Verrat

Die Armeen standen sich gegenüber.

Betagte Veteranen beäugten einander über den Talboden hinweg. Noch waren sie nicht recht bereit, sich in Gegenwart eines Feindes, den sie neun Jahre und länger bekämpft hatten, wohl zu fühlen. Jede Seite bestand aus Ehrenabordnungen, die die Edlen des Königreichs und die Clans des Kaiserreichs vertraten. Jede Gruppe war mehr als tausend Mann stark. Der letzte Rest der Tsurani-Armee trat jetzt in den Spalt ein. Sie kehrte heim nach Kelewan und ließ nur die Ehrenabordnung des Kaisers hinter sich zurück. Die Armee des Königreichs hatte noch immer ihre Lager an den Mündungen der beiden Pässe ins Tal aufgeschlagen. Sie wollte das Areal erst verlassen, wenn der Vertrag endlich geschlossen sein würde. Das neugewonnene Vertrauen beruhte noch immer auf Vorsicht.

Auf der königlichen Seite des Tales saß Lyam rittlings auf einem weißen Kriegspferd und wartete auf die Ankunft des Kaisers. In seiner Nähe befanden sich die Edlen des Königreichs, mit glänzendpolierten Rüstungen, auf ihren Pferden. Unter ihnen waren auch die Führer des Militärs der Freien Städte und eine Abordnung der natalesischen Pfadfinder.

Trompeten erklangen von jenseits des Feldes, und man konnte die Gesellschaft des Kaisers aus dem Spalt auftauchen sehen. Kaiserliche Banner flatterten m der Brise, als sich die Prozession zur Spitze der Tsurani-Abordnung begab.

Während er auf den Tsurani-Herold wartete, der die Entfernung zwischen den beiden Regenten zu Fuß zurücklegte, wandte sich König Lyam den Männern zu, die in seiner Nähe auf ihren Pferden saßen. Pug, Kulgan, Meecham und Laurie hatten diese ehrenvolle Aufgabe erhalten, weil sie dem Königreich so wertvolle Dienste geleistet hatten. Auch Graf Vandros und mehrere andere Offiziere, die sich ausgezeichnet hatten, befanden sich in der Nähe. Neben Lyam saß Arutha rittlings auf einem kastanienbraunen Schlachtroß, das lebhaft auf der Stelle tänzelte.

Pug schaute sich um. Der Anblick all der Symbole zweier mächtiger Nationen, mit deren Schicksal er so eng verbunden war, ließ ein merkwürdiges Gefühl in ihm aufkommen. Jenseits des freien Feldes konnte er die Banner der mächtigen Familien des Kaiserreichs ausmachen, die ihm alle so vertraut waren: die Keda, die Oaxatucan, die Minwanabi und der ganze Rest. Hinter ihm flatterten die Banner des Königreichs, all der Herzogtümer von Crydee im Westen bis nach Ran im Osten.

Kulgan bemerkte den abwesenden Blick seines ehemaligen Schülers und tippte ihm mit dem langen Stock, den er hielt, auf die Schulter. »Alles in Ordnung mit dir?«

Pug wandte sich um. »Mir geht’s gut. Ich war bloß einen Augenblick überwältigt und in Erinnerungen versunken. Es erscheint mir merkwürdig, diesen Tag zu erleben. Beide Seiten des Krieges waren so bittere Feinde, und doch fühle ich mich beiden Ländern verbunden. Ich stelle fest, daß ich Gefühle habe, die ich noch erforschen muß.«

Kulgan lächelte. »Später wird es noch genug Zeit zur Untersuchung geben. Vielleicht können Tully und ich unsere Hilfe anbieten.« Der alte Kirchendiener hatte Arutha auf seinem brutalen Ritt begleitet, denn er wollte das Friedenstreffen nicht versäumen. Doch die vierzehn Tage im Sattel hatten ihren Tribut gefordert, und jetzt lag er krank in Lyams Zelt. Ein Befehl von Lyam war nötig gewesen, um ihn dort festzuhalten, denn er war entschlossen gewesen, die königliche Gesellschaft weiter zu begleiten.

Der Herold der Tsuranis kam auf Lyam zu. Er verneigte sich tief und sagte etwas auf tsurani.

Pug ritt vor, um zu übersetzen.

»Er sagte: ›Seine höchst kaiserliche Majestät, Ichindar, einundneunzigmaliger Kaiser, Licht des Himmels und Herrscher über alle Nationen von Tsuranuanni, sendet seinem Bruderregenten seiner höchst königlichen Hoheit, Prinz Lyam, Herrscher der Länder, die als das Königreich bekannt sind, seine Grüße. Ist der Prinz gewillt, seine Einladung anzunehmen und sich mit ihm in der Mitte des Tales zu treffen?‹«

Lyam antwortete: »Sag ihm, daß ich seine Grüße erwidere und mich freuen werde, mich mit ihm an der verabredeten Stelle zu treffen.« Pug übersetzte mit der angemessenen Tsurani-Höflichkeit, und der Herold verneigte sich tief und kehrte zu seinen eigenen Reihen zurück.

Sie konnten sehen, wie die kaiserliche Sänfte vorwärts getragen wurde. Lyam machte seiner Eskorte ein Zeichen, ihn zu begleiten, und sie ritten vor, um den Kaiser in der Mitte des Tales zu treffen. Pug, Kulgan und Laurie begleiteten die Ehreneskorte, während Meecham bei den Soldaten zurückblieb.

Die Reiter des Königreichs erreichten den bezeichneten Platz zuerst und warteten, während sich der kaiserliche Zug ihnen näherte. Zwanzig Sklaven trugen die Sänfte auf ihren Rücken. Es waren Männer, die aufgrund ihrer Größe und äußeren Erscheinung dazu ausgewählt worden waren. Ihre dicken Muskeln schwollen an, als sie die schwere, goldverzierte Sänfte schleppten. Dünne, weiße Vorhänge hingen von goldverzierten Hölzern herab, die mit Edelsteinen von großem Wert und Schönheit geschmückt waren. Das seltene Metall und die Juwelen fingen die Sonnenstrahlen ein und glitzerten hell.

Hinter der Sänfte marschierten die Clan-Häuptlinge als Vertreter der mächtigsten Familien des Kaiserreiches. Fünf von ihnen waren anwesend. Einer für jede Familie, die berechtigt war, einen neuen Kriegsherrn zu wählen.

Die Sänfte wurde herabgelassen, und Ichindar, Kaiser der Nationen von Tsuranuanni, stieg aus.

Er war in eine goldene Rüstung gekleidet, deren Wert nach Tsurani-Standard unermeßlich war. Auf seinem Kopf saß ein Helm, der vom selben Metall überzogen war. Er schritt zu Lyam hinüber, der abgestiegen war, um ihn zu begrüßen. Pug, der übersetzen sollte, kam ebenfalls herbei und stellte sich neben die beiden Herrscher. Der Kaiser nickte ihm kurz zu.

Lyam und Ichindar musterten einander, und beide schienen überrascht von der Jugend des anderen. Ichindar war nur drei Jahre älter als der neue König.

Lyam sprach als erster und hieß den Kaiser willkommen. Er drückte seine Freundschaft und die Hoffnung auf Frieden aus. Ichindar antwortete entsprechend. Dann trat das Licht des Himmels vor und streckte die rechte Hand aus. »Soviel ich weiß, ist das bei Euch Sitte?«

Lyam ergriff die Hand des Kaisers von Tsuranuanni. Plötzlich war die Spannung gebrochen, und Jubel erscholl von beiden Seiten des Tales. Die beiden jungen Regenten lächelten, und dann schüttelten sie sich fest und lebhaft die Hand.

Lyam sagte: »Möge dies der Anfang eines anhaltenden Friedens zwischen unseren beiden Nationen sein.«

Ichindar entgegnete: »Frieden ist etwas Neues für Tsuranuanni, aber ich hoffe, wir lernen ihn schnell. Mein Hoher Rat ist geteilter Ansicht über meine Handlung. Ich hoffe, die Früchte des Handels und der Wohlstand, den wir erlangen, wenn wir voneinander lernen, werden die Haltungen aneinander angleichen.«

»Das ist auch mein Wunsch«, sagte Lyam. »Um den Waffenstillstand zu beweisen, habe ich ein Geschenk für Euch vorbereiten lassen.« Er machte ein Zeichen, und ein Soldat trottete aus den Reihen des Königreichs herbei. Er führte ein prächtiges, schwarzes Schlachtroß hinter sich her. Ein mit Gold besetzter Sattel ruhte auf seinem Rücken, und am Sattelhorn hing ein Schwert, dessen Schaft und Scheide mit Juwelen besetzt waren.

Ichindar betrachtete das Pferd ein wenig skeptisch. Er war aber von der kunstfertigen Arbeit des Schwertes angetan. Er prüfte die Klinge und sagte: »Ihr ehrt mich, Prinz Lyam.«

Ichindar wandte sich nun einem seiner Begleiter zu, der befahl, eine Truhe vorzutragen. Zwei Sklaven stellten sie vor dem Kaiser ab. Sie war aus geschnitztem Ngaggi-Holz und so schön lackiert, daß sie wundervoll glänzte. In die Seiten waren Tiere und Pflanzen der Tsurani-Welt geschnitzt, und jede war in helleren und dunkleren Tönen eingefärbt worden, bis sie fast lebensecht wirkten. Die Truhe an sich war schon ein kostbares Geschenk, doch als der Deckel geöffnet wurde, blitzte ein Haufen wunderschön geschliffener Edelsteine, ein jeder größer als der Daumen eines Mannes, in der Sonne.

