Kapitel Vier

Kipling war ungewöhnlich still, als sie an diesem Abend gemeinsam aßen. Ama’Ru verfolgte die Unterhaltung, die er mit Rin führte, auf ihrem Pad. In der Chatgruppe befand sich auch Auckland, aber er hatte sich noch nicht gemeldet, obwohl er als online angezeigt wurde. Ama’Ru wusste nur, dass Rin und Arnest ihn an einem Ort namens Sydney zurückgelassen hatten.

Die Andere kaute auf Palmblättern und Obstschalen, die Kipling vom Komposthaufen am Rand des Grundstücks gesammelt hatte. Ama’Ru hatte ihn schon einige Male gebeten, damit aufzuhören, um Gonzales nicht noch mehr gegen sich aufzubringen, aber er hörte nicht auf sie. »Was soll sie machen?«, hatte er auch an diesem Abend gesagt. »Ich habe uns das Internet gebracht. Für Brown bin ich unverzichtbar.«

Aber unter seiner Fröhlichkeit hatte Ama’Ru eine seltsame Anspannung gehört, die sie sich nicht erklären konnte.

Ihr Pad leuchtete kurz auf und sie wandte sich der neuen Nachricht zu, die im Chatraum angezeigt wurde.

Rin: ›Ist diese Gruppe abhörsicher?‹

Kiplings Finger tanzten durch die Luft. Seine Augen hinter den V-Specs bewegten sich nicht. Kipling: ›Nichts ist wirklich abhörsicher, aber hier unbemerkt einzudringen, sollte recht schwierig sein. Ich bin ja kein Noob. :) Warum willst du das wissen?‹

Er tippte so schnell, wie er redete. Rins Antwort folgte wesentlich langsamer. Ama’Ru sah, wie neben ihrem Namen Finger erschienen, die über eine Tastatur zu gleiten schienen.

Rin: ›Weil wir Lanzo gefunden haben.‹

»Was?« Kipling sah Ama’Ru über den Rand seiner V-Specs an. »Wieso sagt sie das erst jetzt?«

Sie neigte den Kopf, aber in ihr breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Die Andere ließ das Palmblatt, an dem sie gekaut hatte, sinken.

Kipling: ›Das ist doch geil! Wie geht’s ihm?‹

Rin und Arnest gaben ihre Antwort gleichzeitig ein.

Arnest: ›Beschisen gets ihm! Mann sollte diehse kack Jokeys alle umlehgen, jeden scheis dreksarsch, verschisene.‹

»Das klingt nicht gut.« Kipling setzte zu einer Antwort an, aber da war auch Rin fertig.

Rin: ›Ich zeige ihn euch. Ihr müsst einen Moment warten. Das Netz ist so langsam.‹

Kipling: ›Ich weiß. Ich arbeite daran.‹

Hinter Rins Namen tauchte ein sich langsam drehender Kreis auf. Darunter stand Bild wird geladen. Mit zunehmender Sorge fragte Ama’Ru sich, was sie erwartete.

Und dann war das Bild plötzlich da. Es füllte den kleinen Bildschirm fast vollständig aus. Ama’Ru starrte es an: Lanzo, abgemagert und zusammengesunken, der Jockey auf seinem Rücken stolz wie ein Jäger über der erlegten Beute.

Sie öffnete den Mund, brachte aber keinen Laut hervor. Ihre Kehle krampfte sich zusammen. Die Andere fiepte. Ihre Scheren öffneten und schlossen sich knackend.

»Ama’Ru?« Kiplings Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen und klang dumpf.

»Ama’Ru?«

Sie riss sich zusammen. »Das ist unmöglich.« Es war mehr als das. Die Vorstellung, dass zwei Hälften des selben Daseins auseinandergerissen und eine von ihnen mit etwas Fremdem verbunden war … und was war mit der anderen Hälfte passiert? War sie allein? Tot? Hatte man das Große Versprechen, die Hoffnung auf die Verschmelzung im Tod, gebrochen, nur um dieses … dieses Monstrum zu erschaffen?

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie zwang sie zur Ordnung, drängte Trauer und Entsetzen zurück.

