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Poseidons Zombies

Nichts für schwache Nerven

Nirgendwo liegen Genuss und Tod so nahe beieinander wie beim Verzehr von Fugu, einer in Japan, aber auch in China hochgeschätzten Fischspezialität. «Fugu» ist ein Sammelbegriff für Kugel- und Igelfische. Fugus schlucken bei Bedrohung Wasser, bis sie kugelrund sind und dem Angreifer beim Verschlingen eine Maulsperre droht. Igelfische richten dabei zudem zahlreiche Stacheln abwehrbereit auf, sodass sie aussehen wie ein nadelgespickter Ballon oder ein mittelalterlicher Morgenstern.

Doch es ist nicht diese extravagante Form, die den Gourmet fasziniert, sondern der «innere Wert» der Fische: Vor allem in der Haut, der Leber und den Eierstöcken reichern sie Tetrodotoxin an. Dieser Stoff ist etwa zehntausendmal giftiger als Zyankali (die mittlere tödliche Dosis [LD50] beträgt bei Nagern intravenös zehn Mikrogramm pro Kilo) 12 und wird auch durch Kochen nicht zerstört. Deshalb müssen die Fische von lizensierten Köchen, die eine langjährige Ausbildung in speziellen Fugu-Schulen absolvieren, sorgfältig ausgenommen werden, bevor das rohe, hauchdünn geschnittene Fleisch in kunstvollen Formen serviert wird. Die entfernten Organe des Fisches werden in geschlossenen Behältern wie Giftmüll entsorgt.

Tetrodotoxin blockiert in Nervenmembranen Kanäle, die die Bewegung von Natriumionen kontrollieren. Dadurch wird jegliche Nerven- und Muskelerregung unterbunden, und es kommt zu Lähmungen. Das führt zu dem typischen, vom Feinschmecker so geschätzten Gaumenkitzel, der eher taktiler denn gustatorischer Natur ist. Denn Eigengeschmack hat das Fleisch kaum. Vielmehr verspürt der Gourmet im Mund ein Kribbeln und Brennen, dem ein Taubheits- und Kältegefühl (sog. Parästhesien) folgt, das sich allmählich auch in Armen und Beinen einstellt. Aber das ist nur eine Nebenwirkung, die den eigentlichen Effekt begleitet: Der Konsum des giftigen Fisches mündet in eine Euphorie.

Für dieses Gefühl riskiert der Feinschmecker recht unangenehme Empfindungen, ja sogar sein Leben. Bei höheren Konzentrationen beginnt’s nämlich auch in anderen Körperteilen zu kribbeln, und das euphorische Gefühl verschwindet ebenso wie die Fähigkeit, sich zu artikulieren 8 – Zeichen dafür, dass etwas ganz, ganz falsch läuft. Dann setzen Muskellähmungen ein. 4 Der Patient bleibt bis zum Eintritt des Todes durch Atemstillstand bei vollem Bewusstsein. Ein Gegenmittel ist nicht bekannt.

Und obwohl die Lust auf Fugu in Asien bis heute überlebt hat, kann man das nicht von allen Fugufreunden sagen: Jedes Jahr bezahlen im Land der aufgehenden Sonne noch immer bis zu einem Dutzend Feinschmecker ihr Vergnügen mit dem Leben. Der wohl berühmteste von ihnen war Mitsugoro Bando. Der Kabuki-Schauspieler, der in Japan als «lebender Nationalschatz» galt, verzehrte 1975 anlässlich eines Banketts im Restaurant vier Portionen Fugu. Japanisches Roulette mit vier Kugeln – das ging schief, und der große Mime verstarb kurze Zeit später.

Die meisten Todesfälle gehen jedoch auf eine unsachgemäße Zubereitung im Privathaushalt zurück. 13, 8 Dem japanischen Kaiser und seiner Familie ist der Genuss von Fugu übrigens bis heute verboten. 9 Wenn Sie gern einmal diese fernöstliche Delikatesse probieren möchten, müssen Sie schon in die USA fliegen. Dort dürfen einige japanische Restaurants zerlegten und tiefgefrorenen Fugu aus Japan importieren und servieren. In Deutschland bleibt dieser kulinarische Nervenkitzel – auch seine Einfuhr – verboten.

Cherchez la femme!

