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Lockruf des Waldes

Von Göttern, Berserkern und Hippies

Essen Sie gern Pilze? Nein, nicht das Mutterkorn, sondern echte Speisepilze? Dann sind Sie in guter Gesellschaft. Pilze sind eine beliebte Beilage zu vielen Gerichten, sei es Jägerschnitzel mit Champignons, Hirschragout mit Pfifferlingen oder Kalbsfilet mit Steinpilzen. Aber mit diesen drei Vertretern sind die Kenntnisse der meisten Zeitgenossen über die Vielfalt unserer heimischen Pilzwelt auch schon erschöpft. Speisepilze mit so knorrigpoetischen Namen wie Flockenstieliger Hexenröhrling, Samtfuß-Rübling, Ziegen-Ellerling, Natternstieliger Schleimfuß oder Graublättriger Schwefelkopf, die in der Bibel der Pilzsucher, dem «Kleinen Jahn», aufgeführt werden und früher je nach Region und Jahreszeit häufig auf den Tisch kamen, sind heute nur noch Mykophilen bekannt. 17

Im Grunde ist das kein Wunder, denn Pilze sind relativ nährstoffarm und müssen in der Regel gründlich und über längere Zeit erhitzt werden, bevor man sie gefahrlos verzehren kann, was ihre karge Energiebilanz weiter verschlechtert. Und selbst nach dem Erhitzen sind sie oft schwer verdaulich, wie schon der griechische Arzt Dioskurides erkannte, der im 1. Jahrhundert u. Z. als Erster wissenschaftlich über Pilze schrieb. 28 Denn anders als bei der Schnecke weist der menschliche Verdauungstrakt keine effiziente Chitinase auf, mit der sich die Chitinzellwände der Pilze abbauen lassen. Und last, but not least ist auch der Verzehr von geschmorten Pilzen nicht ohne Risiko: Wer Wiesenchampignons mit Knollenblätterpilzen verwechselt, hat wahrscheinlich seine letzte Mahlzeit zu sich genommen. Insofern sind Schwammerl ernährungsphysiologisch eher etwas für Hungerzeiten. Das Nahrhafteste an getrockneten Pilzen sind nicht selten die Maden der Pilzmücken, die sich alsbald darin tummeln.

Pilze allein als Nahrung zu betrachten, wäre demnach allzu einfach. Gerade wegen ihrer psychoaktiven Inhaltsstoffe, die zu Vergiftungen führen können, dienten sie seit eh und je als Rauschmittel, das es erlaubt, mit den Göttern in Kontakt zu treten. Vielleicht haben auch Speisepilze mehr zu bieten als nur ein paar Mineralien oder Ballaststoffe? Nicht zufällig verschwimmen diese Unterschiede von Fall zu Fall, und manche Pilze, die in der einen Region als essbar gelten, sind in einer anderen giftig. So hat die Großmutter einer der Autorinnen, die eine eifrige Pilzsammlerin war, in den Hungerzeiten nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach erlebt, dass Flüchtlinge aus dem Osten im Rheinland Fliegenpilze verzehrten, die bei ihnen als ungiftig galten. In der Folge kam es freilich wiederholt zu schweren Vergiftungen. Je nach Standort und Klimabedingungen kann der Pilz kaum oder stark giftig sein. Beim Fliegenpilz nimmt die Giftigkeit offenbar von Ost nach West zu, bei der Frühjahrslorchel scheint es umgekehrt zu sein. 6

Wie dem auch sei, in Frankreich schätzt man gekochte und eingesalzene Fliegenpilze als Konserve 13, 14, wobei man sich über deren besondere Qualitäten offenbar durchaus im Klaren ist – schließlich heißt der Fliegenpilz im Französischen «champignon fou», der verrückte Pilz. Das meiste Gift befindet sich in der roten Huthaut, sodass der Pilz nach deren Entfernung an Giftigkeit verliert. 25 Auch im Alpenraum, der vor allem in den höheren Lagen nicht gerade ein Garten Eden ist, schreckt man vor dem Konsum selbst kulinarisch minderwertiger Pilze wie der ledrigzähen Porlinge nicht zurück. Das hat eine lange Tradition: Schon der «Ötzi», die berühmte, rund 5300 Jahre alte Gletschermumie aus den Ötztaler Alpen, trug Lärchen- und Birkenporlinge (Laricifomes officinalis, Piptoporus betulinus) bei sich, die wohl nicht nur als Zunderschwamm dienten. Diese Porlinge werden wegen ihrer halluzinogenen Inhaltsstoffe noch heute zur Berauschung genossen. 1, 12

