nichts. Calins Gesicht verriet seinen inneren Kampf, als er versuchte, sich gegen einen fast instinktiven Gehorsam den Worten gegenüber zu wehren, die in der alten Sprache der Valheru gesprochen worden waren. Sie waren die Herrscher über alle gewesen, aber es lag Ewigkeiten zurück. Die jüngeren Elben, die in den alten Weisheiten nicht so bewandert waren, verstanden das überwältigende Gefühl, diesem Mann in Weiß und Gold zu gehorchen, einfach nicht. Die Sprache der Valheru war noch immer die Sprache der Macht.

Tomas wandte sich von den Toten ab, und Martin war entsetzt über seinen fremden Blick.

Verschwunden war der Knabe aus Crydee. Eine fremde Gegenwart erstickte sein Sein. Tomas’ Arm fuhr zurück, und Martin stählte sich, um dem Schlag auszuweichen. Jedes menschliche Wesen war ein potentielles Opfer, und sogar die Zwerge zogen sich zurück, als sie der schrecklichen Bedrohung gewahr wurden, die Tomas für sie bedeutete. Dann funkelte Erkennen in Tomas’ Augen auf, und er sagte mit leiser und weit entfernter Stimme: »Martin, im Namen der Liebe, die ich einst für dich empfunden habe: Geh, oder dein Leben ist verwirkt.«

Martin nahm all seinen Mut zusammen angesichts der größten Angst, die er je verspürt hatte, und rief: »Ich werde nicht hier stehen und zusehen, wie du hilflose Männer abschlachtest!«

Wieder war es eine ferne Stimme, die antwortete: »Sie sind in meine Welt eingedrungen, Martin.

Niemand darf versuchen, das zu nehmen, was mir gehört, mir allein! Willst auch du in meine Welt eindringen, Martin?« So schnell, daß man es kaum bemerkte, wirbelte Tomas herum, und zwei Tsuranis starben.

Martin griff an. Er überwand den Abstand in einem großen Satz und schlug auf Tomas ein. Dann trieb er ihn von den Gefangenen fort. Alle beide stürzten zu Boden, und Martin packte nach dem Handgelenk, das das goldene Schwert umfaßt hielt.

Obwohl er ein kräftiger Mann war, der einen frisch erlegten Hirsch meilenweit schleppen konnte, war Martin doch kein ebenbürtiger Gegner für Tomas. Als wollte er ein lästiges Kind hochheben, stieß Tomas Martin beiseite und sprang auf die Füße. Wieder stürzte sich Martin auf Tomas, aber diesmal war dieser darauf vorbereitet. Er packte Martin einfach bei der Tunika und sagte: »Niemand hat sich meinem Willen entgegenzustellen.« Er schleuderte Martin über die Lichtung, als wöge dieser nicht einmal ein Zehntel seines wahren Gewichtes. Martins Arme hieben durch die Luft, während er versuchte, seinen Fall unter Kontrolle zu bekommen. Er kam hart auf, und alle Umstehenden konnten hören, wie sein Atem dabei pfeifend aus seinen Lungen entwich.

Dolgan eilte an seine Seite, denn die Elben waren immer noch wie gebannt von dem, was sie gesehen hatten. Der Anführer der Zwerge goß Wasser aus einem Sack an seiner Seite in Martins Gesicht und schüttelte ihn wach. Die erstickten Schreie der Tsurani-Sklaven, die ängstlich mit ansehen mußten, wie Soldaten abgeschlachtet wurden, begrüßten Martin, als er wieder zu sich kam.

Vor seinen Augen flimmerte es, doch als er endlich klar sehen konnte, zog er entsetzt zischend die Luft ein.

Tomas schlug den letzten Tsurani-Soldaten nieder und schritt dann auf die reglosen Sklaven zu.

Sie schienen unfähig, sich zu rühren. Mit weit aufgerissenen Augen sahen sie dem Mann entgegen, der ihre Zerstörung, ihren Tod forderte. Martin fühlte sich bei ihrem Anblick an ein Rudel Rehe erinnert, das mitten in der Nacht von einem plötzlichen Licht aufgeschreckt wird.

Ein Schrei kam über Martins Lippen, als Tomas den ersten Tsurani-Sklaven tötete, einen jämmerlichen, kleinen Mann. Langbogen bemühte sich, auf die Füße zu kommen. Sein Kopf dröhnte, und Dolgan mußte ihm helfen.

Tomas hob sein Schwert, und der nächste Sklave starb. Wieder fuhr die goldene Klinge nach oben, und er schaute in das Gesicht seines Opfers. Mit Augen, die vor Angst kreisrund waren, wartete ein junger Knabe, kaum mehr als zwölf Jahre alt, auf den Schlag, der seinem Leben ein Ende setzen würde.

Plötzlich schien die Zeit für Tomas stillzustehen. Er schaute auf den dunklen Haarschopf und auf die großen, braunen Augen des Knaben hinab. Das Kind duckte sich in Erwartung des Todes. Es schüttelte verneinend den Kopf, während seine Lippen wieder und wieder einen einzigen Satz murmelten.

