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Scharf auf Gewürze

Die Macht von Muskatnuss, Pfefferkorn und Chilischote

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das seine Speisen würzt – und einen Koch auch mal fristlos vor die Tür setzt, wenn er es wagt, ihm wiederholt schlabbrige Suppen und fade Soßen vorzusetzen. Obwohl Gewürze wie der Pfeffer in Europa viele Jahrhunderte lang erheblich teurer waren als Getreide, Gemüse und sogar Fleisch, wurden sie in heute schier unvorstellbaren Mengen konsumiert. Es heißt, der Pro-Kopf-Verbrauch von Pfeffer sei im Mittelalter zehn- bis hundertmal höher gewesen als heute – zumindest bei denen, die es sich leisten konnten. «Pfeffersack» werden auch heute noch Bürger geschimpft, die das richtige Näschen für lukrative Handelswaren bewiesen haben. Warum aber weckt gerade das, was ohne jeden Nährwert ist, kulinarische Begierde, wieso fuhren die Menschen ausgerechnet auf exotische Gewürze wie Zimt, Safran oder Muskat ab? Hätten es nicht auch Kerbel, Kümmel und Kamillenblüten getan? Offenkundig nicht.

Die übliche Antwort «Weil gutgewürztes Essen besser schmeckt» hilft uns nicht wirklich weiter. Denn das teuerste aller Gewürze ist geschmacklich zugleich das lausigste: der Safran. Er riecht ein wenig nach Jodoform und schmeckt leicht bitter. Zwar färbt Safran alle Speisen hübsch sattgelb, doch mit Gelbtönen jeglicher Schattierung geizt die Natur sowieso nicht. Daher gab es schon immer erheblich billigere natürliche Lebensmittelfarben, wie die Gelbwurz (Curcuma ssp.) oder die Blüten der Färberdistel (Carthamus tinctorius).

Safran macht fröhlich Geblüt

Bedenkt man seinen wenig aufregenden Geschmack, so ist der Aufwand, den man zur Gewinnung von Safran treibt, geradezu irrational hoch: Den Rohstoff liefern die Narben einer Krokusart (Crocus sativus), die mit ihren hellvioletten Blüten unserer giftigen Herbstzeitlose ähnelt. Sie werden im Herbst einzeln per Hand aus den Kelchen geknipst. Ihr dürftiges Aroma entwickelt sich erst bei der Trocknung. Für die «billigste» Handelsqualität lässt man das Pflanzenmaterial einfach in der Sonne dörren. Um Spitzenqualitäten zu erzeugen, breitet man es auf Sieben aus, unter denen ein schwaches Feuer schwelt, oder auf Metallplatten, die von glühender Holzkohle erwärmt werden. Dabei verlieren die Narben etwa 80 Prozent ihres Frischgewichts, sodass man für ein Kilo Safran die Narben aus etwa 150 000 Blüten pflücken muss.

Safran ist seit Urzeiten in Gebrauch. Die Inder exportieren ihn seit über 5000 Jahren. 74 1* 4000 Jahre alte kretische Keramik und Fresken im Palast von Knossos zeigen Safranrupfer bei der Arbeit. 13, 70 Das Wort selbst ist dem Arabischen bzw. Persischen entlehnt, von «za’faran» bzw. «safra» = gelb. 50 In Persien gehörten safrangefärbte Kleider zur typischen Tracht der Könige. Griechische Dichter kleideten ihre Heldinnen in safrangefärbte Kleider, ein guter Grund für die gebildeten Luxushetären Athens, die goldgelbe Farbe auch zu ihrem eigenen Markenzeichen zu erheben. 49 Im bekanntesten Kochbuch der Antike, den Excerpta, wird unter den Gewürzen, die den vollkommenen Koch auszeichnen, der Safran an erster Stelle genannt, gefolgt vom Pfeffer. 2 Warum fanden alle Völker, die dieses merkwürdigen Produktes habhaft wurden, einen solchen Gefallen daran?

Denn so langweilig Safran auch schmeckt, so giftig ist er. Um durch Safran zu Tode zu kommen, genügt nach Louis Lewin (1850 – 1929), einem der bedeutendsten Toxikologen und Mitbegründer der Toxikologie, manchmal schon die «längere Einatmung seiner flüchtigen Bestandteile». Er fährt fort: «Nach älteren Berichten sollen schwere Erkrankungen, selbst der Tod, durch zufälliges Schlafen auf oder bei frischem Safran herbeigeführt worden sein.» 37 Besonders Empfindliche wurden bereits beim Pflücken ohnmächtig. Andere Autoren beschreiben, dass bei Vergiftungen auch «heitere» Delirien und Rauschzustände auftreten.

Arzneikundige vergangener Jahrhunderte verglichen den Safran ausdrücklich mit Opium, nennen ihn gar «Opium für Kinder». 38 Nicht umsonst streckte man damit 2000 Jahre lang Laudanum oder setzte ihn dem Theriak zu, einem opiumhaltigen Universalheilmittel (siehe S. 130). Der deutsche Arzt und Botaniker Adam Lonitzer (1528 – 1586), der unter dem Namen Lonicerus berühmte Kräuterbücher verfasste, rühmte den Safran, er mache «ein fröhlich und gut Geblüt». 4, 38 Andere bescheinigten dem Krokusgewächs eine schmerzstillende und krampflösende Wirkung. Safran wurde wie der Hopfen in der Volksmedizin als Beruhigungsmittel, bei Krämpfen und Asthma verabreicht sowie als Mittel gegen die Melancholie. 38 Der alte Spruch «Safran macht den Kuchen geel» deutet daher wohl weniger an, dass man mit dem teuren Gewürz einen höheren Gehalt an Eidottern vortäuschen konnte, sondern dass man damit süßem Gebäck ein bisschen mehr Sonntags-Dröhnung verleihen konnte.

Das färbende Gewürz ist ein wichtiger Bestandteil von Likören wie Chartreuse und diversen Magenbittern. Seine krampflösende und antidepressive Wirkung ist experimentell gesichert. Sie ist vergleichbar dem Medikament Imipramin, das gegen Depressionen verordnet wird. 1, 26, 48 Doch auch mit modernster Analytik wollte es bisher nicht gelingen, die verantwortlichen Stoffe im Safran zu identifizieren. Dies mag daran liegen, dass die beiden typischen Inhaltsstoffe Picocrocin, auch Safranbitter genannt, und das daraus gebildete Safranal sehr reaktionsfreudige Substanzen sind. Beide gehören der chemischen Klasse der Aldehyde an. Aldehyde verbinden sich bereitwillig mit den in fast allen Nahrungsmitteln vorkommenden Aminen zu neuen Stoffen (s. S. 63). So manches Mal kommen dabei auch psychisch wirksame Substanzen heraus.

Ganz gleich, welche Stimmungsmacher dabei im Kochtopf entstehen, ihre opiatartige Wirkung erklärt zwanglos die Bereitschaft der Menschheit, enorme Summen für ein paar Gramm trockener Blütenfitzelchen auszugeben, die keinerlei Nährwert haben. Würde Safran wie Kamelmist schmecken – so wäre selbst dieses Aroma zum Traum aller Köche avanciert. Dass der Safran seit jeher von allen Völkern geschätzt wird, zeigt uns, dass wir es mit einem biologischen und nicht mit einem soziologischen Phänomen zu tun haben.

