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Drogen im Brot:

Das Mysterium des Abendlandes

Wenn es eine Pflanze gibt, die die Esskultur des Mittelmeerraums und damit des Abendlandes geprägt hat, dann ist es der Weizen, der uns unser tägliches Brot liefert. Doch nahezu unbemerkt schuf unser Brotgetreide auch die Grundlage für die spirituelle Kultur des Abendlandes: Denn ganz gleich, ob Dinkel, Roggen, Gerste oder Hartweizen, alle enthalten von Fall zu Fall sogenannte Mutterkörner (Secale cornutum).

An sich kann beim Mutterkorn von Spiritualität überhaupt keine Rede sein. Es ist die Folge einer Getreidekrankheit. Verursacht wird sie von dem winzig kleinen Schlauchpilz Claviceps purpurea (einer Pilzgruppe, zu der auch Morcheln und Trüffel zählen), der die Fruchtknoten befällt und dann zu bis zu zwei Zentimeter langen, schwärzlichen, getreidekornartigen Gebilden heranwächst. Das sieht nicht nur hässlich aus, sondern dank seiner Alkaloide vom Ergotamintyp ist Mutterkorn auch ziemlich giftig. 13

In nassen und kalten Sommern entwickelt sich der Mutterkornpilz auf den Ähren besonders üppig. Wurde aus derart verseuchtem Getreide Brot gebacken, so konnte es geschehen, dass ganze Dörfer und Landstriche an einer Mutterkornvergiftung, medizinisch Ergotismus, erkrankten. 14 Die Finger und Zehen der chronisch Vergifteten begannen sich blau-schwarz zu verfärben. Wegen der brennenden Schmerzen und der allmählich wie verkohlt wirkenden Gliedmaßen sprach man vom «ignis sacer», dem «heiligen Feuer» oder von «Antoniusfeuer», das zu löschen der heilige Antonius angerufen wurde. 9 Manchmal fielen die mumifizierten Arme und Beine auch ohne Blutverlust einfach ab. In einer zweiten Form, der «Krampfsucht», standen neurologische Beschwerden im Vordergrund («Veitstanz»), die in Demenz endeten.

Die große Variabilität der Krankheitsbilder hängt mit den stark schwankenden Gehalten und Mixturen an Ergotaminen zusammen. Die Krankheit wütete im Mittelalter nach wetterbedingten Missernten wie eine Seuche und richtete ähnliche Verheerungen an wie Pest oder Cholera. Künstler jener Tage haben eindrucksvolle Darstellungen dieser fürchterlichen Vergiftung hinterlassen, so Pieter Brueghel der Ältere in seinem berühmten Gemälde «Der Kampf zwischen Karneval und Fasten».

Die letzten Berichte von Massenvergiftungen kommen aus dem Ural (1926/27) mit mehr als 10 000 Betroffenen; 1951 forderte Ergotismus noch einmal in Frankreich rund 200 Opfer (darunter mehrere Tote), die Brot und Teilchen aus der örtlichen Bäckerei gegessen hatten. 9, 10 Was zunächst verschwunden schien, feiert dank der Forderung nach natürlicher Kost inzwischen wieder fröhliche Urständ: «Ergotismus nimmt in den letzten Jahren durch Verbrauch von ungereinigtem Getreide ab Feld oder auch Bioläden wieder zu», lesen wir in einem Lehrbuch für Toxikologen, «nachdem er seit 1953 in Europa praktisch verschwunden war.» 7, 8

Eine traumhafte Entdeckung

Alles, was giftig ist, weckt bekanntlich die Neugier der Pharmazeuten. Auch das Mutterkorn erwies sich pharmakologisch als Fundgrube. 11 Bewährt haben sich seine Wirkstoffe bei Migräneanfällen sowie zur Einleitung der Wehen. 9 (Der Name Mutterkorn leitet sich übrigens nicht von der Gebärmutter ab, obwohl es früher zur Abtreibung verwendet wurde, sondern von lateinisch «mutare», einem «mutierten», d. h. veränderten Korn. 4) Beim therapeutischen Einsatz von Mutterkornextrakten trat allerdings eine unerwünschte Wirkung auf: Bei längerer Einnahme kam es zu Suchtfällen. 2 Einige Ergot-Alkaloide rufen schon in niedriger Dosierung Halluzinationen hervor; ein Effekt, der auch bei Mutterkornvergiftungen immer wieder beobachtet wurde.