Die Speise der Götter

Wein war in der Antike so geschätzt, dass nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter ihm reichlich zusprachen, allen voran Dionysos (römisch Bacchus), der Gott des Weines und der Ekstase, stets begleitet von lüsternen Satyrn. Nun ist bekannt, dass Alkohol, in größeren Mengen genossen, zwar «das Verlangen befördert», aber «das Tun dämpft», wie es der Pförtner in ‹Macbeth› so trefflich formuliert. Die sprichwörtliche sexuelle Potenz der bocksbeinigen Satyrn hat die Vermutung genährt, dass der Wein bei den dionysischen Festen nur dazu diente, ein stärkeres Rauschmittel hinunterzuspülen: getrockneten Fliegenpilz (Amanita muscaria). Er galt in der Antike als «Speise der Götter» wie alle roten Speisen. Ambrosia und Nektar waren nach dieser Auffassung Fliegenpilzwein. 12

Der Konsum dieses Pilzes passt bemerkenswert gut zum Verhalten der Dionysos-Jünger: Er regt die Sanges- und Fabulierfreude an, bewirkt sexuelle Erregung, rauschhafte Ekstase und große körperliche Ausdauer. Auf einige Stunden der Raserei folgt dann die völlige Erschöpfung. 4, 13, 14, 23, 41 Der rote Pilz mit den lustigen weißen Tupfen, den jeder, wenn nicht aus eigener Anschauung, so doch aus Märchenbüchern kennt, ist in Europa, Asien und Nordamerika weit verbreitet und enthält die psychoaktiven Aminosäuren Ibotensäure und Muscimol sowie das Amin Muscarin. Frisch, als Suppen- oder Soßeneinlage, soll der Fliegenpilz angeblich weniger stark wirken. Das wäre denkbar, weil einer seiner Hauptwirkstoffe, das Muscimol, erst beim Trocknen oder Verarbeiten gebildet wird. 22

Seinen Namen verdankt der Fliegenpilz übrigens der profanen Tatsache, dass er auch Fliegen und Mücken betäubt: So empfahl der Botaniker und Pilzkenner Adamus Lonicerus (1528 – 1586), ins heutige Deutsch übersetzt: «Die roten Fliegenpilze soll man in Milch sieden und den Mücken hinstellen, damit sie davon sterben»; daher wurden Hauswände bei uns früher mit Pilzbrei bestrichen, um Insekten fernzuhalten. 4, 27

Seit jeher wird der Pilz von sibirischen und nordamerikanischen Völkern bei religiösen Zeremonien für Visionen genutzt, um im Rausch ihren Göttern nahezukommen. Der Forscher Georg Wilhelm Steller war im 18. Jahrhundert einer der ersten Europäer, der Zeuge wurde, wie der Fliegenpilz (volkstümlich Narrenschwamm) auf seine sibirischen Gastgeber wirkte: «Sie trocknen diese Schwämme, essen solche ohngekäuet in ganzen Stücken, und trinken eine gute Portion kalt Wasser darauf; nach Verlauf einer halben Stunde werden sie davon toll und besoffen, und bekommen allerlei wunderliche Phantasien. Die … sich aber aus Armut keinen anschaffen können, fangen den Urin von den Besoffenen auf und trinken ihn aus, werden davon ebenso rasend und noch toller, und wirket der Urin bis auf den vierten und fünften Mann.» 34