Halluzinogene Nüsse: Amphetamine

Die Früchte des Muskatnussbaums (Myristica fragrans) versprechen zwar mehr Gaumenkitzel als der Safran, sind aber nicht minder giftig. Wenige Nüsse bereits können tödlich wirken. Schon im Jahr 1576 hat der spätere Leibarzt des englischen Königs Jakob I., der flämische Botaniker Lobelius, auf diese Gefahr hingewiesen. 75 Das störte die Hippies in den Sechzigern allerdings wenig. Wenn ihnen der Shit ausging, griffen sie einfach zu Muskat. Damit erweckten sie eine Praxis zu neuem Leben, von der schon die Benediktineräbtissin Hildegard von Bingen (1098 – 1179) geschwärmt hatte. Sie riet, «Muskatnuss und zu gleichem Gewicht Zimt und etwas Nelken» zu pulverisieren und daraus mit «Weißmehl und etwas Wasser Törtchen» zu bereiten. Das «dämpft alle Bitterkeit des Herzens und … es macht deinen Geist fröhlich». 73 Ergänzen wir dieses Rezept mit etwas Zucker, können wir klassische Weihnachtsplätzchen aus dem Ofen holen.

«Wenn ein Mensch die Muskatnuss isst», verkündete die heilige Hilde, «öffnet sie sein Herz und reinigt seinen Sinn und bringt ihm einen guten Verstand.» Ein anderer der Seherzunft, Michel de Notredame (1503 – 1566), genannt Nostradamus, ward dadurch eher um den Verstand gebracht. Seinem freizügigen Gebrauch des Küchengewürzes entsprangen seine düsteren Prophezeiungen. 11

Die beiden Hauptbestandteile des ätherischen Muskatnussöls sind die beiden Aromastoffe Elemicin und Myristicin. Sie zeigen, so der Aromenspezialist Günther Ohloff, «nachweislich eine psychotrope Wirkung, die an die Eigenschaften des Meskalins [s. u.] erinnert und von leichten Bewusstseinsveränderungen bis zu intensiven Halluzinationen reicht». 49 Der Pharmazeut Eberhard Teuscher bescheinigt dem Konsum der Muskatnuss die mögliche Wirkung von «Bewusstseinsstörungen verbunden mit intensiven Halluzinationen, die vor allem durch Veränderungen des Zeit- und Raumgefühls und ein Gefühl des Schwebens charakterisiert sein können». 68

Die psychotropen Effekte werden allerdings weniger von Elemicin und Myristicin selbst hervorgerufen. Die eigentlichen Wirkstoffe entstehen erst in der Leber: Dort werden sie von den körpereigenen Enzymen in Aufputschmittel umgewandelt, Amphetamine. 5 Amphetamin ist in der Szene als speed bekannt, es wirkt anregend auf das Zentralnervensystem und löst eine Euphorie aus. Andere bekannte Amphetamine sind die Designerdroge Ecstasy und das Meskalin aus dem halluzinogen wirkenden Peyotl-Kaktus (Lophophora williamsii). Getrocknete Peyotlstücke werden noch heute bei den religiösen Riten mexikanischer und nordamerikanischer Indianerstämme verzehrt, die der «Native American Church» anhängen.

Die Amphetamine, die in der Leber aus Myristicin und Elemicin entstehen, haben leider wesentlich unübersichtlichere Namen als die berauschenden Wirkstoffe in Kaktus oder Partypille. Aus Myristicin bildet sich eine Verbindung namens 3-Methoxy-4,5-methylen-dioxy-Amphetamin, kurz MMDA. Dieses Molekül sieht dem Ecstasy äußerst ähnlich. Elemicin verwandelt sich in das 3,4,5-Trimethoxyamphetamin, kurz TMA. Es gleicht dem Kaktushalluzinogen Meskalin.

Ähnliche Aromastoffe wie Myristicin und Elemicin finden sich auch in zahlreichen anderen Gewürzen und Küchenkräutern. Chemiker ordnen sie in die Gruppe der Allylbenzole ein. Der Körper kann theoretisch aus allen Allylbenzolen Amphetamine bilden. Zu diesen meist aromatisch schmeckenden und duftenden Allylbenzolen gehören nicht nur das Myristicin aus der Muskatnuss, sondern auch das Apiol aus der Petersilie sowie das Eugenol aus Piment und Gewürznelken. Eugenol sorgte in der Vergangenheit für den charakteristischen Geruch der Zahnarztpraxen, in denen das Nelkenöl als schmerzstillendes und entzündungshemmendes Mittel benutzt wurde.

Es geht um die Wurst

Zurück zum MMDA der Muskatnuss. Dieses Amphetamin sorgt in höherer Dosis für eine gewisse Gelassenheit, für ein entspanntes Gefühl. «Cool» würde man heutzutage sagen. 57, 58 Es hebt die Laune, und man neigt dazu, bereitwillig über Scherze zu lachen. Außerdem kann MMDA dazu führen, dass man alle Wahrnehmungen intensiver erlebt. Auch Colagetränke enthalten erkleckliche Mengen an Myristicin und Elemicin, was den weltweiten Erfolg der Ami-Brause erklärt.

Die Laune des Colatrinkers hängt aber nicht nur von Myristicin und Elemicin ab. Cola enthält ja auch Zucker und Coffein. Beide sorgen dafür, dass sich der Serotoninspiegel im Gehirn erhöht. Serotonin ist ein körpereigener Botenstoff, der für gute Laune sorgt. Wie alle Botenstoffe wird das Serotonin vom Körper natürlich nicht nur aufgebaut, sondern auch wieder abgebaut. Anderenfalls geriete der Körper aus dem Gleichgewicht. Für diese Arbeit sind Enzyme zuständig, die Monoaminooxidasen (MAOs) heißen.

Interessanterweise wird die Funktion dieser Enzyme von MMDA und TMA beeinflusst. Beide Stoffe blockieren die MAOs in der Leber. Damit verhindern sie, dass das viele stimmungssteigernde Serotonin gleich wieder abgebaut wird. Das ist der Zusatzkick. Übrigens verhinderte bei Ratten bereits die Zufuhr von einem Milligramm Myristicin pro Kilo Körpergewicht den Abbau von Serotonin so effektiv, dass sich die Serotoninkonzentration in ihren Gehirnen verdoppelte. 71 So bleibt auch der Colatrinker länger bei guter Laune – dank dem Zusammenspiel pflanzlicher Naturstoffe.

Ebenso wichtig wie für Colagetränke war Muskat für deutsche Wurstwaren. An Aminen, mit denen Myristicin und Konsorten ja besonders gern reagieren, mangelt es in der Wurstmasse wahrlich nicht: Amine aller Couleur entstehen während der Fleischreifung aus Aminosäuren und Eiweißen. In der Wurst entstehen aber etwas anders strukturierte Amphetamine, die dem Aufputschmittel Methamphetamin (Pervitin) ähneln. In der Drogenszene ist es unter dem Decknamen Crystal bekannt. Berauschende Stoffe können sich auch beim Pökeln bilden, denn das Nitritpökelsalz sorgt dafür, dass Halluzinogene entstehen, vor allem das Harman und das Norharman 16 (siehe Seite 162). Kein Wunder, dass deutsche Wurst – bevor die Fleischereien und Wurstfabriken begannen, Gewürze durch Aromen zu ersetzen – einen ähnlich guten Ruf hatte wie schweizerische Schokolade oder spanischer Sherry.