Die chemische Verwandtschaft zu traditionellen Halluzinogenen nahm der Schweizer Chemiker Albert Hofmann zum Anlass, sich diese Stoffe etwas näher anzusehen. Ergotamine sind Lysergsäurederivate – und so wurde 1943 von ihm das LSD (Lysergsäurediäthylamid) entdeckt. Es unterscheidet sich vom natürlichen Ergin, dem Grundstoff aller Mutterkornalkaloide, nur minimal. Ergin ist zugleich der Hauptwirkstoff von Rauschmitteln, die seit langem von den altindianischen Kulturen Mittelamerikas genutzt werden, wie die Samen einer Windenart namens «Ololiuhqui». 5, 6

Auf dem Weg nach Eleusis

Machen wir einen großen Sprung zurück. Irgendwann im 2. Jahrtausend v. u. Z. begründeten frühe Griechen in Eleusis in der Nähe von Athen einen Ritus, der zum wohl populärsten, aber auch bestgehüteten Geheimnis der Antike werden sollte: die Eleusinischen Mysterien. Sie fanden zu Ehren der Erdgöttin Demeter (die sich noch in der deutschen «Kornmuhme» wiederfindet) 12 und ihrer Tochter Persephone zweimal im Jahr statt: die kleinen Mysterien im Frühling, die großen Mysterien im Herbst nach der Ernte. Rund 2000 Jahre, bis zum Niedergang der Feiern im 4. Jahrhundert u. Z., pilgerten die Gläubigen im September eines jeden Jahres von Athen über die heilige Straße nach Eleusis, um ihren Göttinnen zu huldigen.

Abb. 2: Griechische Münze aus Metapont/Lukanien um 500 v. u. Z.

Diese Mysterien waren nur Eingeweihten vorbehalten und haben Denken und Gesellschaft im antiken Griechenland in einer Weise geprägt wie kein anderes spirituelles Ereignis. Zu den Anhängern der Religionsgemeinschaft gehörte die Elite der antiken griechischen Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles, später auch römische Staatsmänner wie Cicero sowie Künstler und Generäle. Der Tragödiendichter Sophokles beschrieb die Erfahrung der Gläubigen: «Dreifach glücklich sind jene unter den Sterblichen, die, nachdem sie diese Riten gesehen, zum Hades schreiten; ihnen allein ist dort wahres Leben vergönnt.» 1

Wie lief die Einweihung in die Mysterien ab? Man pilgerte, hielt Prozessionen ab, sang und tanzte. Die Nacht verbrachten die Pilger in der großen Mysterienhalle und nahmen dort gemeinsam einen von den Priestern zubereiteten «heiligen Trank» zu sich. Und das, was sie dann erlebten, durften sie «schauen», aber sie durften keinesfalls darüber sprechen, sonst drohten strengste Strafen. Und so blieb das Geheimnis gewahrt, bis sich drei Männer – der Vater der Ethnomykologie, Gordon Wasson, der Chemiker Albert Hofmann und der Altertumsforscher Carl Ruck – daranmachten, dieses Geheimnis nach fast vier Jahrtausenden zu lüften.

Aufgrund von Schriftzeugnissen wie Homers Demeterhymnus und Aufzeichnungen des antiken Redners Aristides Rhetor vermuten Wasson und seine Mitstreiter, dass sich die Teilnehmer durch ein Getränk mit einer Droge – dem Mutterkorn – in einen Rauschzustand versetzten und eindrucksvolle Halluzinationen erlebten. Der Chemiker Albert Hofmann, der durch seine Entdeckung des LSD berühmt wurde, betont die strukturellen Ähnlichkeiten der Alkaloide in Mutterkorn und LSD (siehe Kapitel 3). Für rauschartige Zustände bietet sich die Kombination von originären Mutterkornwirkstoffen mit Alkohol an, so wie auch beim Dionysos-Kult der Wein mit anderen Drogen gemischt wurde. 2