Kompliziert wird die Kugelfisch-Kulinarik dadurch, dass der Giftgehalt der Fische je nach Jahreszeit, Art und Fangort stark schwanken kann. Besonders die Weibchen zeichnen sich zur Fortpflanzungszeit durch einen hohen Gehalt an Tetrodotoxin (TTX) ihrer Eierstöcke aus, während die Hoden giftfrei und genießbar sind. 4 In diesem Fall kann es wirklich lebenswichtig sein, Milchner von Rognern zu unterscheiden – denn wie schon der große Romancier Rudyard Kipling, Autor des «Dschungelbuchs», wusste: «Das Weibchen der Art ist tödlicher als das Männchen.»

Kugelfische leben aber nicht nur vor der japanischen Küste, sondern auch im Roten Meer, und manche Autoren deuten die Warnung im Alten Testament vor dem Verzehr «schuppenloser Fische» als Schutz vor TTX. 13 Wie man inzwischen weiß, bilden die Fische das Gift nicht selbst, sondern reichern es nur im Körper an. Die eigentlichen Produzenten sind Bakterien (z. B. Vibrio, Pseudomonas, Micrococcus) und, wie erst kürzlich entdeckt, auch Strahlenpilze 14, mit denen sich die Fische infizieren und sich so ihrer Haut erwehren. Die Fähigkeit, schadlos TTX im Körper anzusammeln und sich so vor Fraßfeinden zu schützen, verdanken Kugelfische übrigens mehreren Mutationen ihrer Natriumkanäle, die sie resistent gegen die Wirkung von Tetrodotoxin machen. 6

Der wissenschaftliche Fortschritt brachte es mit sich, dass jetzt Kugelfische in Kultur gezüchtet werden, die frei von giftigen Kleinstlebewesen sind. Diese Ware weist tatsächlich eine wesentlich niedrigere TTX-Konzentration auf, die sich zudem weitgehend auf die Haut beschränkt. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese Form der Aquakultur durchsetzt, denn Fugu ohne Euphorie ist letztlich so attraktiv wie ein Klarer ohne Alkohol. 11

Dann werden sich die Feinschmecker wohl neue kulinarische Herausforderungen suchen. Der Toxikologe Luc de Haro (Marseille) berichtet von acht Fischfamilien, die zumindest gelegentlich beim Verzehr für mehr oder weniger üble Halluzinationen sorgen. 2 Allerdings sind bisher keine speziellen Küchentechniken bekannt geworden, die diese Effekte in ähnlicher Weise wie beim Fugu nutzen würden. Anbieten würde sich hierfür speziell der Verzehr von Meeräschen. Dabei kommt es – so ein intimer Kenner giftiger Fische – immer wieder mal zu einem kuriosen Effekt: «Charakteristisch sind schon nach wenigen Minuten auftretende Halluzinationen, Wahnvorstellungen, aber auch Koordinationsstörungen … Es scheint sich … um eine leichte Vergiftungsform ohne schwerwiegende Folgen zu handeln.» Hoffen wir es! 12

Abb. 8: Liebevolle Darstellung von Kugelfischen und Igelfischen von Abraham Rees aus dem frühen 19. Jahrhundert.

Octopussies & Zombies
Nicht nur Kugelfische (Takifugu ssp., Spheroides ssp.) speichern Tetrodotoxin (TTX), man findet es auch in anderen Fischen wie Grundeln (Gobius ssp.), sogar TTX-haltiger «Kaviar» wurde schon angetroffen. 3 Selbst Kröten und Molche sowie allerlei essbare Meeresfrüchte 5 (wie bestimmte Shrimps oder Meeresschnecken der Gattung Charonia) können das Gift anreichern. Nun landen solche Delikatessen hierzulande eher selten auf dem Teller, sodass die Gefahr einer Vergiftung gering ist. Aber gelegentlich kommt es im Urlaub auch ohne Hang zur landestypischen Küche zu tödlichen Vergiftungen.
Weltberühmtheit hat der hübsche, kaum handtellergroße Blaugeringelte Oktopus (Hapalochlaena maculosa) aus dem westlichen Indopazifik erlangt: Im James-Bond-Film «Octopussy» ist er das geheime Zeichen eines Bundes von Kriminellen. Der Oktopus speichert in seinen Speicheldrüsen zwecks Beutefangs das Kugelfischgift, das er per Biss mit seinem «Schnabel» in sein Opfer (meist Garnelen, gelegentlich Strandwanderer, selten Bösewichte) injiziert.