Drogen schreiben Weltgeschichte

Sobald man um die psychotropen Inhaltsstoffe von Gewürzen weiß, wird sonnenklar, warum sich Europas Reichtum entlang der Gewürzhandelsrouten etablierte. Der Aufwand, mit dem diese Verbrauchsgüter beschafft wurden, suchte seinesgleichen. Der Schriftsteller Stefan Zweig (1881 – 1942) gab uns wohl die eindringlichste Beschreibung dieses einträglichen Geschäftes: «Durch mindestens zwölf Hände, so schriftet es melancholisch Martin Behaim seinem Globus, muss das indische Gewürz wucherisch wandern, ehe es an die letzte Hand, an den Verbraucher, gelangt. … Aber wenn auch zwölf Hände in den Gewinn sich teilen, so presst doch jede einzelne genug goldenen Safts aus dem indischen Gewürz, trotz allen Risiken und Gefahren gilt der Spezereihandel als der weitaus einträglichste des Mittelalters, weil bei kleinstem Volumen der Ware mit der größten Marge an Gewinn verbunden.» 80 Auch wenn Zweigs Sprache heute ein wenig antiquiert klingen mag, so war er wohl der Einzige, der die wirtschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge erfasste. Er ahnte, dass den Gewürzen irgendetwas anhaftete, das sie so begehrenswert machte. Heute haben wir das pharmakologische Wissen, um die Richtigkeit seiner Auffassung zu bestätigen.

«Die Paläste Venedigs und jene der Fugger und Welser sind», so Zweig, «fast einzig aus dem Gewinn an indischem Gewürz erbaut.» Die Spezereien, von Sklaven geerntet, wurden mit winzigen Praus – schlanken Seglern – von den Gewürzinseln nach Malacca gebracht, dann von Dschunken durch drei gefahrvolle tropische Meere verschifft, bis Kamele die zunehmend teure Fracht von Aden nach Ägypten durch die Wüste schaukelten. 80

Die Europäer ärgerte besonders, dass der gesamte Indienhandel fest in türkischen und arabischen Händen lag. Keinem christlichen Schiff wurde die Fahrt auf dem Roten Meer gestattet, keinem christlichen Händler die Durchreise erlaubt. «Damit wird aber nicht nur den europäischen Verbrauchern die Ware unnütz verteuert», urteilte Stefan Zweig, «nicht nur dem christlichen Handel der Gewinn von vorneweg abgemelkt, es droht der ganze Überschuss an Edelmetall nach dem Orient abzufließen, da die europäischen Waren bei weitem nicht den Tauschwert der indischen Kostbarkeit erreichen. Schon um dieses fühlbaren Handelsdefizits willen musste die Ungeduld des Abendlandes immer leidenschaftlicher werden, der ruinösen und entwürdigenden Kontrolle sich zu entziehen, und schließlich raffen sich alle Energien zusammen.» 80

Krieg den Heiden

Ihren ersten Versuch, sich endlich einen Anteil am Indienhandel zu erobern, startete die christliche Welt im Jahr 1095 mit dem Aufruf Papst Urbans zum Kreuzzug in das Gelobte Land. Da die Europäer nichts Genaueres über die Herkunft der Gewürze wussten, versuchten sie mit militärischen Mitteln ihr Glück dort, wo sie die Ware in Empfang nahmen – irgendwo zwischen Konstantinopel und Alexandria. Natürlich regte der sagenumwobene Ursprung der Gewürze im fernen Morgenland die Phantasie der Menschen an. Wer an diesen Quellen saß, musste unermesslich reich sein. Bald hatte der verarmte Landadel Europas das biblische Jerusalem vor Augen, dessen Straßen mit Gold gepflastert waren. Auf diese Weise ließen sich genug Soldaten für das militärische Unterfangen gewinnen. 54

Die machthungrige Elite des Vatikans hatte es natürlich nicht auf mehr oder minder leere Grabstätten in Palästina abgesehen, sondern auf einträglichere Ziele. «Die Kreuzzüge waren keinesfalls», schreibt Stefan Zweig, «ein bloß mystisch religiöser Versuch, die Stätte des Heiligen Grabes den Ungläubigen zu entreißen; diese erste europäisch-christliche Koalition stellte zugleich die erste logische und zielbewusste Anstrengung dar, jene Sperrkette zum Roten Meer zu durchstoßen und den Osthandel für Europa, für das Christentum freizumachen.» 80

Es gelang den Kreuzrittern tatsächlich, Jerusalem zu «befreien» und damit einen Brückenkopf auf arabischem Boden zu etablieren. Kriegsgewinnler dieses Feldzugs waren vor allem die Venezianer. Sie kontrollierten von nun an den Gewürzhandel im gesamten Mittelmeerraum. Allein im Jahr 1411 bringen Venedigs Schiffe Gewürze im Wert von 540 000 Dukaten nach Europa. Damit erhält man einen Eindruck von den Summen, die die Europäer den Arabern zahlen mussten. Wozu noch Europa erobern, wenn es sein Kapital freiwillig abführte? Was konnten die Venezianer gegen die begehrten Würzdrogen des Orients schon aufbieten? Historiker wie Walter Zöllner sprechen euphemistisch davon, «die europäischen Kaufleute verschifften im Austausch Metalle», um im Nebensatz einzugestehen, dass es in erster Linie Gold und Silber waren, gefolgt von Waffen. 79

Ein anderes Handelsgut erwähnen nur wenige – und wenn doch, dann führen sie es nur schamhaft nach «Seife» und «Glas» auf: Die Italiener lieferten den Muselmanen neben Gold und Silber vor allem Sklaven. Aber nach der Bekehrung der Ungarn und Slawen versiegte auch diese Handelsquelle. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ließen die Genuesen den Sklavenhandel aber mit türkischen und tatarischen Sklaven neu aufleben, die sie aus den Häfen des Schwarzen Meeres herbeischafften, um sie bei den Mamelucken in Ägypten gegen Gewürze und andere Waren einzutauschen. 34, 54

Trotz der immensen Kosten verdienten die Kreuzfahrerstaaten so gut am Gewürzhandel, dass er ihre wichtigste Einnahmequelle wurde. 34 Sie lebten von den Zöllen, die sie auf die Gewürze erhoben, und von den Erträgen ihrer Besitzungen im europäischen Mutterland. 22, 54 Aber den Herkunftsländern, den sagenumwobenen «Gewürzinseln» im fernen Osten Asiens, waren sie noch keinen Schritt näher gekommen. Die arabischen Händler kontrollierten weiterhin den Markt. Das christliche Palästina «befand sich in einem dauernden Dilemma», schreibt Steven Runciman, seines Zeichens Professor für Byzantinistik, «wenn es unter gesunden Verhältnissen fortbestehen sollte, durfte es nicht auf einen stetigen Zustrom von Menschenkräften und Geld aus dem Westen angewiesen bleiben.» 54 So spielte es auch keine Rolle mehr, dass die christlichen Staaten in der Levante eines Tages wieder von der Landkarte verschwanden.