Der Kaiser sagte: »Es würde mir schwerfallen, vor dem Hohen Rat eine Entschädigung zu rechtfertigen. Meine Position ist derzeit ohnehin nicht die beste, aber gegen eine Gabe, um diese Gelegenheit zu feiern, können sie nichts einwenden. Ich hoffe, dies wird Euch für einiges entschädigen, was meine Nation angerichtet hat.«

Lyam verneigte sich leicht. »Ihr seid großzügig, und ich danke Euch. Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, eine Erfrischung mit mir einzunehmen?« Der Kaiser nickte, und Lyam erteilte den Befehl zur Errichtung eines Pavillons. Ein Dutzend Soldaten galoppierten vor und stiegen ab. Ein paar von ihnen schleppten Pfeiler und Stoffrollen. In kürzester Zeit stand ein großer, an den Seiten offener Pavillon im Tal. Stühle und ein Tisch wurden unter dem Dach aufgestellt, und andere Soldaten brachten Wein und Speisen herbei.

Pug zog einen großen, gepolsterten Sessel für den Kaiser zurecht, wie Arutha es für seinen Bruder tat. Die beiden Herrscher nahmen Platz, und Ichindar sagte: »Das ist doch viel bequemer als mein Thron. Ich muß auch ein Kissen anfertigen lassen.« Wein wurde eingeschenkt, und Lyam und der Kaiser tranken einander zu. Dann wurde ein Trinkspruch auf den Frieden ausgebracht, und alle stießen darauf an.

Ichindar wandte sich an Pug. »Erhabener, es scheint so, als würde dieses Treffen für alle Beteiligten angenehmer sein als unser letztes.«

Pug verneigte sich. »Ich hoffe es, Kaiserliche Majestät. Ich hoffe, die Unterbrechung der kaiserlichen Spiele ist mir vergeben.«

Der Kaiser runzelte die Stirn. »Unterbrechung? Das war schon eher eine Zerstörung.«

Pug übersetzte es den anderen, während Ichindar reumütig lächelte. »Der Erhabene hat viele Neuheiten in meinem Kaiserreich eingeführt. Ich fürchte, das Ende seiner Taten sehen wir erst lange nachdem sein Name bereits vergessen ist. Nun, das gehört der Vergangenheit an. Befassen wir uns lieber mit der Zukunft.«

Die Ehrengäste aus beiden Lagern umringten den Pavillon, als die beiden Regenten darüber zu sprechen begannen, wie sie am besten die Verbindung zwischen den beiden Welten aufbauen können.

 

Tomas beobachtete den Pavillon. Galen und Dolgan warteten an beiden Seiten. Hinter ihnen standen mehr als eintausend Elben und Zwerge bereit. Sie hatten das Tal über den Nordpaß betreten, vorbei an Streitkräften des Königreichs, die sich dort gesammelt hatten. Sie hatten die Lichtung umrundet und sich in den Wäldern im Westen gesammelt, von wo aus ihnen ein klarer Blick auf die Vorgänge möglich war.

Tomas wandte sich an seine beiden Kameraden. »Ich sehe wenig, was auf einen Verrat hindeutet.«

Ein zweiter Zwerg, Harthorn aus Bergenstein, kam zu ihnen. »Aye, Elbling. Sieht alles recht friedlich aus, trotz der Warnung des Zauberers.«

Doch plötzlich erhob sich ein Hitzeflimmern über dem Feld. Es ließ die Bilder vor ihren Augen verschwimmen, flackern, und dann konnten Tomas und die anderen sehen, wie Tsurani-Soldaten ihre Waffen zogen.

Tomas wandte sich an die anderen hinter sich und sagte: »Haltet euch bereit!«

 

Ein Soldat ritt auf den Pavillon zu. Mißtrauisch schauten die Tsurani-Herrscher ihn an, denn bislang waren die einzigen Soldaten, die sich dem Pavillon genähert hatten, diejenigen gewesen, die die Erfrischungen serviert hatten.

»Hoheit!« rief er. »Etwas Merkwürdiges geschieht!«

»Was?« fragte Lyam, beunruhigt wegen der Erregtheit des Mannes.

»Von unserer Position aus können wir Gestalten erkennen, die sich durch den Wald nach Westen begeben.«

Lyam erhob sich und sah die Fremden am Rande des Waldes. Nach einer Weile, während der Pug dem Kaiser den Wortwechsel übersetzte, sagte Lyam: »Das müssen die Zwerge und die Elben sein.« Er wandte sich an Ichindar. »Ich habe der Elbenkönigin und den Kriegsführern der Zwerge vom Frieden berichtet. Sie müssen sich jetzt nähern.«

Der Kaiser trat neben Lyam und musterte den Wald. »Warum bleiben sie zwischen den Bäumen stehen? Warum versuchen sie, sich zu verbergen?«

Lyam wandte sich an den Reiter. »Reiter, bitte diejenigen zwischen den Bäumen, sich zu uns zu gesellen.«

Der Posten gehorchte. Als er den halben Weg zum Wald zurückgelegt hatte, erhob sich ein Schrei von den Bäumen, und grüngewandete Elben und Zwerge in Rüstungen stürzten vorwärts.

Schlachtrufe und Schreie erfüllten die Luft. Verwirrt schaute Ichindar auf die herbeistürzenden Gestalten. Einige seiner Begleiter zogen die Waffen. Ein Soldat aus den Reihen der Tsuranis eilte zum Pavillon und rief: »Majestät, man hat uns hintergangen! Das ist eine Falle!«

Jeder einzelne Tsurani zog sich mit gezogener Waffe zurück. Ichindar schrie: »Handelt Ihr so um Frieden? Sprecht Ihr von Frieden, während Ihr den Verrat plant?«

Lyam verstand seine Worte nicht, aber der Ton ließ ihm die Bedeutung klar werden. Er packte Pugs Arm. »Sag ihm, ich weiß nichts davon!«

Pug versuchte, seine Stimme über den Aufruhr im Pavillon zu erheben, aber die Tsurani-Edlen wichen zurück. Sie umringten dabei das Licht des Himmels, während Soldaten aus den Reihen der Tsuranis herbeieilten, um Ichindar zu beschützen.

Lyam rief: »Zurück! Zurück zu unseren eigenen Reihen!«, als sich die Tsurani-Soldaten näherten. Schnell bestiegen die Männer aus Midkemia ihre Pferde.

Pug hörte Ichindars Stimme über dem Lärm: »Verräter, nun zeigt Ihr Eure wahre Natur. Niemals wird Tsuranuanni mit jenen handeln, die ohne Ehre sind. Wir werden Euer Königreich zu Staub zermalmen!«

Kampflärm brach los, als die Elben und Zwerge mit den Tsurani-Soldaten zusammenstießen.

Lyam und die anderen rasten zu ihren eigenen Soldaten zurück, die nur darauf warteten, sich in den Kampf zu stürzen. Als Lyam sein Pferd zügelte, sagte Lord Brucal: »Sollen wir vorrücken, Hoheit?«

Lyam schüttelte den Kopf. »Ich will nicht an einem Verrat beteiligt sein.«

Er betrachtete das Bild vor sich. Die Elben und Zwerge drängten die Tsuranis zurück zur Spaltmaschine. Der Kaiser und seine Garde wichen dem Kampf aus und versuchten, die tausend Mann der Ehrengarde zwischen den Angreifern und sich selbst zu halten. Man konnte Läufer sehen, die durch den Spalt verschwanden.

Einen Augenblick später brachen Tsurani-Soldaten aus dem Spalt hervor. Sie stürzten vorwärts, um ihre Angreifer zu bekämpfen. Die Tsuranis hielten dem Angriff stand und versuchten dann sogar, die Elben und Zwerge zurückzudrängen.

Arutha ritt neben Lyam. »Lyam! Wir müssen angreifen. Schon bald werden die Elben überwältigt werden. Auf der anderen Seite des Spaltes warten zehntausend weitere Tsuranis. Sie sind nur einen Schritt entfernt. Wenn du wirklich hoffst, diesen blutigen Krieg zu beenden, dann müssen wir diese Maschine in unsere Hand bekommen.«

Pug trieb sein eigenes Pferd auf die andere Seite von Lyams Tier. »Lyam!« rief er. »Du mußt tun, was Arutha sagt.«

Noch immer zweifelte der junge Thronerbe. Pugs Stimme wurde noch lauter. »Versteh doch: Neun Jahre lang habt ihr euch nur einem Teil der Macht innerhalb des Kaiserreiches gegenüber gesehen, nur den Soldaten gegenüber, die zu den Clans der Kriegspartei gehören. Bisher hattet ihr viele verborgene Verbündete, die einen Ausfall gegen das Königreich abgeblockt haben. Aber dieser Verrat hat jetzt den einzigen Mann verärgert, der Gehorsam von allen Clans des Kaiserreichs verlangen kann. Ichindar kann jedem einzelnen Clan von Tsuranuanni befehlen, gegen das Königreich in den Krieg zu ziehen!