Dieses instruktive Beispiel für erfolgreiches Recycling von entsorgungspflichtigen Konsumprodukten ist schnell erklärt, wenn man weiß, dass die Ibotensäure im Körper in Muscimol umgewandelt wird, das mit dem Harn ausgeschieden wird. Muscimol wirkt noch stärker halluzinogen als Ibotensäure. Insofern handelt es sich nicht um das im Umweltsektor verbreitete Downcyceln, sondern ganz im Gegenteil um ein «Upgrading». 27 Stellers Zeitgenosse, der russische Naturforscher und Geograph Stepan Petrovich Krasheninnikov, beschreibt eindrucksvoll die Verschiebung von Perspektiven und Dimensionen, die die sibirischen Fliegenpilzesser erleben: «Sie sind verschiedenen Dimensionen ausgesetzt – erschreckenden oder glücklichen … wodurch die einen springen, einige tanzen, andere schreien und schrecklichen Terror erleiden, und wieder andere halten einen kleinen Spalt für so groß wie eine Tür und einen Kübel Wasser für so tief wie das Meer.» 23 Bis heute werden in weiten Teilen Sibiriens Fliegenpilze anstelle von Alkohol genossen.

Das Geheimnis des Zaubertranks

Vieles spricht dafür, dass Fliegenpilze nicht nur im hohen Norden, sondern auch in Mitteleuropa früher häufiger auf dem Speiseplan standen: Menschen, die auf einem Fliegenpilz-Trip sind, fühlen sich extrem stark, schier unüberwindlich und unverwundbar. Vieles lässt an die Beschreibung denken, die antike römische Autoren von der «Berserkerwut» nordischer Völker im Kampf gegeben haben. «Berserker» stammt aus dem Altnordischen und bezeichnete ursprünglich das «Bärenhemd», in das sich die Krieger hüllten, um sich ein besonders furchterregendes Äußeres zu geben und die Kraft des Bären zu übernehmen. Die altisländischen Sagen berichten von der blinden, tierischen Wut der ohne Waffen und Rüstung (Brünnen) Kämpfenden, die durch Zauber(mittel) in Ekstase versetzt wurden.

Berühmt-berüchtigt war ihre bis zur Raserei gesteigerte Wut, die ungeheuren Kräfte, die sie im Kampfesrausch entwickelten, und die tiefe Erschöpfung, in die sie nach dem «Berserkergang» fielen: Odin machte, dass seine Männer in der Schlacht ohne Brünnen und rasend waren wie Hunde oder Wölfe, die in ihre Schilde bissen und stark waren wie Bären oder Stiere; sie töteten die Männer, aber weder Feuer noch Eisen verletzten sie; das nannte man ‹berserkirgang›! (Ynglinga-Saga, Snorri Sturluson, um 1220) Auch Tacitus berichtet von tollkühnen Kriegern, die brüllend mit nacktem Oberkörper kämpften – Fliegenpilz führt auch zu Hitzewallungen –, und lobt die Todesverachtung, mit der sie sich in den Kampf warfen. Dieses Know-how dürfte auch in jenem Zaubertrank stecken, mit dem sich der gallische Comic-Held Asterix Cäsars Legionen vom Leibe hielt. Der kluge, pharmakologisch bewanderte Druide Miraculix hat sein Gebräu wohl nicht nur mit Misteln gewürzt …

Nicht nur griechische Götter, nordische Krieger und gallische Dickköpfe stärkten sich an diesem pittoresken Pilz, auch im 19. Jahrhundert, im prüden Großbritannien von Königin Viktoria, wurde damit experimentiert: In «Alice im Wunderland» isst die Heldin Alice von einem Pilz und fühlt sich abwechselnd winzig klein und riesig groß mit Schlangenhals, sodass sie ihre Schultern aus den Augen verliert. Der Schriftsteller und Mathematiker Charles Dodgson, der unter dem Pseudonym Lewis Carroll schrieb, beschreibt die Symptome eines Fliegenpilz-Trips so genau, dass man annehmen darf, dass er nicht nur das damalige Standardwerk über Pilze, das «Manual of British Fungi», zu Rate gezogen, sondern überdies selbst Erfahrungen mit diesem Pilz gesammelt hat. 4, 7 In jüngerer Zeit soll sich das rote Männlein bei den Hippies, die die kleine Alice schon immer als eine der ihren ansahen, ebenfalls großer Beliebtheit erfreut haben. Nicht von ungefähr ist Amanita muscaria in den USA heute einer der meistverzehrten psychotropen Pilze. 4

Abb. 6: Alice und die Pilze im Wunderland. Wie es der zeitgenössische Illustrator John Tenniel 1865 auf den Punkt brachte.

