Kapitel Zehn

Zwei Haie lagen tot auf der gelb gepflasterten Straße. Ihre Jockeys zuckten. Ryn’Nel sah, wie sich die trübe Nährflüssigkeit in ihren Nabelschnüren mit schwarzem Blut vermischte. Sie starben, obwohl ihre eigenen Körper unverletzt waren.

Ich wollte diesen Fluch von uns nehmen, dachte er. Und nun werde ich hier mit ihnen sterben.

Es schien keinen Ausweg mehr zu geben. Algernon Reynolds’ Leute hockten hinter Öffnungen hoch oben in den Wänden und feuerten wahllos in den Park auf beiden Seiten der Straße hinein. Sie waren keine guten Schützen, aber das mussten sie auch nicht sein. Ihre Ziele saßen fest. Früher oder später würden sie sie treffen. Er fragte sich, woher ihre Waffen stammten, und dann dachte er an das Chaos, das die Menschen, denen Ama’Ru sich angeschlossen hatte, auf der Station ausgelöst hatten. Niemand hatte danach die Waffen der Toten gezählt.

Ryn’Nel zuckte zusammen, als eine Kugel über ihm in den Baum einschlug und ein Stück Rinde herausschlug. Mak’Uryl hockte mit gezogener Waffe neben ihm, schoss aber nicht. Er wollte ihre Position nicht preisgeben. Seine Tentakel schlangen sich um Zweige und Wurzeln. Schwarze Schlieren trübten seine Augen.

Etwas stimmt nicht mit ihm.

Schüsse auf der anderen Seite der Straße lenkten ihn ab. Durch die Baumkronen sah Ryn’Nel einen Menschen lautlos nach unten stürzen. Ein paar Haie stießen Siegesschreie aus.

»Einer von ihnen, aber wie viele von uns?«, sagte Mak’Uryl. »Wir müssen hier weg.«

Ryn’Nel dachte an die Tür, die zum Gangsystem führte. Sie war vielleicht ein Dutzend Meter entfernt. Die Menschen würden ihnen nicht folgen, wenn sie das Habitat erst einmal verlassen hatten. Sie wussten, dass sie den Haien im Nahkampf hoffnungslos unterlegen waren.

»Ein Ausbruch?«, fragte Ryn’Nel. »Wir brauchen höchstens fünf Sekunden bis zur Tür. In der Zeit können sie uns nicht alle umbringen.«

»Aber sie können Sie umbringen.« Mak’Uryls trüber Blick fiel auf Ryn’Nels Flügel. »Sie sind nicht gerade unauffällig.«

Einen Augenblick lang dachte Ryn’Nel daran, sich für die anderen zu opfern. Die Flügel ausbreiten, aufsteigen und das Feuer auf sich ziehen. Ein heroisches Ende und eines, das ihm in seinem Clan über Jahrhunderte einen dritten Namen wie der Mutige oder der Ehrenvolle einbringen würde. Doch ein Toter konnte seinen Ruhm nicht mehr genießen und außerdem waren seine Forschungen zu wichtig, um mit ihm auf dieser Station mitten im Nichts zu sterben.

»Ich weiß, woran Sie denken«, sagte Mak’Uryl. Trotz der seltsamen Schlieren in seinen Augen klang er gelassener und vernünftiger als noch vor wenigen Minuten. »Lassen Sie das.«

»Ich habe es bereits gelassen.«

Es knallte. Aus den Öffnungen wurden die nächsten Salven abgefeuert. Ryn’Nel hörte jemanden schrill aufschreien und zog den Kopf ein. »Aber so geht es nicht weiter. Brechen wir aus. Riskieren wir–«

Ein leises Piepen unterbrach ihn. Ryn’Nel zog sein Pad aus der Satteltasche und rollte es aus. Die Nachricht, die er erhalten hatte, stammte von Snyder und bestand aus einem Satz: ›Halten Sie sich bereit.‹

Ryn’Nel zeigte sie Mak’Uryl. Der stieß einen kurzen, klackernden Laut aus – er lachte. »Wollen die Menschen Sie retten oder Sie ausliefern, um sich selbst zu retten? Das ist die Frage, die Sie sich stellen sollten. Sie wissen ja, wie die sind.«

Das war ein Satz, den Ryn’Nel oft hörte, meistens von denen, die so wenig wie möglich mit den Menschen zu tun haben wollten.