Nie haben euch an allen Fronten mehr als dreißigtausend Krieger gegenübergestanden. Bis morgen können diese dreißigtausend wieder in diesem Tal sein. In einer Woche noch einmal doppelt so viele. Lyam, du hast keine Ahnung, wie groß seine Macht ist. Innerhalb eines Jahres kann er eine Million Männer und eintausend Magier gegen uns senden! Du mußt handeln!«

Lyam saß steif auf seinem Pferd, und Verbitterung zeigte sich deutlich auf seinem Gesicht.

»Kannst du uns helfen?«

»Vielleicht, wenn du mir einen Weg öffnest, damit ich die Maschine erreichen kann. Aber ich weiß nicht, ob ich über die Fähigkeiten verfüge, den Spalt zu verschließen. Ich habe andere Kräfte.

Aber selbst wenn ich meine Ausbildung außer acht lassen und mich gegen das Kaiserreich stellen kann, selbst wenn ich jeden einzelnen Mann auf diesem Schlachtfeld töte, so würde das nur wenig nutzen, denn eine weit größere Streitmacht wäre immer nur einen Schritt entfernt.«

Lyam nickte kurz. Dann wandte er sich langsam Arutha zu. »Entsende Galopper zu den Pässen des Nordens und des Südens. Rufe alle Armeen des Königreiches zu den Waffen.« Arutha wirbelte herum und brüllte seinen Befehl, und Reiter stoben zu beiden Pässen davon.

Lyam wandte sich wieder Pug zu. »Wenn du helfen kannst, dann tu es, aber erst, wenn der Weg sicher ist. Du bist der einzige Meister deiner Künste auf unserer Welt.« Indem er auf Laurie, Meecham und Kulgan deutete, sagte er: »Halte auch sie den Kämpfen fern, denn sie haben nichts damit zu tun. Haltet euch zurück, und sollten wir versagen, dann setze all deine Künste ein, um nach Krondor zu gelangen. Carline und Anita müssen in den Osten reisen, zu ihrem Großonkel Caldric, denn der Westen wird dann sicher in die Hände der Tsuranis fallen.« Er zog sein Schwert und gab den Befehl zum Vormarsch.

Die tausend Reiter stürzten sich vorwärts, eine sich bewegende Mauer aus Stahl, und Offiziere brüllten ihre Befehle und hielten die Kolonnen in Ordnung. Dann gab Lyam das Zeichen zum Angriff. Die Reihen gerieten in Unordnung, als sich Reiter auf die Tsuranis stürzten. Die Tsuranis hörten das Donnern der Kavallerie und ließen von den Elben und Zwergen ab, um eine Mauer aus Schilden zu bilden. Pug, Laurie, Meecham und Kulgan sahen zu, wie die Reiter des Königreiches dagegen prallten. Pferde und Männer schrien auf, als lange Speere sich bogen und dann brachen.

Der Schildwall schwankte. Männer fielen, aber andere sprangen vor, um ihre Plätze einzunehmen.

Die Armee des Königreiches wurde zurückgetrieben. Lyam formierte seine Truppen und griff erneut an, und diesmal durchbrachen sie den Schildwall.

Pug konnte sehen, wie die rechte Seite der Tsurani-Soldaten vor den Reitern zurückwich. Der Kaiser rief selbst seine Soldaten zusammen, und die Mitte der Reihe hielt stand. Selbst auf diese Entfernung hin konnte Pug erkennen, daß die Edlen der Tsuranis den Kaiser zu überreden versuchten, zu fliehen.

 

Der Kaiser stand mit gezogenem Schwert und erteilte seine Befehle. Er weigerte sich, das Schlachtfeld zu verlassen. Er formierte seine Männer zu einem dichten Kreis, um die Spaltmaschine zu schützen, damit andere Soldaten aus Kelewan in dieses Tal zurückkehren konnten. Er schaute sich um und erkannte, daß die Soldaten jetzt in größerer Zahl aus dem Spalt strömten. Schon bald würden es genug sein, um die kleine Streitmacht des Königs zu zerstören.

Ein schwaches Zittern wurde unter seinen Füßen spürbar, und dann deutete einer der Tsurani-Herrscher in die Richtung hinter dem Kaiser. Ichindar entdeckte Hunderte von Reitern, die zwischen den Bäumen im Norden hervorbrachen. Die Kavallerie-Einheiten des Nordens waren die ersten, die auf Lyams Ruf hin erschienen. Der Kaiser schickte neu eintreffende Soldaten zur Nordflanke, um der Bedrohung zu begegnen.

Ein Ruf von links veranlaßte ihn, sich umzuwenden. Ein riesiger Krieger in weiß-goldener Rüstung hieb eine Schneise in die Tsurani-Garde und bahnte sich seinen Weg direkt zum Licht des Himmels. Alle Tsurani-Herrscher stürzten herbei, um ihn abzuwehren. Der Truppenführer eines Clans stand in der Nähe. Jetzt eilte er zum Kaiser und rief: »Majestät, Ihr müßt Euch zurückziehen.

Wir können nur noch eine kurze Weile standhalten. Wenn Ihr fallt, ist das Kaiserreich ohne Herz, und die Götter werden ihr Antlitz von uns wenden.«

Der Kaiser versuchte, sich an ihm vorbeizudrängen, als der weiß-goldene Riese einen anderen Herrscher niederschlug. Der Offizier sagte: »Möge der Himmel ein Einsehen haben«, dann schlug er Ichindar mit der flachen Seite seines Schwertes über den Kopf. Der Kaiser sackte zu Boden, und der Truppenführer rief Soldaten herbei, die ihn durch den Spalt tragen sollten. »Der Kaiser ist überwältigt! Bringt ihn in Sicherheit!« Ohne zu fragen, hoben die Soldaten den obersten Herrscher auf und schleppten ihn zur Maschine.

Ein Befehlshaber eilte an die Seite des Truppenführers und rief: »Herr, all unsere Edlen sind getötet worden!« Der Truppenführer konnte sehen, daß der große Krieger allein durch die Anzahl der Tsurani-Soldaten zurückgedrängt wurde, die sich ihm in den Weg stellten, aber erst, nachdem er jeden wichtigen Kriegsführer niedergemetzelt hatte, der den Kaiser begleitet hatte. Ein kurzer Blick gab dem Truppenführer zu erkennen, daß der Kaiser schon fast in Sicherheit war, denn in diesem Augenblick verschwanden die Soldaten, die Ichindar trugen, auf der anderen Seite des Spalts.

Immer mehr Soldaten strömten aus dem Spalt herbei. Der Truppenführer wußte, daß keine Zeit mehr zu verlieren war, und erklärte: »Ich werde als Kommandeur der Armee handeln! Ihr seid mein Stellvertreter. Mehr Männer nach Norden!« Der Mann eilte davon, um weitere Soldaten entlang der Nordflanke zu postieren, während die Kavallerie aus dem Nordpaß in einem irrwitzigen Galopp herbeistürmte.

Donnernd stießen die Angreifer aus dem Norden mit den Tsuranis zusammen. Der hastig errichtete Schildwall schwankte, hielt aber stand. Der Kommandeur sah sich um und betete, daß sie durchhalten könnten, bis ausreichend Verstärkung eingetroffen war.

 

Pug und seine drei Kameraden konnten sehen, wie die Armeen des Königreichs gegen den Schildwall prallten. Speere klirrten, Pferde stürzten, und Männer wurden schreiend von ihren Hufen niedergetrampelt. Aber immer noch hielt die Wand stand, und die königlichen Streitkräfte zogen sich zurück, um sich zu einem erneuten Angriff zu formieren. Lyam befahl den Rückzug, damit er seinen Angriff auf den aus dem Norden abstimmen konnte. Die Elben und Zwerge unter Tomas befanden sich mitten zwischen den Tsuranis im Westen. Sie bedeuteten ein großes Hindernis, obwohl auch sie allmählich zurückgetrieben wurden.

Als die Reiter abzogen, wurde die Aufmerksamkeit der Tsuranis auf die Elben und Zwerge gelenkt. Die Soldaten, die sich auf der Nord- und Südflanke hinter dem Schildwall befanden, verließen ihre Posten, um ihre Kameraden an der Westflanke zu unterstützen.

Als er dies sah, meinte Meecham: »Wenn die Elben sich nicht zurückziehen, werden die Tsuranis sie überwältigen.« Als hätte man ihn gehört, konnten die vier Beobachter jetzt erkennen, wie sich die Elben und Zwerge im Westen unter dem Schutz von elbischen Bogenschützen zurückzogen.