Elegant umschifft

Im Großen und Ganzen misslang den Kreuzfahrern ihr militärisches Vorhaben aber. Hinzu kam, dass die Türken im 15. Jahrhundert Konstantinopel und bald darauf Alexandria eroberten. Die Kreuzfahrer konnten den Mohammedanern Ägypten nicht entreißen, und die islamischen Staaten verlegten ihnen weiterhin den Weg nach Indien. Der stete finanzielle Aderlass weckte erneut den Wunsch, einen Weg dorthin zu finden. Zweig: «Die Kühnheit, die Columbus nach Westen, die Bartholomeo Diaz und Vasco da Gama nach Süden, die Cabot nach Norden gegen Labrador vorstoßen ließ, entsprang in erster Linie dem zielbewussten Willen, endlich, endlich für die abendländische Welt einen freien, einen unbezollten und ungehinderten Seeweg nach Indien zu entdecken und damit die schmachvolle Vormachtstellung des Islam zu brechen.» 80

Diesmal verzichtete man auf die militärische Option, da man sich keine Chancen ausrechnete, die Araber zu besiegen. Dem Venezianer Marco Polo war es um 1300 gelungen, eine erste Beschreibung von der Heimat des Pfeffers zu liefern. Bald darauf wurde Polos Bericht von den Mönchen Oderico da Pordemone und Jordanus ergänzt, die wie viele andere Europäer als Spione Asien bereisten. 75 Der Erste, der es mit dem neugewonnenen Wissen wagte, die islamischen Länder zu «umschiffen», war Christoph Kolumbus. Er verfehlte sein Ziel und verirrte sich nach Amerika, wo er auf den Westindischen Inseln vergeblich nach den begehrten Würzpflanzen suchte. Insofern war Kolumbus eine gescheiterte Existenz. Sein Nimbus als Held und Eroberer war noch zu seinen Lebzeiten dahin. Aber nicht – wie Historiker behaupten –, weil er ein paar Schiffe verloren hatte, sondern weil er ohne Indiens Gewürze zurückkehrte.

Weitaus mehr Glück hatte ein anderer. 1498 landete Vasco da Gama genau dort, wo der Pfeffer wächst: an der Küste Malabars. Zurück in Lissabon, brachte ihm die Gewürzladung seiner ersten Fahrt das Sechsfache dessen ein, was sein ganzes Unternehmen gekostet hatte. Die zweite Fahrt bescherte ihm sogar den fünfzigfachen Gewinn. 74 Als immer mehr portugiesische Schiffe jetzt das arabisch-venezianische Handelsmonopol durchbrachen, war die Vormachtstellung Venedigs dahin und das Schicksal der Stadt besiegelt. Auch der Islam war aus dem Geschäft. Der Seeweg beflügelte die «christliche Seefahrt», denn er war trotz aller Gefahren wesentlich billiger als die mühselige Reise über die nicht minder unsicheren Karawanenstraßen.

«Mögen von fünf Schiffen – die Expedition Magellans beweist dieses Rechenexempel – vier mit ihrer Ladung zugrunde gehen», formulierte Stefan Zweig, «mögen zweihundert Menschen von zweihundertfünfundsechzig nicht wiederkehren, so haben zwar Matrosen und Kapitäne ihr Leben verloren, der Händler hat aber bei diesem Spiel noch immer gewonnen. Kehrt nur ein noch so kleines Schiff von den fünfen, gut mit Gewürz beladen, nach drei Jahren zurück, so macht die Ladung mit reichlichem Profit den Verlust wett, denn ein einziger Sack mit Pfeffer gilt im 15. Jahrhundert mehr als ein Menschenleben.» 80

Nach Venedig gelangt zunächst Lissabon zu Glanz und Reichtum, aber schon wenige Jahrzehnte später jagen die Holländer den Portugiesen das Geschäft ab, was wiederum Amsterdam zur Blüte verhilft. Als Letzte gewinnen die Briten die zahlreichen Kolonialkriege um die Gewürze, und nun erlebt London seinen Aufschwung. 74 Dabei darf man nicht vergessen, dass die eigentlichen Profiteure des Gewürzhandels bis dato im Orient saßen. Die Vorstellung der Europäer vom «sagenhaften Reichtum des Morgenlandes» speist sich nicht aus überschwänglichen Reiseberichten – da konnte man nur auf die Schriften antiker griechischer und römischer Autoren zurückgreifen. Zu dieser Schlussfolgerung musste man nach zwei Jahrtausenden wirtschaftlicher Abhängigkeit von den orientalischen Händlern zwangsläufig kommen.

Die großen Muskatfeuer

Mit der Entdeckung des Seewegs nach Indien, der Eroberung der Gewürzländer und dem Ende der Zahlungen an die Araber beginnen der wirtschaftliche Aufstieg und die koloniale Expansion Europas. Die Seefahrernationen hatten keine Skrupel, die Eingeborenen der fernen Inselreiche als Gewürzlieferanten zu versklaven. Mit allen Mitteln versuchten die Handelsunternehmen, Monopole zu schaffen, um aus dem Bedarf an Gewürzdrogen maximalen Gewinn zu schöpfen.

Der Muskatbaum (Myristica fragrans) wuchs damals ausschließlich auf den indonesischen Banda-Inseln. Darum beeilte sich die holländische Ostindiengesellschaft Anfang des 17. Jahrhunderts, sie in ihren Besitz zu bringen. Die einheimische Bevölkerung wurde gezwungen, ihre gesamte Muskaternte an die Holländer zu verkaufen, und zwar zu Dumpingpreisen. Als sich Widerstand regte, griff der Handelskonzern brutal durch und ließ 1621 fast die gesamte Inselbevölkerung ermorden; ein kleiner Teil wurde als Sklaven an holländische Siedler verkauft, die die Muskatplantagen auf Banda fortan bewirtschaften sollten.

Nicht besser erging es einigen in Indonesien ansässigen Engländern, die versucht hatten, ebenfalls im Muskathandel Fuß zu fassen. 1623, in der «Blutnacht von Ambon», ließ der Generalgouverneur der Ostindiengesellschaft, Jan Pieterzon Coen, sie allesamt verhaften und hinrichten. Damit hatten sich die Holländer das äußerst lukrative Muskatmonopol gesichert. Sie gaben es für die nächsten hundert Jahre nicht wieder aus der Hand. 19

Im Besitz des Monopols bemühten sich die Holländer, die Muskatpreise in Europa hoch zu halten. Deshalb vernichtete die niederländische Ostindiengesellschaft oft erhebliche Teile der Ernte. Das geschah zum Teil schon auf Banda, der Insel, auf der die Muskatnüsse angebaut wurden. Ein Angestellter der Gesellschaft schreibt 1730: «Es werden jährlich auf Neira nicht weit vom Nuss-Hause am Strande grosse Haufen wie die Heuschober verbrennet. Der Brand währed manchmal wohl acht Tage. So lange er dauert, stehen Tag und Nacht Schildwachen darbey, damit niemand nichts davon nehmen möchte. Das Oel fließt wie ein ziemlicher Bach der See zu. Die Chinesen haben vielmahls der Edlen Compagnie die Erde, wo die Nüsse sind verbrannt worden, abkauffen wollen, aber solches nicht erhalten können.» Andere Augenzeugen sprechen von Muskatnussbergen, die die Größe einer Kirche gehabt haben sollen. 75