Ein potentes Gegenmittel bei einer Fliegenpilzvergiftung ist übrigens Atropin, das Alkaloid der Tollkirsche, denn es verdrängt das Muscarin des Fliegenpilzes wieder von seinen Andockstellen auf der Nervenzelle, den Acetylcholin-Rezeptoren.

Trau, schau, wem!

Die Ambivalenz, diese seltsame Mischung aus Angst und Verlockung, die wir Rauschdrogen gegenüber empfinden, symbolisiert der Fliegenpilz in exemplarischer Weise: Auf der einen Seite ist er der Giftpilz par excellence, den buchstäblich jedes Kind kennt, und steht für den Tod. Auf der anderen Seite gilt er aufgrund seiner halluzinogenen Effekte als Glückssymbol (daher der Begriff «Glückspilz») und versüßt, in Schokolade oder Marzipan geformt, das Leben.

Man fragt sich natürlich, warum es bei diesen Inhaltsstoffen nicht häufiger zu Vergiftungen kommt (in Deutschland sind es im langjährigen Durchschnitt rund zehn Todesfälle pro Jahr 20) und warum in der österreichischen Gastronomie die Gäste nach einem traditionellen Omelett mit Schwammerln nicht halluzinieren. Dies ist zweifellos eine Frage der Dosis und der persönlichen Empfindlichkeit. Wer Pilze nicht verträgt, weil er sich danach «komisch» fühlt, wird sie nicht mehr essen. Aber Vorsicht, die Gehalte an Inhaltsstoffen können stark schwanken. Pilze sind aufgrund ihres variablen Sekundärstoffwechsels unberechenbar – und werden deshalb von vielen als Nahrungsmittel generell gemieden. Das schlägt sich in abgelehnt abschätzigen Ausdrücken wie Toadstools, Paddestoel und Poggenstuhl, sprich Krötenhocker, nieder. In Gegenden mit hohem Drogenbedarf – je weiter nördlich, desto weniger Licht – steigt das Interesse allgemein wieder.

Grenzgänger

Falten-Tintlinge (Coprinus atramentarius), von Mai bis November massenhaft auftretende Speisepilze, sind als junge Exemplare durchaus schmackhaft. Ältere Schwammerl zerfließen zu einer schwärzlich braunen «Tinte», daher der Name. Sie sollen jedoch nicht zusammen mit Alkohol genossen werden. 17 Der Grund ist das Coprin. Coprin hemmt den Abbau von Acetaldehyd, der bei der Verstoffwechselung von Ethanol entsteht. Dann entwickelt der Pilzliebhaber unter Umständen Symptome, die denen nach einer Alkoholintoleranz gleichen: 40 heißes, rotes und schwitzendes Gesicht, beschleunigte Atmung, Kopfweh, Übelkeit und Erbrechen. Der Anti-Alkohol-Effekt kann drei bis vier Tage anhalten. 9

Genau das Gegenteil trifft für den Knollenblätterpilz zu. Hier hilft bei Vergiftungen der gewöhnliche Alkohol. Dieser Zusammenhang ist aus der Volksmedizin bekannt: Bei Verdacht auf Pilzvergiftung wurde zu ein paar Stamperln nach dem Essen geraten. Aber auch, wenn die positive Wirkung von Alkohol gesichert ist, 10, 11 raten wir in einem solchen Fall zum Anruf bei der Giftnotrufzentrale.

Der Riesen-Trichterling (Clitocybe gigantea), ein «guter und infolge seiner Größe lohnender Speisepilz», 17 weil fleischig und gesellig (er bildet ergiebige Hexenringe von bis zu 35 Meter Durchmesser), enthält wie alle hellfarbenen Clitocybe-Arten Muscarin, also jenen Stoff, der auch für die Rauschwirkung des Fliegenpilzes verantwortlich ist. 28 Ein gerade in Süddeutschland und Frankreich sehr beliebter Speisepilz, der Nebelgraue Trichterling (Clitocybe nebularis), enthält wahrscheinlich ebenfalls etwas Muscarin sowie Nebularin. 42 Er wird unter der Bezeichnung «Herbstblattln» auf dem Markt angeboten. 12 Da Nebularin nicht nur toxisch, sondern auch hitzestabil ist, wird empfohlen, den Pilz erst einmal fünf Minuten im Wasser kochen zu lassen, das Kochwasser wegzuschütten und ihn dann erst fertigzugaren. Nebularin ist ein Analogon von Adenosin. Adenosin-Rezeptoren spielen eine wichtige Rolle in der Psychopharmakologie. 44