Muschelvergiftungen durch Kugelfische

Bis vor kurzem nahm man an, Kugelfischvergiftungen würden stets von TTX ausgelöst, doch als die Meeresbiologin Jan Landsberg 2006 in den USA 28 Vergiftungsfälle untersuchte, ergab sich ein anderes Bild: Alle Betroffenen hatten Kugelfische aus einer Lagune vor Florida verspeist, die als TTX-frei galt. 8

In der Tat fand Landsberg stattdessen das nahe verwandte Saxitoxin, bis dato als typisches Muschelgift bekannt. Es stammte von einem Einzeller, dem Dinoflagellaten Pyrodonium bahamense. Das Planktonlebewesen hatte den wasserfilternden Weichtieren als Nahrung gedient und diese mit Saxitoxin angereichert. Nun ernähren sich Kugelfische von Schnecken und Muscheln; ihr Gebiss ist auf die Schalenknackerei spezialisiert.

Saxitoxin wirkt zwar aufgrund seiner chemischen Ähnlichkeit so wie TTX, aber der wesentliche Unterschied ist, dass sich das Gift anders als TTX in der Muskulatur konzentriert. Seitdem gelten Kugelfische als eine Hauptquelle von Saxitoxinen in den Gewässern vor Florida, und ihr kommerzieller Fang ist bis auf weiteres verboten. Ein Blick nach Asien hätte den Experten viel Arbeit erspart. Denn die Kugelfische in den Flüssen Bangladeschs sind bekanntermaßen ungenießbar: Sie enthalten seit eh und je Saxitoxin. 12

Voodoo-Zauber

Nicht nur in Asien, auch auf Haiti fanden Fugus Interessenten. Die Voodoo-Religion, eine Mischung aus den Glaubensvorstellungen westafrikanischer Sklaven, vermengt mit christlichen Elementen europäischer Sklavenhändler, verwendet das Gift offenbar in jenen Pulvern, die zur Zombifizierung genutzt werden. Der Priester bzw. Hexenmeister bringt seinem Opfer das Pulver über die Haut bei, möglichst über eine Wunde. Dieses befindet sich alsbald in einem völlig willenlosen bis kataleptischen, komatösen Zustand, der für das Eintreten des Todes gehalten werden kann, vor allem, wenn Atmung und Puls nicht mehr wahrgenommen werden können.

Nach der «Beerdigung» wird das Opfer heimlich aus seinem Sarg entnommen und z. B. mit Stechapfel (Datura ssp.) wiederbelebt. (Nach den Ausführungen von Ärzten im Fachblatt Lancet gibt es aufgrund derartiger Praktiken auf dem Lande kaum ein Grab, das nicht von Interessierten geöffnet wurde.) Wird ein vermeintlich Toter unter den Lebenden angetroffen, handelt es sich aus Sicht der Gläubigen um einen Zombie. Den Willen des Zombies hält der Hexenmeister in einer Flasche gefangen. 10 Für die Anhänger der Voodoo-Religion sind solche Vorstellungen ebenso real wie in anderen Glaubenssystemen die Jungfrauengeburt oder die Wandlung von Wein in Blut.

Analysen von Zombiepulvern ergaben zunächst nur geringe Gehalte an TTX, doch dies lag wahrscheinlich an der Vorgehensweise, die zur Zersetzung des Giftes beigetragen hatte. Über den analytischen Nachweis wird in der Fachpresse erbittert gestritten. Die Tatsache, dass in fraglichen Pulvern sogar Fugustückchen gefunden wurden, wird von den Gegnern als Mangel an essbaren Fischen erklärt. 7 Neben TTX (z. B. aus Diodon hystrix) enthalten die Pulver das Gift des Haiti-Baumfrosches (Osteopilus dominicensis) und der Aga-Kröte (Bufo marinus), Taranteln sowie psychoaktive Pflanzen wie die in Südasien beheimatete Akazienart Albizia lebbeck. 1

Bis heute ist die Wirkung dieser Mixturen unbekannt. Zur Macht des Hexenmeisters gehört natürlich auch, dass sein Opfer genau weiß, was ihn nach den herrschenden religiösen Vorstellungen erwartet. Dies beeinflusst die Wirkung der Droge. Wie auch immer die Details aussehen mögen: Der «Wiederauferstehungseffekt» bei Fuguvergiftungen ist schon lange bekannt. Wiederholt wurden in Asien Patienten von Ärzten für klinisch tot erklärt, die noch vor ihrer Bestattung von selbst wieder genasen.