Kulgan sagte zu Pug: »Diese Frist dient dazu, den Tsuranis neue Kraft zu geben.« Sie konnten sehen, wie immer neue Tsurani-Soldaten durch den Spalt einströmten. »Wenn Lyam die Maschine nicht nach dem nächsten Angriff erreicht, werden die Tsuranis im selben Maße stärker, wie wir schwächer werden.«

»Er kann sie nur aufhalten, wenn es ihm gelingt, Bogenschützen am Eingang zum Spalt aufzustellen. Ein unaufhörlicher Hagel von Pfeilen durch den Spalt sollte ausreichen, um sie so lange abzuhalten, daß eine Art Barriere errichtet werden kann. Dann sind wir vielleicht in der Lage, sie funktionsunfähig zu machen.«

»Kann man sie denn nicht zerstören, Pug?« fragte Laurie. »Das Risiko ist sonst so groß.«

Pug dachte einen Augenblick still nach. »Ich weiß nicht, ob meine Kräfte ausreichen, um den Spalt zu zerstören. Aber ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich es versuche.«

Gerade wollte er sein Pferd vorwärts treiben, als eine Stimme hinter ihm rief: »Nein!«

Sie alle wandten sich um und erblickten eine braungewandete Gestalt mit einem Stab m der Hand. Sie stand an einer Stelle, wo im Augenblick zuvor noch niemand gewesen war. »Selbst deine Kräfte sind dieser Aufgabe nicht gewachsen, Erhabener.«

»Macros!« rief Kulgan aus.

Macros lächelte ein bitteres Lächeln. »Wie ich vorhergesagt habe, bin ich da, wenn die Not am größten ist. Die Stunde ist ernst.«

»Was muß geschehen?« wollte Pug wissen.

»Ich werde den Spalt schließen, aber dazu benötige ich deine Hilfe.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Kulgan zu. »Wie ich sehe, hast du immer noch den Stab bei dir, den ich dir gegeben habe. Gut. Steig ab.«

Pug und Kulgan glitten von ihren Pferden. Pug hatte ganz vergessen, daß Kulgans ständiger Begleiter, sein Stock, der Stab war, den Macros ihm gegeben hatte.

Macros trat vor Kulgan hin. »Stecke ein Ende des Stabes fest in die Erde.« Er wandte sich ab und reichte Pug den Stab, den er selbst trug. »Dieser Stab ist der Zwilling des anderen. Halte ihn ganz fest und lockere deinen Griff niemals, auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde, wenn du unsere Aufgabe überleben willst.« Er betrachtete die Schlacht aus der Entfernung. »Wir haben die festgesetzte Stunde schon fast erreicht, aber noch nicht ganz. Hört gut zu, denn die Zeit wird knapp.« Er sah erst Pug, dann Kulgan an. »Wenn dies alles vorüber und der Spalt geschlossen ist, denn kehrt auf meine Insel zurück. Ihr werdet dort die Erklärungen für all das finden, was geschehen ist, wenn sie euch auch vielleicht nicht voll zufriedenstellen.« Wieder erschien dieses bittere Lächeln. »Kulgan, wenn du hoffst, deinen früheren Schüler wiederzusehen, dann umklammere diesen Stab mit aller Kraft, die du besitzt. Behalte Pug in deinen Gedanken, und achte darauf, daß der Kontakt zwischen deinem Stock und der Erde Midkemias niemals unterbrochen wird. Ist das klar?«

»Aber was wird aus Euch selbst?« fragte Kulgan.

Macros Ton war barsch. »Meine Sicherheit geht nur mich selbst an. Sorgt euch nicht um mich.

Meine Aufgabe in diesem Drama war ebenso im vorhinein festgelegt wie die eure. Jetzt paßt auf.«

Sie wandten ihre Aufmerksamkeit wieder der Schlacht zu. Die nördlichen Elemente der königlichen Armee griffen an, und Lyam und Tomas erteilten ihren eigenen Einheiten den Befehl zum Angriff. Wieder trafen die Reiter auf den Schildwall, und diesmal brachen die Reihen der Tsuranis auseinander. Einen Augenblick lang beherrschte die königliche Kavallerie das Feld, und die Tsuranis brachen zusammen. Doch dann war der Vorteil des Angreifens dahin. Sie wurden von einem Schwärm von Fußsoldaten abgewiesen, die die Pferde unter ihren Reitern töteten oder Reiter zu Boden zerrten, und bald war das Gleichgewicht wiederhergestellt. Ein Meer von kämpfenden Gestalten umgab die Spaltmaschine. Es gab keine Organisation und kaum Disziplin. Die Männer kämpften ums Überleben, nicht darum, an Boden zu gewinnen. Das Geräusch von Metall, das gegen gehärtetes Holz schlug, klang durchs Tal. Wohin die Zuschauer auch blickten, überall floß Blut, und der Lärm des Todes war entsetzlich.

Macros sah Pug an. »Jetzt ist die Zeit gekommen. Begleite mich.«

Pug schritt hinter dem braungewandeten Zauberer einher. Er hielt Macros’ Stab fest umklammert, denn er glaubte an die Warnung des Zauberers, daß es seine einzige Hoffnung war, zu überleben, was vor ihm lag. Sie schritten durch das Schlachtgetümmel hindurch, als würde irgend etwas sie beschützen. Mehrmals setzte ein Soldat an, sie zu erschlagen, aber jedesmal wurde er von anderer Seite daran gehindert. Pferde trampelten sie fast nieder – und drehten dann im letzten Augenblick bei. Es war, als öffne sich ein Pfad vor ihnen und schlösse sich dann hinter ihnen wieder.

Sie näherten sich dem, was von den Reihen der Tsuranis noch übrig war. Ein Schildhalter fiel, getroffen von der Lanze eines Reiters. Sie traten über den Toten hinweg und befanden sich in dem kleinen, relativ ruhigen Zirkel, der die Spaltmaschine umgab. Noch immer ergossen sich Soldaten aus dem Spalt, und der Zirkel vergrößerte sich. Macros und Pug stiegen auf der gegenüberliegenden Seite auf die Plattform, während von der näher gelegenen Soldaten hervoreilten. Sie schienen die beiden Magier überhaupt nicht zu bemerken.

Macros trat in die Leere des Spaltes. Pug folgte ihm. Doch anstatt in Kelewan aufzutauchen, wie er es erwartet hatte, hingen sie an einem farblosen Ort. Jeglicher Ortssinn ging hier verloren. Er war ohne Licht, aber dennoch nicht dunkel. Er bestand aus diversen Schatten von Grau, ohne Schwarz oder Weiß. Pug fand sich allein. Nur das Geräusch seines Herzschlags beruhigte ihn, daß er nicht aufgehört hatte, zu sein. Leise fragte er: »Macros?«

Dessen Stimme drang an sein Ohr: »Hier, Pug.«

»Ich kann Euch nicht sehen.«

Ein Kichern war zu hören. »Nein, weil es kein Licht gibt. Was du siehst, ist nur eine schwache Illusion, mein Werk, damit du hier einen Bezugspunkt hast. Ohne die nötige Vorbereitung wären selbst deine Kräfte nicht in der Lage, dir hier deinen Verstand zu bewahren, Pug. Akzeptiere einfach, daß der menschliche Geist kaum geeignet ist, mit diesem Ort fertig zu werden.«

»Was ist das für ein Ort?«

»Das ist der Ort dazwischen. Hier kämpften die Götter während der Chaotischen Kriege, und hier werden auch wir unser Werk vollbringen.«

»Männer sterben, Macros. Wir sollten uns beeilen.«

»Hier gibt es keine Zeit, Pug. Für diejenigen da draußen in der Schlacht sind wir in einem Augenblick erstarrt. Wir könnten alt werden und sterben, und auf dem Schlachtfeld wäre noch keine Sekunde vergangen.

Aber dennoch müssen wir unsere Aufgabe schnell durchführen. Selbst ich könnte das nicht tun, ohne doch eine ganze Menge Energie dafür zu verbrauchen, um uns am Leben zu erhalten, Energie, die wir benötigen, um unser Werk zu vollbringen. Wir dürfen uns nicht zu lange aufhalten, aber es gibt ein paar Dinge, die ich dir noch sagen muß. Ich habe lange gewartet, daß du dein Versprechen erfüllst. Ich konnte den Spalt nicht ohne deine Hilfe schließen.«

Pug sprach, obwohl seine Sinne gegen die graue Landschaft zu allen Seiten rebellierten, und auch gegen die körperlose Stimme, die sich nur ein kurzes Stück entfernt von ihm zu befinden schien. »Ihr seid es gewesen, der den Spalt beiseite drehte, als der Fremde kam und der Feind die Nationen Tsuranuannis beanspruchen wollte. Das hat gewiß eine Menge Energie erfordert.«

Er konnte den Zauberer kichern hören. »Du erinnerst dich noch an dieses Detail? Nun, damals war ich noch jünger.« Als wüßte er, daß das eine unbefriedigende Antwort war, fügte Macros noch hinzu: »Damals war der Spalt ein wildes Etwas, geschaffen vom Willen derer, die auf den Türmen der Versammlung standen. Ich wandte es nur einem anderen Ort zu, und das unter großen Risiken.

Jetzt ist der Spalt kontrollierbar, fest verankert in Kelewan und beherrscht von einer Maschine. Das, was es beherrscht, viele miteinander verwobene Zaubersprüche, hält mich davon ab, den Spalt zu manipulieren. Ich kann nur eines tun: ihm ein Ende setzen. Und dafür benötige ich deine Hilfe.

Aber ehe wir diesem Drama ein Ende bereiten, möchte ich dir noch folgendes sagen: Du wirst das meiste verstehen, wenn du meine Insel erreichst. Aber eines möchte ich, daß du nicht vergißt.