Ein häufiger und gern gesammelter Speisepilz ist auch der Hallimasch (Armillariella mellea), der roh als giftig gilt. 28 Über Toxine im Hallimasch-Gift ist bisher kaum etwas bekannt, doch er scheint, zumindest frisch vom Baumstumpf gepflückt, psychotrope Substanzen zu enthalten, wie eine der Autorinnen im Selbstversuch feststellen konnte: «In einem Anfall von jugendlichem Imponiergehabe verzehrte ich einmal einige Pilzköpfe vor den Augen einer staunenden Kindermeute roh. Sie schmeckten ein wenig säuerlich, aber nicht schlecht. Einige Zeit später begannen die Bäume komisch zu schwanken, die Hände prickelten, mir wurde kalt, und sämtlichen Häusern, an denen es keinen einzigen rechten Winkel mehr gab, wuchsen Dächer aus tanzenden Pilzen. Dann revoltierte der Magen. Vierundzwanzig Stunden später war der Spuk vorbei.»

Der Verzehr des Kahlen Kremplings (Paxillus involutus), dessen manchmal letal wirkende Inhaltsstoffe noch nicht eindeutig identifiziert sind, führt bei manchen Personen zu Schweißausbrüchen, Herzrasen und Übelkeit sowie zu einem eisigen Gefühl von den Füßen bis zum Kopf. 5, 28 Dennoch verzehren sie den Pilz weiter mit Begeisterung – erinnert das nicht fatal an den Fugu-Verzehr und seine Symptomatik (siehe Seite 98)? Immerhin sollen Extrakte des Kahlen Kremplings zumindest bei Mäusen krampflösend und anregend auf das Zentralnervensystem wirken. 3

Eine der Autorinnen hat den Pilz schon öfter problemlos genossen. Das liegt vielleicht daran, dass der Kahle Krempling mit zahllosen Nadel- und Laubbaumarten in Symbiose lebt und deswegen ein besonders variables Inhaltsstoffspektrum aufweist. Und nicht nur das Psilocybin aus «Zauberpilzen» oder das Muscimol des Fliegenpilzes, sondern auch so manch anderer Stoff, der in hoher Konzentration giftig ist, kann in mittlerer Dosis Euphorien hervorrufen. In niedriger Dosis sorgt er für eine angenehme Stimmung nach dem Mahl: Der Esser entspannt sich, und die Tafelrunde fühlt sich «so richtig gut».

Pilzliebhabern droht aber Ungemach von einer Seite, die Mutter Natur gar nicht vorgesehen hat. 2009 warnte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) vor nikotinbelasteten, getrockneten Wildpilzen. Produkte aus China erreichten immerhin Spitzenwerte von 0,5 mg Nikotin/kg und damit mehr als das Zehnfache der akzeptablen Höchstmenge – eine Dosis, die bei empfindlichen Personen kurzzeitig zu einer leicht erhöhten Herzschlagfrequenz, Schwindel und Kopfschmerzen führen kann. 43 Ob z. B. Pestizidrückstände oder stark qualmende Arbeiter die Quelle sind, ist ungewiss; sicher ist hingegen, dass Nikotin sämtlichen Viechern, die gern an Frisch- oder Trockenpilzen naschen, wirkungsvoll den Garaus macht. Statt mit Nikotinpflastern könnten es Entwöhnungswillige hierzulande ja einmal mit einer kräftigen Suppe aus chinesischen Trockenpilzen probieren.