»Das ist unmöglich«, wiederholte sie, ohne genau zu wissen, wie viel Zeit vergangen war, seit sie es zum ersten Mal gesagt hatte. Auf ihrem Pad waren zwei neue Nachrichten aufgetaucht.

Rin: ›Seid ihr noch da?‹

Kipling: ›Moment.‹

»Was ist hier los?«, fragte Kipling. »Alle Jockeys, inklusive dir, haben immer behauptet, sie könnten sich nicht mit Menschen verbinden. War das gelogen? Hast du davon gewusst?«

Es fiel ihr schwer, den Klang seiner Stimme einzuordnen. Zu viel schwang darin mit – Entsetzen, Angst, Misstrauen, Bedauern.

»Nein, ich habe nichts davon gewusst.« Ama’Ru wünschte, er würde seine V-Specs absetzen, damit sie seine Augen besser erkennen konnte. »Wir haben Jahrhunderte lang versucht, nach Unfällen oder bei tödlichen Erkrankungen wenigstens einen Teil des Körpers zu retten, mal den Jockey, mal seinen Begleiter. Niemand hat das je überlebt. Ich bleibe dabei: Es kann nicht sein.«

»Aber wir sehen es doch!« Kipling schrie sie an. Sie zuckte zusammen. Die Andere hob ihre Scheren.

»Wir sehen etwas, das uns vertraut erscheint«, sagte Ama’Ru eindringlich. »Das muss nicht die Wahrheit sein.«

Sie hob die Hand, um Kipling von einer Antwort abzuhalten. Erleichtert bemerkte sie, dass ihre Finger nicht zitterten. Sie musste Ruhe ausstrahlen, für sich selbst, für die Andere und für Kipling. »Bitte stelle Rin für mich einige Fragen. Du tippst schneller als ich.«

Er zögerte, nickte dann aber. Während sie redete, tauchten ihre Worte Satz für Satz auf dem Pad auf.

»Wie ist der Name des Jockeys? Wo stammt er her? Wie verhalten sich er und Lanzo?

Kommunizieren sie miteinander? Habt ihr zu beiden Kontakt? Mit was war der Jockey vorher verbunden? Er wird so tun, als würde er die Frage nicht verstehen, also fragt ihn, wie die Menschen sein Volk nennen. Wer hat ihn mit Lanzo verbunden, wie und warum?«

Schon nach den ersten Fragen bewegten sich die Finger neben Rins Namen.

Rin: ›Ein paar Fragen haben wir ihm schon gestellt, der Rest wird eine Weile dauern. Ich melde mich dann.‹

Kipling: ›Okay. Viel Glück!‹ Er nahm die V-Specs ab und rieb sich die Augen. »Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe, Ama’Ru. Das war–«

Er unterbrach sich, als hinter ihm die Tür des Labors geöffnet wurde. Ama’Ru bemerkte überrascht die Furcht, die wie ein Schatten über sein Gesicht glitt, als Brown eintrat.

»Ich dachte, es sei in diesem Kulturkreis üblich, zu klopfen, bevor man die Räumlichkeiten einer anderen Person betritt.«

Brown ging nicht darauf ein. »Zwei meiner Skorpione erwarten Sie auf dem Parkplatz. Sie werden Ihnen helfen, die fehlende Ausrüstung für Ihr Labor zu beschaffen.«

»Jetzt?«, fragte Ama’Ru.

»Jetzt.« Brown wandte sich bereits ab, sah dann jedoch Kipling an. »Gute Arbeit, Mr. Jonnessey. Wie weit sind Sie mit der Entschlüsselung der Jockey-Verteidigungsanlagen?«

»Kann ich noch nicht sagen. Ich muss erst mal verstehen, was mich dort eigentlich erwartet.« Kipling drehte die V-Specs zwischen seinen Händen. »Das kann dauern.«

»Aber nicht zu lange.« Brown nickte Ama’Ru zu. »Kommen Sie.«

Sie erhob sich. Die Andere wollte nach einer ausgehöhlten Ananas greifen, aber Ama’Ru hielt sie mit einem beinahe unbewussten Gedanken davon ab.

Wir müssen uns konzentrieren, dachte sie und folgte Brown zu den Fahrstühlen. Ihr Pad piepte leise. Sie stellte es stumm.