Bitte denk daran, daß ich das, was ich getan habe, tun mußte, weil es mein Schicksal war. Ich möchte, daß du freundlich an mich zurückdenkst.«

Obwohl er den Zauberer nicht sehen konnte, spürte Pug, daß er ihm ganz nahe war. Er wollte etwas sagen, wurde aber von Macros’ Stimme unterbrochen. »Wenn ich fertig bin, setze alles ein, was dir an Kraft und Energie geblieben ist, um dich zu Kulgan zu wünschen. Der Stab wird dir dabei helfen, aber du mußt dich voll auf diese Aufgabe konzentrieren. Wenn du versagst, wirst du vergehen.«

Es war Macros’ zweite Warnung, und zum erstenmal seit Jahren hatte Pug Angst. »Was wird aus Euch?«

»Paß auf dich selbst auf, Pug. Ich habe andere Sorgen.«

Dann kam das Gefühl einer Veränderung, als würde sich das Nichts um sie her langsam ändern.

Macros sagte: »Auf mein Kommando hin mußt du all deine Kraft freisetzen. Alles, was du bei den kaiserlichen Spielen getan hast, war nur ein Schatten dessen, was du jetzt tun mußt.«

»Ihr wißt davon?«

Wieder dieses Kichern. »Ich war dort, wenngleich mein Platz auch armselig verglichen mit dem deinen war. Ich muß zugeben, es war recht eindrucksvoll. Selbst mir wäre es schwergefallen, eine solche Vorstellung zu geben. Aber jetzt bleibt uns keine Zeit mehr. Warte auf meinen Befehl, und dann laß deine Kraft auf mich zuströmen.«

Pug sagte nichts. Er konnte die Anwesenheit des Zauberers vor sich spüren; wieder war da dieses Gefühl einer Veränderung um ihn her. Plötzlich umgab ihn blendendhelles Licht, dann Dunkelheit.

Einen Augenblick später explodierten grelle Farben auf allen Seiten. Es war eine Zurschaustellung von Energie, wie er sie im Spalt der Goldenen Brücke erlebt hatte, primitive Mächte, die er nicht erkannte.

»Jetzt, Pug!« erklang Macros’ Schrei.

Pug beugte seinen Willen der Aufgabe und griff in das tiefste Innere seines Seins. Von dort holte er alles an magischer Kraft, was er von den beiden Welten erhalten hatte. Kräfte, die ausreichten, um Berge zu zerstören, Flüsse von ihrem Lauf abzubringen, Städte dem Erdboden gleichzumachen – all das rief er zusammen. Dann, als schleudere er etwas von sich, das zu halten schmerzhaft gewesen wäre, richtete er all diese Energie dorthin, wo er den Zauberer zu spüren glaubte. Eine unvorstellbare, irrwitzige Explosion jener Mächte war die Folge, Zeit und Raum schrien auf. Pug konnte fühlen, wie sie sich um ihn her drehten und wendeten, als versuchte das Universum, die Eindringlinge hinauszujagen. Dann kam ein kurzer Augenblick der Entspannung – und schließlich wurden sie ausgespien.

Pug hatte das Gefühl, durch völlige Finsternis zu schweben. Er flutete dahin, taub und ohne zusammenhängenden Gedanken. Sein Geist war unfähig zu akzeptieren, was er gespürt hatte, und er war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Er fühlte, wie seine Finger schlaff wurden, und der Stab begann aus seiner Hand zu gleiten. Ganz instinktiv umklammerte er ihn wieder fester. Dann bemerkte er ein schwaches Zerren. Sein Geist widerstand der kühlen Finsternis, die ihn zu überwältigen suchte, und er bemühte sich, sich an etwas zu erinnern. Um ihn her wurde es kalt, und er konnte fühlen, wie seine Lungen vor Sehnsucht nach Luft brannten. Wieder versuchte er, sich etwas ins Gedächtnis zu rufen, aber es wollte nicht kommen. Dann spürte er wieder das Ziehen, und eine schwache, aber vertraute Stimme drang aus nächster Nähe an sein Ohr.

»Kulgan?« murmelte er schwach. Dann riß ihn die Dunkelheit mit sich fort.

 

Der Kommandeur der Tsuranis war am Leben. Er staunte über dieses Wunder als er die anderen sah, die tot vor der Spaltmaschine lagen. Die Explosion vor einer Minute hatte Hunderte getötet, und andere lagen benommen in einiger Entfernung.

Er erhob sich und grübelte, was geschehen war. Die schreckliche Zerstörung des Spalts war auch keine Hilfe für die königlichen Streitkräfte gewesen. Verzweifelt versuchten die Reiter, scheuende Pferde zu beruhigen. Man sah andere Tiere, die davon stürzten, nachdem sie ihre Reiter abgeworfen hatten. Überall um ihn her herrschte Verwirrung. Aber diejenigen, die weiter entfernt waren, waren weniger benommen, und schon wurde der Kampf wiederaufgenommen.

Jetzt, da sie von Kelewan abgeschnitten waren, gab es wenig Hoffnung auf Hilfe oder auf eine sichere Rückkehr. Doch zahlenmäßig waren sie dem Feind noch immer kaum unterlegen, und es bestand die Möglichkeit, daß der Sieg ihrer sein würde. Über den Spalt konnte er sich später immer noch Gedanken machen.

Ganz plötzlich hörte der Kampflärm auf, als sich die königlichen Streitkräfte zurückzogen. Der Kommandeur sah sich um, und nachdem er keinen Offizier höheren Ranges entdeckte, fing er an, Befehle zu erteilen, um einen neuen Schildwall für den nächsten Angriff vorzubereiten.

Die königlichen Streitkräfte gruppierten sich ebenfalls erneut. Sie griffen nicht an, sondern bezogen gegenüber den Tsuranis Stellung. Der Kommandeur wartete, während seine Soldaten sich vorbereiteten. Auf allen Seiten hielten sich königliche Reiter bereit, aber noch immer näherten sie sich nicht.

Langsam wuchs die Spannung. Der Kommandeur erteilte den Befehl, eine Plattform zu errichten. Vier Tsuranis packten einen Schild, und er stieg hinauf. Dann hoben sie ihn empor. Seine Augen weiteten sich. »Sie haben Verstärkung erhalten.« Weit im Süden konnte er die sich nähernden Truppen des Königreichs sehen, die über den Südpaß herbeizogen. Sie waren weiter vom Tal entfernt gewesen und erreichten das Schlachtfeld erst jetzt.

Ein Ruf aus der jenseitigen Richtung veranlaßte ihn, gen Norden zu blicken: Königliche Infanterie näherte sich von den Bäumen her. Wieder wandte er seine Aufmerksamkeit nach Süden und strengte seine Augen an. Im fernen Dunst konnte er die Anzeichen einer großen Streitmacht erkennen, die hinter der Kavallerie einherzog. Der Offizier befahl, den Schild zu senken, und sein Unteroffizier erkundigte sich: »Was gibt es?«

»Ihre gesamte Armee nähert sich dem Feld.« Er schluckte hart, und die für gewöhnlich herrschende Gleichgültigkeit der Tsuranis war dahin. »Mutter der Götter! Es müssen mindestens dreißigtausend Mann sein.«

»Dann werden wir ihnen einen Kampf liefern, der eine Ballade wert ist, ehe wir sterben«, erklärte sein Unteroffizier.

Der Kommandeur sah sich um. Auf allen Seiten standen blutende, verwundete, benommene Soldaten. Nur ein Drittel der königlichen Armeen, die ihnen gegenüberstanden, hatte bisher gekämpft. Volle zwanzigtausend ausgeruhte Soldaten näherten sich viertausend Tsuranis, von denen die Hälfte nicht mehr in der Lage war, voll zu kämpfen. Der Kommandeur schüttelte den Kopf. »Es wird keinen Kampf mehr geben. Wir sind von daheim abgeschnitten, vielleicht für alle Zeiten. Es hat keinen Sinn.«

Er schritt an seinem überraschten Unteroffizier vorüber zum Schildwall. Dann hob er beide Hände über seinen Kopf, als Zeichen seiner Bereitwilligkeit zu verhandeln, und schritt langsam auf Lyam zu. Er fürchtete den Augenblick, in dem er als erster Tsurani-Offizier der Geschichte seine Truppen unterwerfen würde. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er den Prinzen erreicht hatte. Er nahm den Helm ab und kniete nieder.

Dann schaute er zu dem großen, blondhaarigen Prinzen des Königreichs auf und sagte: »Herzog Lyam, ich überstelle meine Männer Eurer Fürsorge. Nehmt Ihr unsere Kapitulation an?«

Lyam nickte. »Ja, Kasumi. Ich nehme sie an.«

 

Dunkelheit. Dann ein sich sammelndes Grau. Pug zwang seine schweren Lider, sich zu öffnen.

Über ihm schwebte das vertraute Gesicht Kulgans.

Jetzt verzog es sich zu einem breiten Lächeln. »Es ist gut zu sehen, daß du wieder unter uns weilst. Wir wußten nicht, ob du wirklich noch lebendig warst. Dein Körper war so kalt, als ich ihn berührte. Kannst du dich aufsetzen?«

Pug nahm den angebotenen Arm und stellte fest, daß Meecham neben ihm kniete und ihm half, sich aufzurichten. Er konnte fühlen, wie die Kälte aus seinen Gliedern wich, als die hellen Sonnenstrahlen seinen Körper erwärmten. Einen Augenblick saß er ganz still, dann sagte er: »Ich glaube, ich werde leben.« Als er das sagte, fühlte er, wie die Kraft in seinen Körper zurückkehrte.