Im schwachen Licht der Schneise sah Tomas einen alten Geist vor sich, einen längst vergessenen Freund. Da tauchten plötzlich Erinnerungen aus seiner jüngsten Kinderzeit wieder in seinem Bewußtsein auf. Bilder verschwammen, Gegenwart und Vergangenheit verwirrten sich, und er sagte: »Pug?«

Schmerz explodierte in seinem Geist, und ein anderer, fremder Wille versuchte, ihn zu überwältigen.

Pug! kreischte er. Töte ihn! kam die tobende Antwort, und zwei Willen kämpften in ihm.

Nein! schrie der andere.

Für alle auf der Lichtung Anwesenden schien Tomas wie erstarrt. Ein innerer Kampf ließ ihn beben. Sein Schwert hing in der Luft und wartete darauf, herabzusausen.

Dies sind deine Feinde! Töte sie!

Er ist ein Knabe! Nur ein Knabe!

Er ist der Feind! Ein Knabe!

Tomas’ Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Schmerzes. Er biß die Zähne zusammen. Jeder Muskel verkrampfte sich, und die Haut spannte sich fest über seinen Schädel. Seine Augen wurden rund. Schweiß trat unter seinem Helm hervor und lief ihm über die Stirn und die Wangen hinab.

Martin kam stolpernd auf die Füße. Er ging langsam. Jede Geste verursachte ihm Schmerzen.

Langsam bewegte sich Tomas’ Hand zitternd und bebend nach unten, während er mit sich rang.

Der Junge war wie gebannt. Er war unfähig, sich zu rühren. Seine Augen folgten der Bewegung der Klinge.

Ich bin Ashen-Shugar! Ich bin Valheru! sang eine Stimme in ihm, ein Brausen aus Zorn, irrsinniger Kampfeslust und Blutgier.

Diesem Meer aus Zorn stand ein Felsen der Ruhe gegenüber, eine stille, zarte Stimme, die einfach sagte: Ich bin Tomas.

Wieder und wieder rauschten die Wogen des Hasses an diesen Felsen der Ruhe, verschlangen ihn, glitten zurück und kamen wieder. Aber jedesmal wurde der Ansturm schwächer, und der Felsen stand reglos und erhob sich über die Wogen. Etwas zerschmetterte tosend. Äonen, verloren und vergangen, erschütterten Tomas’ Geist. Er taumelte, schwamm in einer fremden Landschaft, suchte nach einem Lichtstrahl, von dem er wußte, daß er ihm den Weg zur Freiheit weisen würde. Fluten rissen ihn mit sich. Er kämpfte, versuchte, seinen Kopf über der wütendschwarzen See zu halten, die ihn zu verschlingen drohte. Ein kreischender, böser Wind stürmte über ihm dahin, und seine Ohren dröhnten unter einem schrecklichen Gesang. Er holte aus, und wieder sah er Licht. Wieder verschlang die Flut ihn und trieb ihn fort von seinem Ziel, aber diesmal war sie schon schwächer.

Noch einmal kämpfte er sich dem Licht entgegen. Dann kam eine hohe Welle, ein letzter, schrecklicher Angriff kam auf ihn zu. Ich bin Ashen-Shugar! Der Wille wurde gebrochen. Etwas knackste wie der tote Zweig eines Baumes unter dem Gewicht frisch gefallenen Schnees, wie das Geräusch vom Eis des Winters unter der Berührung des Frühlings. Es war, als hätte der letzte Angriff zu viel gekostet.

Die schwarze See verlor ihre Wut und gab nach, und er stand auf festem Grund auf einem einsamen Felsen. Ich bin Tomas. In der Ferne wurde das Lichtfleckchen immer größer. Es raste auf ihn zu, um ihn zu verschlingen.

Ich bin Tomas.

»Tomas!«

Er blinzelte und stellte fest, daß er wieder auf der Lichtung stand. Vor ihm kauerte der Junge und wartete auf seinen Tod. Er drehte den Kopf und entdeckte Martin, der ihn über einen Pfeil hinweg musterte, den er schußbereit an der Wange hielt. Der Jagdmeister von Crydee sagte: »Leg dein Schwert hin, oder – bei den Göttern! – ich werde dich auf der Stelle töten.«

Tomas’ Blick wanderte über die Schneise. Er sah die Zwerge mit gezogenen Waffen, ebenso wie ein paar der älteren Elben. Calin, noch immer zitternd, hatte sein Schwert gezogen und kam langsam auf ihn zu.

Martin beobachtete Tomas scharf. Er fürchtete ihn nicht, aber seine schreckliche Kraft und Geschwindigkeit flößten ihm Respekt ein. Er wartete und sah dabei noch immer den Wahnsinn in Tomas’ Augen flackern. Dann, als würde plötzlich ein Schleier gelüftet, waren sie plötzlich klar.

Abrupt fiel das goldene Schwert aus seiner Hand, und die blassen, fast farblosen Augen füllten sich mit Tränen. Tomas fiel auf die Knie, und ein Stöhnen voll schrecklichen Schmerzes entrang sich seiner Kehle. Laut rief er aus: »Oh, Martin, was ist nur aus mir geworden?«

Martin senkte seinen Bogen und schaute zu, als Tomas die Arme um seinen Körper schlang.