»Hört auf zu schießen!« MacColloughs Stimme erhob sich über den Lärm. »Stop! Hört auf!«

Ein letzter Schuss verhallte, dann hörte Ryn’Nel nur noch das Klingeln in seinen Ohren. Die Pflanzen an den Metallwänden dämpften den Lärm zwar ein wenig, aber er hatte ein empfindlicheres Gehör als die meisten anderen Völker. Und so hörte er das Knacken kleiner Zweige und das Rascheln von Laub bereits, bevor er Snyder und MacCollough auf die Straße treten sah. Sie trugen einen benommenen Reynolds zwischen sich.

»Wo haben sie den denn her?«, flüsterte Mak’Uryl. Sein Atem roch salzig und ein wenig nach Kupfer, wie Blut.

»Sie wissen ja, wie die sind«, sagte Ryn’Nel lächelnd. »Klauen alles, was nicht festgenagelt ist.«

MacCollough und Snyder drehten sich, damit alle, die in den Wänden hockten, sehen konnten, wer ihr Gefangener war.

»Ihr habt Jockeys umgebracht«, rief MacCollough. »Ihr wisst, was das normalerweise bedeutet. Für jeden von ihnen, sterben zehn von uns. Oder hundert, je nach Laune.«

Er machte eine Pause. »Aber in diesem Fall sind Sie bereit, auf ihre Rache zu verzichten. Sie haben uns sogar Algernon überlassen, den Mann, der diese Kolonie bisher so gut geleitet hat.«

Reynolds schüttelte den Kopf. Ob er damit Widerspruch signalisieren oder nur seine Benommenheit vertreiben wollte, konnte Ryn’Nel nicht erkennen. Er hoffte nur, dass er sich nicht einmischen würde. Das, worauf MacCollough abzielte, würde er nicht gutheißen.

»Niemand soll mehr sterben«, fuhr MacCollough fort, »keiner von uns, keiner von ihnen. Alle werden ihre Waffen niederlegen, Jockeys wie Menschen. Und dann werden sich unsere Wege trennen. Was ihr danach macht, ist eure Sache. Besorgt euch ein paar Schiffe, verschwindet, baut euch unter Algernons Führung irgendwo was auf. Ihr seid nicht infiziert, ihr könnt Kinder kriegen, in Frieden leben. Werft das nicht weg.«

»Wieso sollten sie uns gehen lassen?«, rief eine Frau. »Sie brauchen uns doch.«

MacCollough hob die Schultern. »Tun sie das? Es gibt Tausende, die nicht infiziert sind, man muss sie nur finden. Und dank der Habitate ist das nicht mehr schwierig.«

Erneut machte er eine Pause. Es fiel kein Schuss. Ryn’Nel konnte sich vorstellen, wie verlockend sein Angebot für die Menschen klingen musste. Sie hatten gerade erst erfahren, dass sie nicht infiziert waren. Sie hatten noch keine Zeit gehabt, sich zu fragen, was das bedeutete, aber nun sagte MacCollough es ihnen. Er gab ihnen Hoffnung und eine Zukunft.

»Also gut, einer muss ja anfangen.« MacCollough zog seine Pistole, nahm das Magazin heraus und warf beides ins Gebüsch. Snyder folgte seinem Beispiel und legte auch das Messer ab, das in seinem Stiefel gesteckt hatte.