Nach einer Weile war er in der Lage aufzustehen.

Um ihn her konnte er die versammelten Armeen des Königreichs sehen. »Was ist geschehen?«

Laurie erklärte: »Der Spalt ist zerstört, und die Tsuranis, die überlebt haben, haben sich ergeben. Der Krieg ist vorüber.«

Pug war zu schwach, um ein Gefühl zu empfinden. Er schaute in die Gesichter um sich her und konnte die Erleichterung in ihren Augen erkennen. Plötzlich umarmte Kulgan ihn herzhaft. »Du hast dein Leben riskiert, um diesem Wahnsinn ein Ende zu machen. Es ist dein Sieg, mehr als der irgendeines anderen Mannes.«

Pug stand ganz still. Dann trat er von seinem ehemaligen Meister zurück. »Macros ist es, der den Krieg beendet hat. Ist er zurückgekehrt?«

»Nein. Nur du, und kaum warst du hier, da sind beide Stäbe verschwunden. Von ihm – kein Zeichen.«

Pug schüttelte den Kopf und versuchte, die Benommenheit abzulegen. »Was jetzt?«

Meecham schaute über seine Schulter. »Vielleicht wäre es klug, wenn du dich zu Lyam gesellen würdest. Dort scheint es Aufruhr zu geben.«

Laurie und Kulgan halfen Pug hinüber, denn er war noch immer von seinem Kampf mit dem Spalt geschwächt. Sie begaben sich zu der Stelle, wo Lyam, Arutha, Kasumi und die versammelten Edlen des Königreiches sie erwarteten. Von der anderen Seite des Feldes konnten sie die Elben und Zwerge näher kommen sehen, dahinter die Streitkräfte aus dem Norden des Königreichs.

Pug war überrascht, den älteren Sohn des Hauses der Shinzawai zu erblicken, denn er hatte geglaubt, dieser wäre wieder in Kelewan. Er sah schrecklich niedergeschlagen aus, wie er so dastand, ohne Helm oder Waffe, mit gesenktem Kopf, so daß er Pug und die anderen nicht näher kommen sah.

Pug wandte seine Aufmerksamkeit den Elben und Zwergen zu. Vier Gestalten gingen ihnen voraus. Milamber erkannte Dolgan und Calin. Dann war da noch ein weiterer Zwerg, der dem Magier unbekannt war. Als die vier den Prinzen schon fast erreicht hatten, sah Pug, daß der große Krieger in Weiß und Gold sein Freund aus Kindertagen war. Sprachlos starrte er ihn an. Er war über die Veränderung verblüfft, die mit Tomas vorgegangen war, denn sein alter Freund war jetzt eine ehrfurchterregende Gestalt, die einem Elben ähnlicher sah als einem menschlichen Wesen.

Lyam war zu erschöpft, um zornig zu sein. Er schaute den Kriegsführer der Elben nur an und sagte leise: »Aus welchem Grund hast du angegriffen, Tomas?«

Der Prinzgemahl der Elben erwiderte: »Die Tsuranis zogen Waffen, Lyam. Sie waren kurz davor, den Pavillon anzugreifen. Hast du das nicht bemerkt?«

Trotz seiner Müdigkeit erhob Lyam die Stimme. »Ich habe nur gesehen, wie sich deine Streitmacht auf eine Friedenskonferenz stürzte. Ich habe im Lager der Tsuranis nichts bemerkt, was nicht statthaft gewesen wäre.«

Kasumi hob den Kopf. »Hoheit, mein Wort darauf, wir haben unsere Waffen erst gezogen, als sich die dort zum Angriff anschickten.« Er wies auf Tomas’ Soldaten.

Lyam wandte sich wieder Tomas zu. »Habe ich nicht die Nachricht gesandt, daß Waffenstillstand herrschte? Und daß wir Frieden schließen wollten?«

»Richtig«, antwortete Dolgan. »Ich war dabei, als der Zauberer die Nachricht überbrachte.«

»Zauberer?« fragte Lyam. Er wandte sich um und rief: »Laurie! Ich möchte mit dir reden.«

Laurie trat vor. »Hoheit?«

»Hast du der Elbenkönigin die Nachricht überbracht, wie ich es gewünscht habe?«

»Auf mein Wort. Ich habe selbst mit der Elbenkönigin gesprochen.«

Tomas sah Lyam in die Augen, den Kopf zurückgelehnt, mit trotzigem Gesicht. »Und ich schwöre, daß ich diesen Mann bis zu diesem Augenblick noch nie zuvor im Leben gesehen habe. Macros war es, der uns die Kunde vom geplanten Verrat der Tsuranis überbrachte.«

Kulgan und Pug traten gleichzeitig vor. »Hoheit«, sagte Kulgan, »wenn der Zauberer seine Hand im Spiel hat – und es scheint so, als hätte er sie bei allem im Spiel –, dann wird es wohl das Beste sein, dieses Rätsel in aller Ruhe zu lösen.«

Lyam war immer noch zornig, aber Arutha sagte: »Laß es ruhen. Wir können im Lager darüber nachdenken.«

Lyam nickte nur kurz. »Wir kehren ins Lager zurück.« Der Thronerbe wandte sich Brucal zu.

»Stellt eine angemessene Eskorte zusammen und geleitet die Gefangenen ins Lager.« Dann wandte er sich an Tomas. »Auch dich möchte ich in meinem Zelt sehen, wenn wir zurückkehren. Es gibt vieles zu erklären.« Tomas stimmte notgedrungen zu. Lyam rief: »Wir kehren unverzüglich ins Lager zurück. Erteilt den Befehl!«

Die königlichen Offiziere ritten zu ihren Kompanien, und der Befehl wurde gegeben. Tomas wandte sich ab und fand sich einem Fremden gegenüber. Er starrte in das lächelnde Gesicht, bis Dolgan sagte: »Bist du blind, Junge? Erkennst du denn deinen eigenen Freund nicht mehr?«

Tomas sah Pug an, als der erschöpfte Magier näher trat. »Pug?« fragte er leise. Dann streckte er die Arme aus und umarmte seinen einst verlorenen Ziehbruder. »Pug!«

Schweigend standen sie beieinander, inmitten des Lärms, den die abziehenden Armeen machten, und beide hatten Tränen in den Augen. Kulgan legte den Männern die Hände auf die Schultern.

»Kommt, wir müssen umkehren. Es gibt vieles zu bereden. Den Göttern sei Dank, wir haben jetzt ausreichend Zeit dazu.«

 

Das Lager feierte. Zum erstenmal seit neun Jahren wußten die Soldaten des Königreiches, daß sie am kommenden Tag weder ihr Leben noch ihre Gesundheit würden gefährden müssen. Lieder ertönten an den Lagerfeuern, und von überall erscholl Gelächter. Den meisten war es gleichgültig, daß einige den ersten Tag des Friedens nicht mehr erleben würden. Alles, was die Feiernden wußten, war, daß sie unter den Lebenden weilten, und sie schwelgten in diesem Bewußtsein. Später würden sie noch genügend Zeit haben, um die verlorenen Kameraden zu betrauern. Jetzt genossen sie das Leben.

In Lyams Zelt war die Stimmung gedämpfter. Während sie zurückgeritten waren, hatte Kulgan über die Ereignisse des Tages nachgedacht. Als sie schließlich das Zelt erreichten, war der Magier aus Crydee in der Lage gewesen, einen groben Bericht von dem zu geben, was geschehen war. Er hatte seine Meinung den Anwesenden vorgetragen und endete jetzt damit: »Es sieht also so aus, als ob Macros beabsichtigt hätte, den Spalt zu schließen. Alles deutet darauf hin, daß diese schreckliche Duplizität zu diesem Zweck benutzt worden ist.«

Lyam saß da und hatte Arutha an seiner Seite. »Ich kann aber immer noch nicht verstehen, was ihn veranlaßt hat, solch ernste Maßnahmen zu ergreifen. Der heutige Kampf hat über zweitausend Menschenleben gekostet.«

Pug meldete sich zu Wort. »Ich vermute, daß wir die Antwort hierauf und auf andere Fragen finden werden, wenn wir seine Insel erreichen. Vorher, glaube ich, hat es gar keinen Sinn, Vermutungen anzustellen.«

Lyam seufzte. Dann sagte er zu Tomas: »Wenigstens bin ich überzeugt davon, daß du nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hast. Es wäre schrecklich gewesen, wenn du für das Gemetzel heute verantwortlich gewesen wärst.«

Tomas hielt einen Weinbecher in der Hand, aus dem er jetzt nippte. »Auch ich bin froh, daß wir keinen Grund zum Streit haben. Aber ich fühle mich in dieser Angelegenheit böse ausgenutzt.«

»Wie wir alle«, echoten Harthorn und Dolgan.