Tathar und die anderen Bannweber betraten die Lichtung. Sie näherten sich Tomas und musterten die anderen Anwesenden. So schrecklich war Tomas’ Schluchzen, so erfüllt von Kummer und Leid, daß viele der Elben feststellen mußten, daß sie ebenfalls weinten.

Tathar sagte zu Martin: »Vor einer Weile fühlten wir, wie der Stoff unserer Bannsprüche zerrissen wurde. Wir sind sofort herbeigeeilt. Wir fürchteten, der Valheru wäre gekommen. Zu Recht, wie es scheint.«

»Und nun?« fragte Martin.

»Das ist die andere Seite der Waagschale. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Valheru nun endlich doch durch den Jungen ersetzt worden ist. Aber der Knabe muß jetzt das Gewicht von Jahrhunderten des Gemetzels auf sich lasten spüren, und das schlechte Gewissen, weil er Freude dabei empfand, anderen das Leben zu nehmen. Die Lasten der Sterblichen ruhen wieder auf ihm, und wir müssen nun abwarten, ob er sie ertragen kann. Dieser Schmerz kann sich als sein Ende erweisen.«

Martin ließ den uralten Elb stehen und ging zu Tomas hinüber. In dem schwachen Licht, das auf der Schneise lag, war er der erste, der die Veränderung bemerkte. Verschwunden war der fremdartige Schnitt seiner Züge, die glänzenden Augen, die hochmütige Stirn. Er war wieder Tomas, ein Mensch. Aber immer noch gab es Erinnerungen, die aus ihm mehr als nur einen einfachen Menschen machten: die Elbenohren, die bleichen Augen. Er war nicht mehr der Herr der Macht, der Alte, der Valheru. Wo vorher ein Drachenherrscher gestanden hatte, kauerte jetzt ein besorgter, verstörter, kränklicher Mann, erfüllt von Entsetzen über das, was er getan hatte.

Tomas hob den Kopf, als Martin ihn an der Schulter berührte. Mit rotgeränderten, vor Kummer fast wahnsinnigen Augen betrachtete er Martin einen kurzen Augenblick lang. Dann schloß er sie, als wolle er alles um sich her vergessen. Eine Weile schauten die Elben und die Zwerge zu, und die Tsurani-Sklaven blieben stumm. Sie erkannten, daß ein Wunder geschehen war, verstanden es nicht, waren aber plötzlich sicher, daß sie verschont bleiben würden. Eine Weile schauten sie zu, wie Martin Langbogen den schluchzenden Mann in Weiß und Gold in den Armen wiegte. Er weinte, und sein Schmerz war schrecklich anzusehen.

 

Aglaranna saß auf ihrer Schlafstatt und bürstete ihr langes, rotgoldenes Haar. Wie schon oft wartete sie auf Tomas. Halb hoffte, halb fürchtete sie, daß er kommen würde.

Ein Ruf von draußen ließ sie auffahren. Sie raffte ihre Gewänder um sich und verließ ihre Gemächer. Von einer Plattform aus sah sie zu, wie eine Gruppe von Elben und Zwergen auf Elvandars Zentrum zusteuerte. Mit ihnen kam Martin Langbogen und ein paar Menschenwesen.

Ihrer Kleidung nach waren es ganz eindeutig Außerweltliche.

Ihre Hand fuhr zum Mund. Sie stöhnte auf. Inmitten der Gruppe schritt Tomas. An seiner Seite ging ein kleiner Junge, dessen Augen vor Staunen über die Pracht Elvandars weit aufgerissen waren. Aglaranna war unfähig, sich zu rühren. Sie fürchtete, daß das, was sie sah, nur ein Produkt ihrer Hoffnung war, eine Illusion. Die Zeit raste dahin, während sie wartete, und dann stand Tomas vor ihr. Er ließ den Jungen zurück und trat vor. Martin nahm das Kind bei der Hand und führte es fort. Die anderen folgten ihnen und überließen die Elbenkönigin und Tomas der Einsamkeit, die sie brauchten.

Langsam streckte Tomas die Hand aus und berührte sacht ihr Gesicht. Er genoß ihren Anblick, als würde er sie noch einmal so sehen, wie sie ihm beim ersten Mal in Crydee erschienen war. Dann zog er sie langsam, wortlos, in die Arme. Schweigend hielt er sie so und ließ sie die Wärme der Liebe fühlen, die ihn bei ihrem Anblick erfüllte.

Nach einer Weile flüsterte er ihr ins Ohr: »Ich bete zu den Göttern, daß sie mir für jeden Augenblick des Kummers, den ich Euch bereitet habe, ein Jahr gewähren, meine Geliebte, ein Jahr, das ich mit Freude für Euch anfüllen kann. Ich bin wieder Euer ergebener, Euch verehrender Untertan.«

Zu sehr von Glück erfüllt, um sprechen zu können, klammerte sich die Elbenkönigin einfach an ihn. Ihr Kummer verblaßte zu einer schwachen Erinnerung.