Hofmanns Meinung nach wäre es den antiken Priestern durchaus möglich gewesen, aus Mutterkornpilzen die geeigneten Halluzinogene zu extrahieren. «Wir wissen zwar nicht», schreibt Hofmann, «welche Chemie das Gersten- oder Weizenmutterkorn aufwies, das im 2. Jahrtausend v. Chr. auf der rarischen Ebene [die an das Heiligtum von Eleusis grenzt] angebaut wurde. Aber es ist sicherlich nicht zu weit gegriffen anzunehmen, dass die dort angebaute Gerste Wirt eines Mutterkornpilzes war, der […] lösliche halluzinogene Alkaloide enthielt.» 12 Thomas Geschwinde, einer der intimsten Kenner der Welt der Drogen, ergänzte, dass die Farbe der Extrakte – auf die sich auch der lateinische Beiname «purpurea» bezieht – für die alten Griechen eine ganz besondere Bedeutung hatte: Ihnen versprach «die scharlachrote Farbe die Auferstehung nach dem Tod». 2

Besonders geeignet wäre das Mutterkorn des Grases Paspalum distichum, das im Mittelmeerraum weit verbreitet war. Denn es enthält bereits von Natur aus geeignete halluzinogene Alkaloide. Es hätte genügt, die Samen einfach zu vermahlen und in Wein aufzulösen. Die überlieferten Erfahrungen nach Konsum des Einweihungstranks – «Furcht und Zittern in den Gliedern, Schwindel, Übelkeit und kalter Schweiß» sowie lebhafte Visionen – passten ebenfalls zu dem, was Hofmann aus seinem Selbstversuch mit LSD kannte. 12

Athener LSD-Partys

Natürlich trifft diese pharmakologische Erklärung der Mysterien bei vielen Historikern und Theologen nicht unbedingt auf Gegenliebe. Bis heute führen sie den «heiligen Trank» der Demeterjünger, deren Visionen und tiefe Gemütsbewegungen, auf einige Schalen Wein und eine nächtliche Bühnenshow zurück. So tat die Philologin Marion Giebel Wassons Theorie mit der Bemerkung ab, dahinter stecke nicht mehr als eine «für den modernen Betrachter bequeme Erklärung religiöser Phänomene». 3 Es erscheint jedoch kaum glaublich, dass sich Männer und Frauen der Gelage-erfahrenen, abgebrühten Athener High Society wie Sophokles oder Platon, denen Rausch, Gesang und Tanz wohlvertraut waren, von dünnem Wein, ein wenig Musik und sakralem Theaterspiel hätten derart beeindrucken lassen. Nein, das antike Eleusis war kein bayerischer Passionsspielort und auch kein trockenes Philologieseminar.

Dass es bei den Mysterien um mehr als eine Amphore Wein ging, zeigt auch die harsche Reaktion der Athener Obrigkeit, als es 415 v. u. Z. zu einem handfesten Skandal kam: Einige hochrangige Athener, darunter der berühmte Heeresführer Alkibiades, hatten das Schweigegebot gebrochen und ihren Gästen den «heiligen Trank» als Partydroge serviert. Wie den Prozessakten zu entnehmen ist, wurde Alkibiades daraufhin angeklagt, seines Postens samt seines Besitzes enthoben und musste aus der Stadt fliehen. Bei einem normalen Gelage mit Hetären («Callgirls») und dem üblichen Besäufnis hätte ein hoher Militär im keineswegs prüden Athen wohl kaum eine derart harsche Reaktion fürchten müssen – nicht Wein, Weib und Gesang, sondern die Entweihung von harten Drogen mit LSD-Struktur wurde ihm zum Verhängnis. 1

Wenn Wasson, Hofmann und Ruck recht haben, dann basiert die geistige Welt der Griechen, der Quell unserer abendländischen Kultur und Weltanschauung, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf einem gemeinschaftlichen mystischen Drogenerlebnis. 1 Die Erkenntnis, dass womöglich ein unscheinbarer halluzinogener Pilz im Zentrum von metaphysischen Erfahrungen, von Göttern, Religion und dem Glauben an das Übernatürliche steht, mag für manche enttäuschend sein. Andererseits hat sie auch etwas Befreiendes und Völkerverbindendes: Zu allen Zeiten haben Menschen, ganz gleich welcher Hautfarbe, versucht, mit Hilfe von Pilz- oder Pflanzendrogen die Fesseln von Raum und Zeit zu sprengen, um ihren Göttern nahe zu sein und der Angst vor dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. So bekommt der Satz «Religion ist Opium fürs Volk» eine ganz neue und viel konkretere Bedeutung.