Calin sagte: »Es ist wahrscheinlich, daß wir alle eine Rolle in irgendeinem Platz des Schwarzen Meisters gespielt haben. Vielleicht ist es wirklich so, wie Pug gesagt hat, und wir werden die Wahrheit auf dem Eiland des Zauberers erfahren. Aber was mich betrifft, so verabscheue ich diese ganze blutige Angelegenheit.«

Lyam schaute zu Kasumi hinüber, der starr dasaß, die Augen nach vorn gerichtet, scheinbar ohne zu bemerken, was um ihn her vorging. »Kasumi«, sagte Lyam, »was soll ich mit dir und deinen Männern tun?«

Als sein Name fiel, erwachte Kasumi aus seiner Starrheit. »Hoheit, ich weiß etwas über Eure Art zu leben, denn Laurie hat mir vieles beigebracht. Aber ich bin doch immer noch ein Tsurani. In unserem Land würden die Offiziere zum Tode verurteilt und die Männer zu Sklaven gemacht werden. Ich kann Euch in dieser Angelegenheit nicht raten. Ich weiß nicht, wie man für gewöhnlich in Eurer Welt mit Kriegsgefangenen umspringt.«

Sein Ton war ausdruckslos und verriet keinerlei Gefühl. Lyam wollte etwas sagen, aber ein Zeichen von Pug ließ ihn verstummen. Der Magier wollte offensichtlich etwas hinzufügen.

»Kasumi?«

»Ja, Erhabener?« Tomas schaute bei dieser ehrenvollen Bezeichnung überrascht auf, sagte aber nichts. Als sie zum Lager zurückgekehrt waren, hatten die beiden Freunde nur Zeit gehabt, um ihre Geschichten in groben Zügen auszutauschen.

»Was hättet ihr getan, wenn ihr euch nicht dem Prinzen ergeben hättet?«

»Wir hätten bis zum Tode gekämpft, Erhabener.«

Pug nickte. »Verstehe. Dann bist du also dafür verantwortlich, das Leben von nahezu viertausend deiner Männer gerettet zu haben? Und das Leben von weiteren tausend Soldaten des Königreiches?«

Kasumis Gesicht verriet seine Scham. »Ich habe unter Eurem Volk gelebt, Erhabener. Vielleicht habe ich meine Tsurani-Ausbildung bereits vergessen. Ich habe Unehre über mein Haus gebracht.

Wenn der Prinz sich meiner Männer entledigt hat, werde ich um die Genehmigung ersuchen, mir selbst das Leben nehmen zu dürfen. Aber vielleicht ist es zu viel der Ehre, als daß er es mir gewähren wird.«

Brucal und die anderen sahen sich bei diesen Worten entsetzt an. Lyam verriet keinerlei Gefühl, sondern er sagte nur: »Du hast dich keiner unehrenhaften Tat schuldig gemacht. Nichts wäre anders gewesen, wenn du und deine Soldaten gestorben wären. Es gab keinen Grund zum Kämpfen mehr, nachdem der Spalt zerstört worden war.«

Kasumi widersprach: »So ist es bei uns Sitte.«

»Nicht mehr. Jetzt ist dies hier deine Heimat, denn ihr habt keine andere mehr. Was Kulgan und Pug uns über die Spalten erklärt haben, läßt es als unwahrscheinlich erscheinen, daß ihr je nach Tsuranuanni zurückkehren könnt. Ihr werdet hierbleiben, und es ist meine Absicht, dafür zu sorgen, daß sich dies zum Vorteil für uns alle entwickelt.«

Eine schwache Hoffnung zeigte sich in Kasumis Augen. Der Thronerbe wandte sich Lord Brucal zu und fragte: »Mein Herzog von Yabon, wie lautet Euer Urteil über die Tsurani-Soldaten?«

Der alte Herzog lächelte. »Sie gehören zu den besten, denen ich je gegenübergestanden habe.«

Bei dieser Bemerkung war Kasumi sein Stolz anzumerken. »Sie stehen den Kämpfern der Düsteren Bruderschaft in nichts nach, sind aber von edlerer Gesinnung. Sie sind diszipliniert wie die Hundesoldaten aus Kesh und ausdauernd wie die natalesischen Pfadfinder. Im großen und ganzen sind sie hervorragende Soldaten.«

»Würde eine Armee aus diesen Männern eine zusätzliche Sicherheit für unsere gefährdeten Grenzen im Norden bedeuten?«

Brucal lächelte. »Die Garnison von LaMut zählt zu den am schwersten getroffenen. Dort würden die Tsuranis eine wertvolle Ergänzung darstellen.«

Der Graf von LaMut stimmte dem Herzog zu. Lyam wandte sich an Kasumi. »Würdest du immer noch sterben wollen, auch wenn deine Männer frei und als Soldaten hierbleiben könnten?«

Der Shinzawai-Sohn erwiderte: »Wie ist das möglich?«

»Wenn du und deine Männer der Krone Treue schwören wollt, werde ich Euch dem Kommando des Grafen von LaMut unterstellen. Ihr würdet freie Bürger sein, und ihr würdet die Aufgabe erhalten, unsere nördliche Grenze gegen die Feinde der Menschlichkeit zu verteidigen, die in den Nordlanden hausen.«

Kasumi saß schweigend da. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Laurie trat zu ihm. »Darin liegt keine Unehre.«

Kasumis Gesicht verriet seine Erleichterung. »Ich nehme das Angebot an, und ich bin sicher, auch meine Männer werden das tun.« Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: »Wir kamen als Ehrengarde für den Kaiser. Nach allem, was ich gehört habe, sind wir ebenso wie alle anderen vom Zauberer ausgenutzt worden. Ich möchte nicht, daß seinetwegen noch mehr Blut vergossen wird.

Ich danke Eurer Hoheit.«

Lord Vandros sagte: »Ich denke, der Rang eines Ritter-Hauptmanns wäre für den Führer von nahezu viertausend Soldaten wohl angemessen. Seid Ihr meiner Meinung, Herzog?« Brucal nickte zustimmend, und Vandros fuhr fort: »Kommt, Hauptmann, wir sollten mit Eurer neuen Truppe sprechen.«

Kasumi erhob sich, verbeugte sich vor Lyam und ging mit dem Grafen von LaMut davon.

Arutha berührte seinen Bruder an der Schulter. Lyam wandte den Kopf, und der Prinz sagte:

»Genug mit den Staatsangelegenheiten. Es ist Zeit, daß wir das Ende dieses Krieges feiern.«

Lyam lächelte. »Richtig.« Er wandte sich an Pug. »Magier, lauf und hole deine reizende Frau und deinen prächtigen Sohn. Ich möchte von etwas, das nach Heim und Familie riecht, umgeben sein.«

Tomas schaute Pug an. »Frau? Sohn? Was heißt das?«

Pug lachte. »Es gibt viel zu erzählen. Wir können unsere Geschichten austauschen, sobald ich meine Familie geholt habe.«

Er begab sich zu seinem eigenen Zelt, wo Katala William eine Geschichte erzählte. Beide sprangen auf und rannten auf ihn zu, denn seit seiner Rückkehr hatten sie ihn noch nicht gesehen.

Er hatte nur einen Soldaten gesandt, der ihnen berichtete, daß er wohlauf und mit dem Prinzen beschäftigt sei.

»Katala, Lyam möchte, daß ihr uns beim Abendessen Gesellschaft leistet.«

William zupfte am Gewand seines Vaters. »Ich will auch kommen, Papa.«

Pug hob seinen Sohn empor. »Du auch, William.«

 

Die Feier, die im Zelt stattfand, war stiller als die außerhalb. Aber Laurie hatte sie mit seinen Balladen unterhalten, und sie hatten alle in dem Bewußtsein geschwelgt, daß endlich doch wieder Frieden herrschte. Das Essen war noch genauso wie vorher, aber dennoch schmeckte es ihnen besser. Auch eine gehörige Portion Wein hatte zu der festlichen Stimmung beigetragen.

Lyam hielt einen Becher Wein in der Hand. Überall im Zelt waren die anderen in leise Unterhaltungen vertieft. Der Thronerbe war ein wenig betrunken, aber niemand mißgönnte ihm diese Erleichterung, denn er hatte in den letzten Monaten vieles durchgemacht. Kulgan und Arutha, die ihn am besten kannten, wußten, daß Lyam an seinen Vater dachte, der jetzt hier mit ihnen sitzen würde, wäre nicht der Pfeil eines Tsurani gewesen. Nachdem er für den Krieg verantwortlich wurde und ihm dann noch die Thronfolge aufgezwungen worden war, hatte Lyam keine Zeit zum Trauern gefunden wie sein Bruder. Jetzt erst empfand er den vollen Verlust. 

Kulgan stand auf. Mit lauter Stimme erklärte er: »Ich bin müde, Hoheit. Gestattet Ihr mir, daß ich mich zurückziehe?«

Lyam lächelte seinem alten Lehrer zu. »Natürlich. Gute Nacht, Kulgan.«

Die anderen im Zelt folgten seinem Beispiel und verabschiedeten sich vom Erben. Vor dem Zelt wünschten sich die Gäste untereinander eine gute Nacht. Laurie, Kulgan, Meecham und die Zwerge zogen sich ebenfalls zurück, und nur Pug und seine Familie sowie Calin und Tomas blieben noch eine Weile stehen.

Die alten Freunde hatten den Abend damit verbracht, sich gegenseitig ihre Erlebnisse aus den vergangenen neun Jahren zu erzählen. Beide waren gleichermaßen überrascht über die Geschichte des anderen. Pug hatte sein Interesse an der Magie der Drachenherrscher bekundet, ebenso wie Kulgan. Sie hatten erklärt, daß sie eines Tages gern die Drachenhalle besuchen würden. Dolgan hatte sich daraufhin erboten, sie zu führen, wenn sie diese Reise tatsächlich antreten würden.