Auch in Holland verbrannte man die Nüsse. Die Muskatbutter floss über die Straßen, und die Menschenmenge watete knöcheltief darin. Doch den Bürgern war es bei Todesstrafe verboten, davon zu nehmen. In einem Augenzeugenbericht aus dem Jahr 1760 heißt es: «Ich habe ein solches Feuer in Amsterdam … gesehen, wo Nüsse im Wert von schätzungsweise acht Millionen französischer Silberstücke verbrannt wurden; es brannte zwei Tage lang.» 56 Die Stadt Middelburg in Zeeland hatte ebenfalls solche subtilen Genüsse zu bieten, wie der Brite Wilcocks mitteilte. Er sah so viele Nelken, Muskatnüsse und Zimt brennen, dass die Luft ringsum meilenweit von aromatischem Duft durchzogen wurde. 75

Der immense Muskatnusspreis bediente den Wunsch reicher Bürger, ihren Wohlstand zeigen und zelebrieren zu können. Daher war es vom 17. bis zum 19. Jahrhundert à la mode, mit kostbaren Elfenbein- und Perlmuttintarsien verzierte Köcher für Muskatreiben am Gürtel zu tragen. So konnte man bei einem Festmahl jederzeit den dargebotenen Wein mit frisch geriebener Muskatnuss würzen. Das galt – natürlich aufgrund des hohen Preises – nicht nur als gesundheitsförderlich, sondern auch als aphrodisierend. 18

Der Wohlstand holländischer Handelszentren gründete sich vorwiegend auf dieses unumschränkte Gewürzmonopol. «Bis ungefähr 1670 war die Niederländische Ostindiengesellschaft das reichste Unternehmen der Welt», rekapituliert der Historiker Henry Hobhouse, «sie half, die Blütezeit der niederländischen Zivilisation zu finanzieren: Rembrandt, Vermeer, Frans Hals, Vondel, Grotius, Spinoza, das weltgrößte Verlagswesen des 17. Jahrhunderts mit ungezählten, heute vergessenen, weniger bedeutenden Autoren und Poeten, all die Maler, Architekten und, vor allem, Mäzene.» 24

«Im Anfang war das Gewürz»

Doch um 1800 ist die Zeit der Gewürzmonopole endgültig vorbei. Viele Muskat-, Nelken- und Pfefferplantagen weichen dem Anbau von Kaffee, Tee oder Tabak. Der Gewürzverbrauch sinkt stetig. Das viele Blut, das in bewaffneten Auseinandersetzungen zuvor für exotische Spezereien vergossen wurde, zeigt, welchen Stellenwert diese Genussmittel schon immer hatten. Es waren Drogenkriege. 51 Europa selbst verfügte nur über wenige brauchbare Rauschmittel wie den Alkohol. Die ärmeren Bevölkerungsschichten griffen deshalb zu Fliegenpilz, Mutterkorn und vor allem zu verschiedenen Nachtschattengewächsen (s. S. 81), die auch die Grundlage für Hexensalben abgaben. 36 Einen plastischen Eindruck von den zahlreichen Horrortrips, die Stechapfel, Bilsenkraut und Tollkirsche auslösten, geben die Höllendarstellungen von Hieronymus Bosch. Sicherlich haben Erfahrungen mit den heimischen Drogen zur Idee einer «Hölle» wesentlich beigetragen. 51

Im Vergleich dazu sind die exotischen Importgewürze verträglicher und damit natürlich auch begehrter. Eine grundlegende Veränderung trat ein, als noch bekömmlichere Stimulanzien wie Kaffee, Tee und Schokolade in Europa verfügbar wurden. Schnell verdrängten sie Safran und Muskat als Narkotika bei den Reichen. Bei den Armen führten sie allmählich zum Niedergang der Fliegenpilz-, Bilsenkraut- und Stechapfeltrips. Das verdanken wir den großen und gefahrvollen Entdeckerfahrten. «Hinter den Helden jenes Zeitalters der Entdeckungen», folgerte Stefan Zweig, «standen als treibende Kräfte die Händler; auch dieser erste heroische Impuls zur Welteroberung ging aus von sehr irdischen Kräften – im Anfang war das Gewürz.» 80

Das große Rätsel: Weltmacht Pfeffer

Das mengenmäßig wichtigste Gewürz in der Geschichte Europas war weder der Safran noch die Muskatnuss, sondern der Pfeffer: Er war so wertvoll, dass seine Körner oft stückweise verkauft oder gar mit Silber aufgewogen wurden. Auch Wucherpreise hinderten die Menschen nicht daran, erhebliche Mengen des Scharfmachers zu konsumieren. Und das seit Jahrtausenden: Unser Wort Pfeffer stammt von dem Sanskritwort pippali ab. Indien war stets der wichtigste Lieferant – und das über eine Zeitspanne von 5000 Jahren. 74 Doch was trieb die Menschen zum Pfeffer?

Schon die Römer hatten ein ungeahntes Faible für den scharfen Geschmack entwickelt; zu Beginn der Kaiserzeit galt der Pfeffer als Lebensnotwendigkeit, er wurde deshalb sogar von der Steuer befreit. Allerdings wurde damals weniger der heute übliche Schwarze Pfeffer (Piper nigrum) verzehrt, sondern der wesentlich schärfere Lange Pfeffer (Piper longum). Ende des 1. Jahrhunderts gab es in Rom besondere Pfeffer-Speicher (horreae piperatariae), damit die Bürger jederzeit mit dem begehrten Gut versorgt werden konnten. 23 Als Alarich, König der Westgoten, im Jahr 408 die Stadt belagerte, verlangte er für seinen Abzug neben Silber und Gold auch 3000 Pfund Pfeffer.