Fernöstliche Geheimnisse

Wie schon der englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon 1627 in seinem Sylva Sylvarum bemerkte, bringen Pilze auch den Geschmack nach Fleisch ins Essen – Champignons und Steinpilze, wie wir heute wissen, dank ihres Gehalts an Glutaminsäure und Ribonukleotiden. 37, 38 Im Falle des Shiitake-Pilzes (Lentinulus edodes) ist der Fleischeffekt besonders ausgeprägt, was seine Beliebtheit in Regionen erklärt, die zu historischen Zeiten unter Fleischknappheit litten. Im 16. Jahrhundert wurde der Shiitake-Anbau von chinesischen Bauern in Japan eingeführt. 16, 30

Besonders interessant dürften die γ-Glutamyl-Dipeptide der Shiitake-Pilze sein. 2 Manche davon, etwa das γ-Glutamyl-Glutamat, kommen auch im Gehirn von Säugetieren wie dem Menschen vor. 8, 26 Bei Ratten dienen γ-Glutamyl-Dipeptide offenbar als Botenstoffe oder beeinflussen zumindest die Signalübertragung im Nervensystem. 8, 19, 20, 21, 39 Womöglich bedingt das eine angenehme Zufriedenheit nach dem Verzehr von Shiitake & Co.

Zudem treffen diese γ-Glutamyl-Peptide noch einen anderen Nerv, denn sie sind auch potente Geschmacksverstärker. Werbelyriker im Land der aufgehenden Sonne haben dafür die Bezeichnung kokumi ersonnen: «Dieses japanische Wort beschreibt den vollmundigen Geschmack von Nahrungsmitteln, den man von lang gereiftem Käse, einer über Stunden gekochten Hühnerbrühe oder Großmutters Eintöpfen und Pasteten kennt», so eine Firmenschrift von Ajinomoto Foods Europe SAS. Diese Peptide sorgen für das lang anhaltende Geschmackserlebnis und sind u. a. auch in Käse, Zwiebeln und Knoblauch enthalten. Das könnte erklären, warum diese Zwiebelgewächse – trotz ihrer tränenreichen Zubereitung oder des sprichwörtlichen Gestanks – allgemein beliebte Würzgemüse sind. 29, 36

Das Chemielabor im Wald

Vom König der Pilze, dem Steinpilz (Boletus edulis), dürfen wir vielleicht handfestere Überraschungen erwarten. Er enthält immerhin ein klein wenig α-Amanitin (1 – 10 ppb [Teile pro Milliarde] Frischgewicht), also das Gift des Grünen Knollenblätterpilzes (Amanita phalloides); das Gleiche gilt für den Wald-Champignon (Agaricus sylvestris). 35 Letzteres verwundert allerdings weniger, da Champignons und Knollenblätterpilze nicht nur ähnlich aussehen, sondern auch wesentlich enger miteinander verwandt sind als mit dem Steinpilz.

In weitaus höherer Dosis als das Amanitin enthalten Champignons Agaritin, ein Derivat des Phenylhydrazins. 18 Die Mengen reichen bis zu 250 Milligramm pro Kilo. 15 Bei Mäusen löst es Erregung und Krämpfe aus, in höherer Dosis tritt der Tod ein. 31 Daneben enthalten Champignons Hydrazin, 24 bis dato vor allem als Ausgangsmaterial zur Herstellung von Raketentreibstoff bekannt. Hydrazin wirkt im Tierversuch neurotoxisch und ruft Depressionen hervor. 31 Beide Stoffe bremsen die Monoaminooxidasen (MAOs), jene Enzyme, die die Amine in der Nahrung unschädlich machen. Es fällt auf, dass Champignons gerne zusammen mit typischen Aminlieferanten in Topf und Pfanne kommen: Vor allem in Tomaten- und Rotweinsoßen wimmelt es nur so von Aminen. Doch herauszufinden, welchen spezifischen psychotropen Verlockungen des Waldes die Liebhaber von Jägersoßen, Champignon-Omeletts und Steinpilz-Risotto erliegen, bleibt künftigen Forschergenerationen vorbehalten.

Fazit ist: Je nach Wirkung und Bekömmlichkeit unterscheidet sich unsere Vorliebe für Pilze von Individuum zu Individuum. Der eine verzehrt Pilze leidenschaftlich gern, der andere verspeist sie nur gelegentlich, und ein Dritter verträgt sie überhaupt nicht. Wir essen die Schwammerl nicht wegen ihres Nährwerts, sondern sie schmecken, weil ihr Verzehr bei denjenigen, die sie mögen, das Lebensgefühl hebt.