Jetzt glühte die neuerweckte Freundschaft in den beiden jungen Männern, wenngleich ihnen bewußt war, daß sie nicht mehr wie einst war. Zu viele und zu große Veränderungen waren mit beiden vor sich gegangen. Das wurde nicht nur durch die Drachen-Rüstung und die schwarze Robe, sondern auch durch William und Katala hervorgehoben.

Katala hatte die Elben und die Zwerge faszinierend gefunden – William war von allem begeistert gewesen, vor allem von den Zwergen, und jetzt lag er schlafend in den Armen seiner Mutter.

Diese wußte nicht, was sie von Tomas halten sollte. Er ähnelte Calin in vieler Hinsicht, aber dennoch sah er auch aus wie die anderen Männer im Lager.

Tomas betrachtete den schlafenden Jungen. »Er sieht aus wie seine Mutter, aber in ihm steckt vieles, was mich an einen anderen Knaben erinnert, den ich kannte.«

Pug lächelte über diese Worte. »Ich hoffe, daß sein Leben ruhiger verläuft.«

Arutha verließ das Zelt seines Bruders und gesellte sich zu ihnen. Er stand neben den beiden Jungen, die mit ihm vor so vielen Jahren zu den Minen von Mac Mordain Cadal geritten waren.

»Ich sollte das wohl besser nicht sagen, aber verjähren – als Ihr meinen Vater das erste Mal besuchen kamt, Calin – wurde die Unterhaltung von zwei Knaben belauscht, die sich in einem Heuwagen verborgen hatten.«

Tomas und Pug sahen den Prinzen beide verständnislos an. »Ihr erinnert euch nicht, oder?« fragte Arutha. »Ein blonder, dünner Kerl saß rittlings auf einem kleineren Knaben und erklärte, eines Tages würde er ein großer Krieger sein, den man in Elvandar willkommen heißen würde.«

Pug und Tomas lachten laut. »Ich erinnere mich«, meinte Pug.

»Und der andere versprach, er würde der größte Magier im Königreich werden.«

Katala bemerkte: »Vielleicht wird auch William seinen Traum verwirklichen, wenn er erwachsen ist.«

Arutha lächelte, und seine Augen funkelten verschmitzt. »Dann gebt gut auf ihn acht. Wir haben uns lange unterhalten, ehe er eingeschlafen ist, und er hat mir erzählt, daß er ein Zwerg werden will, wenn er erwachsen ist.« Alle lachten, außer Katala, die ihren Sohn mit besorgtem Gesicht betrachtete. Doch dann fiel auch sie in das fröhliche Gelächter ein.

Arutha und Calin wünschten den anderen eine gute Nacht, und Tomas sagte: »Auch ich werde jetzt zu Bett gehen.«

»Kommst du mit uns nach Krondor?« wollte Pug wissen.

»Nein, das geht nicht. Ich möchte zu meiner Frau zurück. Aber wenn das Kind geboren ist, müßt ihr unsere Gäste sein, denn es wird eine große Feier geben.« Sie versprachen ihm zu kommen.

Tomas sagte: »Morgen früh brechen wir nach Hause auf. Die Zwerge werden in ihre Dörfer zurückkehren, denn auch dort gibt es viel Arbeit. Zu lange schon sind sie von ihren Familien getrennt gewesen. Außerdem ist jetzt, nach der Rückkehr von Tholins Hammer, die Rede von einer Volksversammlung. Sie wollen Dolgan zum König im Westen ernennen.« Er senkte die Stimme und fügte hinzu: »Obwohl mein alter Freund diesen Hammer höchstwahrscheinlich dazu benutzen wird, ihn dem ersten Zwerg an den Kopf zu werfen, der das in seiner Gegenwart vorschlägt.« Er legte eine Hand auf Pugs Schulter und sagte: »Nur gut, daß wir beide das überstanden haben. Selbst in den schlimmsten Zeiten meines Wahnsinns habe ich dich niemals vergessen.«

»Ich dich auch nicht, Tomas.«

»Wenn ihr dieses Geheimnis auf dem Eiland des Zauberers enthüllt habt, werdet ihr uns doch eine Nachricht senden?«

Pug versprach es. Sie umarmten und verabschiedeten sich, und Tomas schritt davon. Dann jedoch blieb er nochmals stehen und wandte sich mit jungenhaftem Funkeln in seinen Augen um.

»Aber ich wäre doch gern dabei, wenn du Carline wiedersiehst, mit Frau und Sohn im Schlepp.«

Pug errötete, denn er sah dem Wiedersehen mit gemischten Gefühlen entgegen. Er winkte Tomas zu, als dieser ihren Blicken entschwand. Dann ertappte er Katala, die ihn mit verschlossenem Gesicht anstarrte. Ruhig fragte sie: »Wer ist Carline?«

 

Lyam blickte auf, als Arutha sein Zelt betrat. Der jüngere Bruder sagte: »Ich dachte, du hättest dich inzwischen niedergelegt. Du bist erschöpft.«

»Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, Arutha. Ich hatte bisher nur wenig Zeit für mich, und ich wollte einiges in Ordnung bringen.« Seine Stimme klang müde und besorgt.

Arutha ließ sich neben seinem Bruder nieder. »Was für Dinge?«

»Dieser Krieg, Vater, du, ich« – er dachte an Martin –, »andere Dinge… Arutha, ich weiß nicht, ob ich König sein kann.«

Arutha zog die Brauen hoch. »Du hast keine Wahl, Lyam. Du wirst König werden, also mach das Beste daraus.«

»Ich könnte die Krone zugunsten meines Bruders ablehnen«, erklärte Lyam langsam, »so, wie Erland zugunsten Rodrics zurückgetreten ist.«

»Was sich ja auch als wunderbar erwiesen hat! Wenn du einen Bürgerkrieg heraufbeschwören möchtest – das wäre eine Möglichkeit dazu. Das Königreich kann sich einen Streit im Kongreß der Herrscher nicht erlauben. Noch gibt es zu viele Wunden zwischen Ost und West, die geheilt werden müssen. Und Bas-Tyra ist immer noch auf freiem Fuß.«

Lyam seufzte. »Du würdest einen besseren König abgeben, Arutha.«

Arutha lachte. »Ich? Mir gefällt nicht einmal der Gedanke, Prinz von Krondor zu werden. Schau, Lyam, als wir noch Knaben waren, habe ich dich oft darum beneidet, wie leicht du die Zuneigung anderer erringen konntest. Die Leute haben dich immer mir vorgezogen. Du hast einfach etwas an dir, das in den Menschen Liebe und Zutrauen erweckt. Das ist eine gute Eigenschaft für einen König. Ich habe dich nie darum beneidet, daß du Vaters Nachfolger als Herzog sein würdest, und ich beneide dich auch jetzt nicht um die Krone. Ich habe schon gedacht, daß ich nach dem Krieg vielleicht einige Zeit reisen würde, aber jetzt wird das nicht möglich sein, denn ich muß Krondor regieren. Also wünsche mir nicht auch noch diese zusätzliche Last des gesamten Königreiches. Ich würde sie nicht übernehmen.«

»Trotzdem würdest du einen besseren König abgeben«, beharrte Lyam und sah Arutha fest an.

Arutha runzelte die Stirn. Dann betrachtete er seinen Bruder mit mißtrauischem Blick.

»Vielleicht, aber du wirst König werden, und ich erwarte, daß du es geraume Zeit bleiben wirst.« Er stand auf und streckte sich. »Ich gehe zu Bett. Es war ein langer und harter Tag.« Als er sich dem Eingang des Zeltes näherte, sagte er noch: »Begrabe deine Zweifel, Lyam. Du wirst ein guter Herrscher sein. Mit Caldric als Ratgeber, und mit den anderen, Kulgan, Tully und Pug, wirst du uns durch diese Zeit des Wiederaufbaus leiten.«

»Arutha, ehe du gehst…« Arutha wartete. Doch dann faßte Lyam einen Entschluß. »Ich möchte, daß du mit Kulgan und Pug auf das Eiland des Zauberers fährst. Du bist schon einmal dort gewesen, und… ich möchte dein Urteil hören über das, was dort vorgefunden wird.« Arutha war darüber gar nicht erfreut und wollte widersprechen, aber Lyam schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß, du möchtest nach Krondor, aber es dauert ja nur ein paar Tage. Zwischen dem Tag, an dem wir Rillanon erreichen, und der Krönung liegen zwölf Tage. Das ist genug Zeit für dich, um zu uns zu kommen.«

Wieder wollte Arutha Einwände erheben, doch dann lenkte er mit schüchternem Lächeln ein.

»Hab nur Vertrauen zu dir selbst, Lyam. Wenn ich die Krone nicht nehme, dann bleibst du auf ihr sitzen.« Und lachend fügte er noch hinzu, als er das Zelt verließ: »Es gibt keinen anderen Bruder, der Anspruch auf sie erheben könnte.«

Lyam blieb allein zurück und nippte an seinem Wein. Er seufzte tief und murmelte vor sich hin:

»Doch, es gibt einen anderen, Arutha; mögen die Götter mir helfen zu entscheiden, was zu tun das Richtige ist.«