Rom: Ein Handelsimperium
Das Römische Reich importierte Gewürze und Luxusgüter in solchem Umfang, dass die ernormen Mengen an Gold und Silber als Zahlungsmittel die Staatsfinanzen zu zerrütten drohten, wie Plinius mitteilt. Allein für Parfümimporte aus dem Orient gaben die Römer jährlich 100 Millionen Sesterzen aus. 49 Seit der Regierungszeit des Augustus liefen pro Jahr über 100 Handelsschiffe die Häfen Indiens und Ostafrikas an. Das Rote Meer erreichten sie über den Nechokanal, einen Seitenarm des Nils, der heute nicht mehr existiert. 32 Über den weiteren Kurs der Schiffe lassen sich dem Periplus Maris Erythraei, einem wahrscheinlich aus dem Jahr 76 n. Chr. stammenden Text aus Alexandria, detaillierte Anweisungen entnehmen, wie man bis an die Küsten Indiens gelangt, um dort Gewürze zu laden.
Natürlich war der hohe Pfefferpreis Rom ein Dorn im Auge. Strabo (ca. 64 v. u. Z.–26 u. Z.) berichtet von Militäraktionen, mit denen die Küstenanrainer des Indischen Ozeans gefügig und die Handelswege sicherer gemacht werden sollten. Auch wenn dabei anfangs Rückschläge zu verzeichnen waren, gelangte das Weltreich schließlich zum Ziel: «Früher wagten sich kaum zwanzig Schiffe aus dem Roten Meer hinaus, jetzt segeln aber große Flotten nach Indien und bis ans äußerste Ende von Afrika», schrieb er. An der indischen Malabarküste wurden sogar zwei Legionen zum Schutz der Handelsinteressen des Römischen Reiches stationiert. Heute noch erinnern daran die Reste eines römischen Tempels, der Augustus gewidmet war. 32
Ein weiterer Zielhafen waren Korkai, der bedeutendste Hafen im Königreich der Pandyas nahe der heutigen Stadt Tuticorin, und Trincomalee auf der Insel Taprobane, dem heutigen Sri Lanka, auf der es auch eine griechische Kolonie gab. Eindrucksvolle Sammlungen römischer Gold- und Silbermünzen im Mattanceri-Palast in der südwestindischen Handelsstadt Cochin (Muziris) sowie zahllose Münzfunde an der Ost(!)-Küste Indiens belegen die enorme Bedeutung des Außenhandels. Gleichermaßen wurden Ideen ausgetauscht; der Buddhismus war den römischen Gelehrten wohlbekannt. 23 Es heißt, römische Schiffe seien damals bis nach Java, Sumatra und Borneo gekommen. 32, 69 Nachweislich gelangten römische Waren und Münzen bis ins Mekongdelta (Oc eo) und nach Korea. 23
Der Archäologe Philipp Filtzinger bestätigt: «Zur Zeit des römischen Kaisers An-tun – so nennen die Han-Annalen den Kaiser Marcus Aurelius Antoninus (161 180 u. Z.) – erreichten 166 u. Z. römische Handelsschiffe China. Die Chinesen, die ‹Seres› – ‹ser› ist das chinesische Wort für Seidenraupe –, bewunderten die angefüllten Schatzkammern der Römer …» In Kanton soll bei Ausgrabungen sogar Bernstein aus dem Baltikum gefunden worden sein. 23 Vielleicht wird der Umfang des Welthandels in der damaligen Zeit heute unterschätzt. Auch wenn es rätselhaft erscheint: In der Nähe von Mexico City fand man eine Figur, die zweifelsfrei römischen Ursprungs ist und die ebenso zweifelsfrei vor der «Entdeckung» Südamerikas dorthin gelangt sein muss. 27
Verschiedentlich wurde die Ansicht geäußert, die Angaben von Plinius d. Ä. zum Abfluss römischen Goldes und Silbers nach Indien seien maßlos übertrieben. 20 Dagegen sprechen jedoch die schriftlichen Zeugnisse indischer Autoren. In der Sagam-Literatur, der Geschichtsschreibung der südindischen Dynastie der Pandyas, werden römische Schiffe und Legionäre beschrieben. Über die westlichen Handelsbeauftragten, die Yavanas, heißt es: «Überall in Puhar erblickte der Betrachter die Wohnstätten der Yavanas, deren Wohlstand niemals abnahm.» Ein tamilischer Dichter schrieb über die abendländischen Händler im Hafen Muziris nahe Cochin: «Sie kommen mit Gold an und fahren mit Pfeffer ab». 13, 32, 69

Der Pfeffer behielt bis zum späten Mittelalter seinen überragenden Wert und diente vielfach statt Gold und Silber zur Entrichtung von Tributen, als Zahlungsmittel bei Abgaben, Renten und Zöllen, als Lösegeld, kostbares Geschenk oder als Erbteil. 21 Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Pfeffer in erster Linie zum Verzehr bestimmt war. Als Herzog Karl der Kühne von Burgund im Jahr 1468 Hochzeit hielt, ließ er den Gästen 380 Pfund Pfeffer servieren. 35 Um 1500 verlangte der Rat der Stadt Bremen, dass Lebkuchen, die mit dem Bremer Schlüssel gekennzeichnet werden sollten, auf 166 Teile Honig und 180 Teile Weizenmehl mindestens 25 Teile weißen Pfeffer enthalten mussten. 77 Vor dem Aufkommen des Zuckers gehörten solche «Pfefferkuchen» zur Alltagsspeise der Deutschen, vergleichbar dem Brot.

Abb. 1: Fernhandelswege des Römischen Reiches im 1. und 2. Jahrhundert unserer Zeit.

Was aber macht ein Gewürz so interessant, so begehrt, dass es quasi zum Grundnahrungsmittel wird, auf das die Bürger nicht verzichten wollen oder gar können? Enthält der Pfeffer geheimnisvolle Opiate? Entzugserscheinungen sind nicht bekannt geworden, obwohl zahlreiche seiner Inhaltsstoffe strukturell den psychisch wirksamen Substanzen in Gewürzen wie der Muskatnuss ähneln. Tierversuche belegen eine krampflösende und schmerzstillende Wirkung des Pfeffers. 72, 75 Der wichtigste Scharfstoff, das Piperin, wirkt bei der Ratte antidepressiv und verbessert – wenn man den Tierversuchen Glauben schenken will – das Gedächtnis. 3, 8, 76 Egal, wie man es dreht und wendet, diese Resultate können noch nicht erklären, warum der Pfeffer psychotrope Gewürze wie Safran oder Muskat in den Schatten stellte.

Wir dürfen indessen nicht vergessen, dass das, was wir als «Schärfe» im Mund wahrnehmen, eigentlich eine Schmerzempfindung ist. Und diese Schmerzen setzen körpereigene Opiate frei, sogenannte Endorphine. 52 Bei regelmäßigem Verzehr – und das ist zumindest für Chilis nachgewiesen – gewöhnt sich der Körper daran, indem er lernt, sofort Endorphine bereitzustellen. Sie unterdrücken nicht nur die Schmerzempfindung am Gaumen, sondern heben zugleich die Stimmung. Menschen, die gewöhnt sind, (wirklich scharfe) Chilis zu essen, brauchen diesen Endorphin-Kick. 52 Bedenkt man, dass bis ins Mittelalter weniger der Schwarze Pfeffer, sondern der weitaus schärfere Lange Pfeffer (Piper longum) verwendet wurde, so bietet diese Beobachtung einen weiteren Erklärungsansatz für den enormen Konsum. Und dennoch bleibt ein gewisser Nachgeschmack. Wenn es nur um die Schärfe gegangen wäre, dann hätten es auch Meerrettich und Senf getan.

Sicher ist nur: Piperin, der wichtigste Scharfstoff des Pfeffers, ist eines der stärksten Insektengifte. 62 Dazu kommen weitere biozide Wirkstoffe. 59, 60 Scharfstoffe sind generell äußerst wirksam gegen mikrobielle Krankheitserreger wie Clostridien (die tödliche Vergiftungen hervorrufen können) und vor allem Darmparasiten, 25, 45 damals eine wichtige Krankheits- und Todesursache. Insofern lag es nahe, die tägliche Speise mit den «schärfsten Waffen» zu versetzen, die der Medizin damals zu Gebote standen, um den Krankheitserregern ein schnelles Ende zu bereiten. Aber auch da gab es zahlreiche andere einheimische Pflanzen, die giftig genug waren, um die Würmer aus dem Leib zu treiben. Gewiss, der Pfeffer ist wesentlich bekömmlicher als der Wurmfarn, aber sein Zusatz in Dosierungen von 10 Prozent Gesamtgewicht im Essen bleibt rätselhaft. Wenn es nur um Darmparasiten gegangen wäre, hätte man anstelle einer täglichen Beimischung einfach einmal im Monat eine «Pfefferkur» durchgeführt.