»Eine überzeugende Vorstellung«, sagte Ryn’Nel. »Ich glaube es fast selbst.«

»Vielleicht sind Sie leichtgläubiger als die da oben.« Mak’Uryl warf einen Blick die Wand hinauf, fuhr jedoch herum, als etwas metallisch auf die Straße schlug. Es war ein Gewehr. Das Magazin landete einige Meter entfernt und rutschte über die Pflastersteine. Ein zweites Gewehr folgte, dann eine Pistole.

Ryn’Nel richtete sich auf. »Legen Sie Ihre Waffen ab und kommen Sie zur Straße«, rief er in der Sprache der Haie. »Ihnen wird nichts geschehen.« Er nickte Mak’Uryl zu. »Worauf warten Sie?«

Mak’Uryl zögerte. Die schwarzen Schlieren in seinen Augen wurden dichter. »Also gut. Vro’kel! Gefällt es Ihnen, dieser Bitte nachzukommen?«

»Das tut es.« Die Antwort kam spontan. Nach und nach verließen die Haie ihre Deckung und traten auf die Straße. Einige hatten die Hände erhoben, so wie sie es in den Filmen der Menschen gesehen haben mussten. Aus den Öffnungen fielen weitere Waffen. Ryn’Nel schätzte, dass es ungefähr zwanzig waren, die er schließlich auf der Straße und im Gras liegen sah. Das waren mehr, als er gedacht hatte. Wir hatten keine Chance gegen sie.

Ryn’Nel stand auf. Einer von Mak’Uryls Tentakeln schlang sich um seinen Flügel. »Bleiben Sie in Deckung. Wenn auch nur ein Mensch sich nicht an die Abmachung hält…«

»Sie werden sich alle daran halten«, sagte Ryn’Nel und streifte den Tentakel ab. »Sie haben jetzt etwas, für das es sich zu leben lohnt.«

Natürlich war das nur ein Traum. Sobald Ryn’Nel und die anderen das Schiff erreicht hatten, würden sie das Internet blockieren und Verstärkung holen. Auf Scania würde es weitergehen wie zuvor.

Er trat auf die Straße und sah zu den Wänden hinauf. Einige Menschen hatten die Schächte bereits verlassen und standen auf dem Boden, nahe der Türen, die in die Wände führten. Sie wirkten nervös, aber nicht ängstlich.

»Ich danke Ihnen«, rief Ryn’Nel. »Sie haben nichts mehr von uns zu befürchten.«

MacCollough und Snyder ließen Reynolds zu Boden sinken. Der hob den Kopf und sah sich mit glasigem Blick um, als verstünde er noch nicht, was um ihn herum geschah. Ryn’Nel sah, dass seine Haare blutverklebt waren. Er war der Einzige, der ihre Flucht noch verhindern konnte – wenn er rechtzeitig zu sich kam.

»Beeilen wir uns«, sagte Ryn’Nel leise zu den Haien, die in seiner Nähe standen. Sie schlossen sich ihm an.

Sie erreichten die Tür zum Gangsystem ohne Zwischenfälle. Die Menschen beobachteten sie, einige folgten ihnen sogar, aber niemand unternahm etwas. Aus dem Augenwinkel sah Ryn’Nel, wie zwei Menschen sich neben Reynolds hockten.

MacCollough öffnete die Tür und nickte ihm zu. »Sie zuerst, Sir. Wir anderen sind entbehrlich.« Er schien ebenfalls erkannt zu haben, dass die einzige Gefahr von Reynolds ausging. Der hob nun den Kopf und sagte etwas.

Ryn’Nel betrat rasch den Gang. Mak’Uryl befand sich unmittelbar hinter ihm, folgte ihm jedoch nicht, sondern drehte sich um. »Vro’kel«, hörte Ryn’Nel ihn leise sagen, »würde es Ihnen gefallen, Ihre Brüder zu rächen?«

»Das würde es.«

»Mir auch.«

»Nein!« Ryn’Nel streckte einen Flügel nach ihm aus, aber seine Klaue glitt von der feuchten Haut des Oktopus ab. Umgeben von seinen Haien glitt Mak’Uryl über die Pflastersteine, auf die Waffen zu, die auf der Straße lagen.