Experten: Keck wie Mäusedreck

Die angesehene Kulturhistorikerin Maguellonne Toussaint-Samat ist davon überzeugt, dass der Besitz des Pfeffers «dessen gastronomische Bedeutung überstieg, denn sobald eine gewisse Menge dieses Gewürzes überschritten wird, wird die Speise ungenießbar. Mehr als jedes andere Gewürz (…) wurde Pfeffer mit der Zeit zu einem Symbol für Macht und Männlichkeit, Qualitäten, die sich in seinem kräftigen, aggressiven Geschmack widerspiegelten. Der symbolische Faktor spielte eine wichtige Rolle, da so riesige Mengen, die kaum gänzlich verzehrt werden konnten, auf die Dauer schal geworden sein müssen.» 70

Sollten europäische Herrscher, die stets unter Geldnot litten, kollektiv ihr Vermögen in verderbliche schwarze Kügelchen, altem Mäusedreck nicht unähnlich, als Symbole ihrer Potenz investiert haben, um sie in Speichern zu horten? Woher stammt die akademische Vorstellung, scharfe Produkte seien ungenießbar? Das mag für die empfindlichen Gaumen europäischer Ernährungsforscher vielleicht zutreffen, aber in den Tropen wird noch heute so scharf gegessen wie einst in Europa.

Ein zweites, nicht minder populäres Erklärungsmodell postuliert, man brauchte den Pfeffer, um den ekligen Geschmack verdorbenen Fleisches zu übertünchen: «Alle Rinder wurden im November geschlachtet und das Fleisch eingesalzen», behauptet John Mann, Chemieprofessor an der Universität Reading, dessen Schwerpunkt die biologischen Wirkungen von Naturstoffen sind. «Die unausweichliche Folge war, dass das Fleisch, wenn es schließlich gekocht wurde, entweder versalzen oder verfault war. Um diesen Geschmack zu überdecken, verwendeten unsere mittelalterlichen Vorfahren große Mengen an Kräutern und Gewürzen, vor allem Pfeffer und Nelken.» 39

Ähnlich sieht es Hansjörg Küster, seines Zeichens Professor für Pflanzenökologie in Hannover: «Der Grund für die Nutzung des Pfeffers im Abendland blieb bis zur Erfindung des Kühlschrankes der gleiche: Natürlich spielte der Reiz des Exotischen eine Rolle, natürlich machte Pfeffer fettes Fleisch bekömmlicher, aber den eigentlichen Sinn der Pfefferwürze nennt Johann Fischart in seiner Gargantua-Übertragung aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts: ‹Über ein stinkend Fleisch macht man (…) gern ein (…) Pfeffer.›» 35

Ob in einem Land scharf gewürzt wird, hängt jedoch gewöhnlich nicht davon ab, wie viel «stinkend Fleisch» in der Speisekammer abhängt, sondern von den Essgewohnheiten. Dort, wo Kühlschränke fehlen, wird Fleisch meist sofort nach der Schlachtung verbraucht. In anderen Gegenden lässt man das Fleisch reifen, bis die Oberfläche grünlich zu schimmern beginnt – denn dann ist es butterzart und passt mit seinem Hautgout zur Spitzengastronomie. Solches würzt der Gourmet dann nur noch sparsam. Auch eine andere althergebrachte Konservierungsmethode, das Räuchern, sorgte eher für neue kulinarische Genüsse denn für einen Salzschock auf der Zunge. Der Verzehr verdorbenen Fleisches hätte allenfalls zu heftigen Verdauungsbeschwerden geführt. Dagegen hilft dann auch kein Pfeffer mehr. Wir können also die Erklärungen der gelehrten Damen und Herren getrost umweltfreundlich entsorgen. Aber die Frage selbst bleibt.

Ebenso rätselhaft wie die jahrtausendelang geübte Pfefferorgie ist ihr sang- und klangloses Verschwinden. Frankreich war das erste Land, das im 17. Jahrhundert begann, auf die exorbitanten Mengen an exotischen Gewürzen zu verzichten. Entsetzt berichteten französische Chronisten von ihren Auslandsreisen hernach, die Gerichte seien vor allem durch Safran und Pfeffer bis zur völligen Ungenießbarkeit «innen gold und schwarz» gewesen. 74 Also ein letztes Mal: Wozu um alles in der Welt waren solche Pfeffermengen nötig?

Der Lösung entgegengefiebert

Hier hilft uns der Hauptscharfstoff Piperin auf die Sprünge. Er macht nicht nur Insekten kalt, sondern gelangt auch ins menschliche Blut. Piperin ist fettlöslich und macht sich ans Albumin und die roten Blutkörperchen heran. 64 Dort verändert es die Ionenkanäle. Und genau das hilft, eine gefährliche Krankheit zu bekämpfen: die Malaria. Sie wird verursacht von einzelligen Parasiten, die sich in den roten Blutkörperchen einnisten. Piperin ist ein Malariamittel 17, 31 – zwar längst nicht so wirksam wie die später entdeckte Chinarinde –, aber das lässt sich ja durch eine höhere Dosis ausgleichen. Je mehr Pfeffer gegessen wird, desto höher der Piperin-Pegel im Blut. Das ist der Grund, warum der Pfeffer – so wie später auch das Chinin – täglich genossen werden musste.

Die Malaria grassierte nämlich keineswegs nur mitten im Römischen Reich, sondern war auch in den nördlichen Provinzen heimisch. In Deutschland gab es die Malaria bis etwa 1960. Sie war damals noch im moorigen Ostfriesland sowie im Rheingraben mit seinen vielen Altwassern und Überschwemmungsflächen endemisch, ideale Brutstätten für Mücken. Zwar ist Piperin gegen den Blutparasiten wirksam, aber nur in hoher Dosierung. Also haben sich die Menschen bemüht, das Präparat durch Zugabe weiterer Wirkstoffe zu optimieren. Ein solcher ist in der Gelbwurz (Curcuma ssp.) enthalten 61 – und das war bereits den alten Kulturen bekannt. Schon Apicius empfahl das erdig schmeckende Ingwergewächs als Gewürz. 42 Sein Wirkstoff heißt Curcumin. Bei oraler Gabe an infizierte Mäuse ließ sich damit der Befall der Blutkörperchen um 80 bis 90 Prozent vermindern. 46, 53

Damit lüftet sich auch der Schleier um ein weiteres kulinarisches Geheimnis: Der allseits beliebte Curry ist in erster Linie ein Medikament gegen Malaria! In Indien und Thailand sind die verschiedenen Currypasten und Pulver naturgemäß weitaus schärfer als in der hierzulande üblichen, von den Briten adaptierten Variante. Denn in Mitteleuropa gibt es keine Malaria mehr. Da Chilis die Wirkung von Piperin auf die Leberenzyme verstärken, 65 liegt es nahe, Currypulver nicht nur mit Pfeffer, sondern auch mit den gemahlenen Schoten anzureichern. 30 Denn bei der Zugabe von Pfeffer zu Chilis handelt es sich um eine kulinarisch wenig einleuchtende Kombination. Pharmakologisch ergibt sie jedoch durchaus Sinn.

Aber mit dem Antimalariaeffekt ist die Wirkung des Currys nicht erschöpft. Denn die Mixturen helfen offenbar auch gegen eine zweite Gruppe gefährlicher einzelliger Krankheitserreger, gegen Trypanosomen. Hier ist bereits ein therapeutischer Effekt bei der Chagas-Krankheit, der Schlafkrankheit und der Leishmaniose nachgewiesen. 7, 18, 40 Einmal auf der Spur, fand sich mittlerweile auch ein Effekt gegen die Amöbenruhr und den Erreger der Tuberkulose. 55 Womöglich spielt Letzteres bei der Beliebtheit des Pfeffers in deutschen Landen eine gewichtige Rolle. Die Pharmaindustrie zumindest versucht seit Jahren fieberhaft, die Inhaltsstoffe von Pfeffer und Curcuma chemisch zu modifizieren, damit sie ihre Mittel patentieren kann. 12, 44

Als die Malaria durch den technischen Fortschritt im Umgang mit Wasserwegen und das Trockenlegen von Feuchtgebieten zurückgedrängt wurde und sich die Chinarinde als wirksamer erwies, war die große Zeit des Pfeffers und des Curcumas vorbei. Nachdem Jesuitenpatres Mitte des 17. Jahrhunderts die Rinde des Chinabaumes (Cinchona ssp.) nach Europa brachten, die 1677 erstmals in einem Arzneibuch erwähnt wird, hatte man ein wirksameres Malariamittel zur Hand. Die Menschen wandten sich jetzt neuen Geschmacksrichtungen zu, die ihnen Wirkstoffe boten, die das Leben angenehmer machten. Der Pfefferhandel versiegte, und der Kakao- und Kaffeeimport begann aufzublühen.

Das Geheimnis der Chilis

Ob Afrika, Indien oder Thailand: Wohin es den Chili in der Vergangenheit auch verschlug, er wurde stets begeistert aufgenommen. Das ist nicht nur erstaunlich, sondern geradezu unglaublich angesichts der Tatsache, dass viele asiatische und afrikanische Länder bereits über eigene scharfe Gewürze verfügten. Was also machte den Neuling aus der Neuen Welt, eine Pflanze, die wir den Reisen des Christoph Kolumbus verdanken, so erfolgreich?

Selbstredend lassen sich mit Chili üble Keime abtöten, die schwere und sogar tödliche Lebensmittelvergiftungen hervorrufen können wie Bacillus cereus, B. subtilis oder Clostridium botulinum. Interessanterweise wirkt er sogar gegen den Erreger von Wundstarrkrampf (Clostridium tetani) und Scharlach (Streptococcus pyogenes). Als antibiotische und fungizide Wirkstoffe der Frucht entpuppten sich aber nicht etwa die Scharfstoffe, das Capsaicin oder Dihydrocapsaicin, sondern zwei Saponine, also seifenbildende Stoffe. Sie heißen Capsicidin und Capsidiol. Saponine bilden beim Schütteln mit Wasser einen Schaum, was auch ihre Wirkungsweise erhellt: Seifen schädigen die Zellmembranen. 9, 14, 21, 63

Die Klimaanlage des Körpers

Die auffälligste Gemeinsamkeit der meisten Länder, in denen der Chili zu den Grundnahrungsmitteln zählt, ist ihr heißes Klima. Und genau darin liegt das Geheimnis der scharfen Schoten: Sie sind in der Lage, die Körpertemperatur zu senken – etwa so, wie ein Eis im Sommer Erleichterung verschafft, weil es im Inneren kühlt. Dieser Effekt erscheint auf den ersten Blick etwas paradox, denn im Mund löst das Gewürz ein Hitzegefühl aus. Trotzdem ist die Wirkung so ausgeprägt, dass eine Überdosis an Capsaicin zum Tod durch zu starke Absenkung der Körpertemperatur führen kann.

Die Rezeptoren, die auf Capsaicin ansprechen und uns das Gefühl der Schärfe vermitteln, warnen gleichzeitig auch vor zu viel Hitze. Daher rührt zunächst auch das Hitzeempfinden im Mund beim Verzehr von Chilis. Der verantwortliche Rezeptortyp heißt Vanilloidrezeptor 1 (TRPV1) und wird normalerweise durch schädliche Wärmeeinwirkung aktiviert. Übersteigt die Kerntemperatur des Körpers 42 °C, so besteht Lebensgefahr, da wichtige Zellfunktionen gestört werden. Kein Wunder also, dass der Organismus bereits im Vorfeld Rezeptoren bereithält. 6, 10 Entsprechend den Wärmerezeptoren gibt es übrigens auch einen Rezeptor für Kälte, der seinerseits auf Menthol anspricht. 28

Der Vanilloidrezeptor leitet das Signal, das durch Wärme oder Capsaicin ausgelöst wurde, bis ins Gehirn zum Hypothalamus weiter. Dort befindet sich das Schaltzentrum zur Regulation der Körpertemperatur. Als Reaktion auf den Reiz werden Mechanismen zum Abkühlen des Körpers aktiviert. Die Haut wird stärker durchblutet, und der Mensch beginnt zu schwitzen. Die stärkere Durchblutung erlaubt es, die Wärme nach außen abzuleiten, der Schweiß kühlt beim Verdunsten. Als Testpersonen nach dem Verzehr von Chili oder Placebo für zwei Stunden einer Temperatur von 38 °C ausgesetzt wurden, wies die Chiligruppe eine um 0,5 °C niedrigere Hauttemperatur auf. 47

Viel entscheidender ist aber, dass Chili die Kerntemperatur des Körpers senkt. Das ist in den Tropen deshalb so wichtig, weil nicht nur die Außentemperatur zählt, sondern auch die metabolische Wärme, die der Körper selbst produziert. Deshalb werden in heißen Ländern mittags alle unnötigen Aktivitäten vermieden. Injiziert man Ratten Capsaicin unter die Haut oder direkt ins Gehirn, weiten sich die Blutgefäße, auch die Stoffwechselrate sinkt. Es folgt ein lang anhaltendes Absinken der Körpertemperatur. 15, 33, 67 Die Versuchstiere halten ihre niedrigere Körpertemperatur auch in einer warmen Umwelt aufrecht und meiden kältere Umgebungen. 66, 78

Beinahe doppelt so effektiv wie mit Capsaicin lässt sich die Körpertemperatur mit Dihydrocapsaicin senken. Die Substanz macht etwa 30 Prozent des Scharfstoffanteils in Chilis aus und gelangt vermutlich noch leichter ins Gehirn als Capsaicin. 43 Das erklärt die Beliebtheit der Chilis.

Heiße und kalte Scharfstoffe
Auch der Mitteleuropäer isst manchmal scharf, viele Menschen lieben Meerrettich, Radieschen, Zwiebeln oder Senf. Ihre Wirkstoffe sind allerdings schwefelhaltige Verbindungen, beispielsweise Isothiocyanate. Isothiocyanate aus Senf und Meerrettich reagieren nicht etwa mit den Wärme-, sondern mit den Kälterezeptoren (TRPA1 bzw. ANKTM1). 29, 41 Sie signalisieren dem Körper, dass er es mit bedrohlicher Kälte zu tun bekommt – woraufhin dieser wärmende Maßnahmen einleitet, was in unseren Breiten erwünscht ist.

Die altväterliche Warnung vor dem «Überwürzen» von Speisen ist ein Zeichen kulinarischer und medizinischer Ignoranz. Die Gewürze sind nicht primär um des Gaumenkitzels willen da, zur Verführung armer Sünder – sie erfüllen wichtige biologische Funktionen. Und weil sie uns gesundheitlich nützen, schmecken sie uns. Als Hippokrates forderte, unsere Nahrungsmittel mögen unsere Heilmittel sein, hatte er wohl kaum vorgeweichte Körner im Sinn. Die Heilmittel seiner Zeit waren optimal zubereitete Speisen – mit den richtigen Gewürzen verfeinert! Und wenn sich die Lebensbedingungen wandeln, ändern sich prompt auch unsere Geschmacksvorlieben.