»Bringt alle um!«, schrie er. Seine Stimme kippte um. »Bringt alle um!«

»Lasst sie in Ruhe!« Ryn’Nel wollte hinter ihm herlaufen, aber MacCollough und Snyder drückten ihn gegen die Wand.

»Das ist zu gefährlich, Sir.«

Das war es, so viel sah Ryn’Nel durch die offene Tür. Nicht alle Menschen hatten ihre Waffen weggeworfen, aber zu viele, um die Haie in Deckung zu zwingen. Ein paar von ihnen wurden von Kugeln zu Boden geworfen, die meisten rannten jedoch auf die schmalen Türen zu, die zu den Schächten einer nie gebauten Selbstschussanlage führten. Ryn’Nel sah bestürzt, dass auch seine Leute sich ihnen angeschlossen hatten.

Wie hatte es Jho’tol noch ausgedrückt? Haie handeln nicht immer in ihrem eigenen Interesse oder etwas Ähnliches. Nun erreichten die ersten die Menschen, die in den Schächten hockten. Ryn’Nel hörte Schreie und die dumpfen Aufschläge von Körpern auf Pflastersteinen und Dreck.

Unter den Menschen brach Chaos aus. Vielleicht hätten sie noch eine Chance gehabt, wenn jemand da gewesen wäre, um sie zu organisieren, doch so versuchte jeder nur, sein eigenes Leben zu retten. Die Haie trieben sie vor sich her und machten sich einen Spaß daraus.

Aber dann sah Ryn’Nel Mak’Uryl. Er war blutüberströmt und seine Tentakel peitschten durch die Luft. Was sie fanden, rissen sie auseinander – Gestrüpp, Kleidung, Körper. Blut fiel wie Regen aus zerfetzten Gliedmaßen auf ihn herab. Auf die Menschen musste er wie ein Dämon aus einer ihrer uralten Mythologien wirken, eine apokalyptische Rachegestalt, die unter ihnen wütete, um sie für ihren Ungehorsam zu bestrafen. Ryn’Nel hatte so etwas noch nie gesehen. Selbst MacCollough und Snyder konnten den Blick nicht abwenden. MacCollough war blass.

Schreie, Schüsse, Rufe und Gelächter hallten durch den Park. Die Schüsse wurden seltener, die Schreie lauter und länger. Die Haie ließen sich Zeit. Ein abgeschlagener Kopf rollte über die Straße und blieb vor Reynolds’ Füßen liegen. Er war von Leichen umgeben, auch denen der beiden Menschen, die ihm hatten helfen wollen.

Ryn’Nel befreite sich aus dem Griff der beiden Menschen. »Es ist nicht mehr gefährlich. Bleiben Sie hier. Ich muss etwas erledigen.«

Snyder trat zur Seite. MacCollough zögerte, doch dann gab auch er den Weg frei. Ryn’Nel trat aus dem Gang auf die Straße. Blutgeruch hing in der Luft. Reynolds starrte auf den abgeschlagenen Kopf zu seinen Füßen.

«Ich kenne ihn«, sagte er, als Ryn’Nel neben ihm stehen blieb. Er sprach langsam und schleppend. »Sein Name war Frank.«

Ryn’Nel schwieg. Die Schüsse verstummten und er hörte nur noch Schreie.

Reynolds hob den Kopf. Seine Pupillen waren groß, die Haut blass und verschwitzt. Er stand unter Schock. »Was jetzt?«

»Nichts mehr«, sagte Ryn’Nel. Er legte seine Flügel um Reynolds und drückte zu. Es ging schnell, wie er gehofft hatte.