Kapitel Drei

»Er müsste bald hier sein.« Doug MacCollough ging auf und ab. Er war ein großer, kräftiger Mann mit muskulösen Armen und Gesichtszügen, die wirkten wie aus hellem Stein gemeißelt. Ryn’Nel op Yrlem war sich sicher, dass er genetisch modifiziert war, auch wenn er ihm diese Frage nie gestellt hatte. Sie erschien ihm unangebracht intim.

Er saß auf einer Kunststoffbank an einem Kunststofftisch und betrachtete die Lichtreflexionen in der Oberfläche des künstlichen Teichs. Vor ihm stand eine Getränkedose, deren asiatisch aussehende Aufschrift er nicht lesen konnte. Der Inhalt schmeckte nach Gurke.

»Es war ein Fehler, ohne Befehl zu handeln«, sagte Franklin J. Snyder, der zweite Mensch, der Ryn’Nel an den Teich begleitet hatte. Wie MacCollough war er von Brown nach Scania geschickt worden, als eine Geste des guten Willens. Mit den Daten, die diese beiden Männer mitgebracht hatten, war Ryn’Nel endlich in der Lage gewesen, den Durchbruch zu erzielen.

Nicht, dass das im Moment eine große Rolle spielen würde, dachte er.

»Wir mussten etwas tun«, sagte MacCollough. »Und wen sonst hätten wir holen sollen?«

Snyder stieg über eine leere Bank auf einen Tisch und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen hin. Er war kleiner, schlanker und drahtiger als MacCollough, aber, wie Ryn’Nel glaubte, ebenso genetisch modifiziert. Sein Verstand war ungewöhnlich scharf und analytisch, aber auch zerbrechlich – wie die eingetrockneten Blutspuren auf der gelb gepflasterten Straße, die zu dem kleinen Park führte, bewiesen. Er war der gefährlichere der beiden und unberechenbar.

»Niemanden.« Snyder kratzte an dem Schorf auf seinen Fingerknöcheln. »Wir hätten warten sollen.«

MacCollough breitete die Arme aus. »Worauf? Brown ist offline, wir haben keine Ahnung, ob er überhaupt noch lebt. Die Erde ist nicht gerade Disneyland. Da kann alles Mögliche passieren. Und –«

»Er hat drei Skorpione bei sich«, unterbrach ihn Snyder. »Ihm wird nichts passieren.«

»Aber uns schon, wenn er herausfindet, dass wir Jho’tol verloren haben. Deshalb müssen wir handeln. Wir brauchen ein Schiff, jemanden, der sich nicht fragt, weshalb zwei Menschen mit all diesen Jockeys unterwegs sind …« Seine Geste schloss Ryn’Nel und die fünf Haie ein, die einen Kreis um den kleinen Park bildeten. »… und ein bisschen Zeit, um Brown zu beweisen, dass wir das Problem selbst lösen können.«

Ryn’Nel stand auf und breitete seine ledrigen Schwingen aus. Die Erde unter seinen nackten Klauen fühlte sich angenehm kühl und weich an. Das Habitat, das sie nach der Zerstörung ihres Schiffs zu ihrer vorübergehenden Unterkunft erklärt hatten, wirkte verlassen. Algernon Reynolds, der Anführer der Menschen, denen Ryn’Nel erlaubte, hier zu leben, hatte seine Leute aufgefordert, in ihren Kabinen zu bleiben. Bisher hielten sie sich daran, wohl nicht zuletzt wegen der Frau, die Snyder mit bloßen Händen erschlagen hatte.

»Damit sie wissen, welche Konsequenzen es hat, unseren Befehlen nicht zu gehorchen«, hatte er gesagt, während er sich im Teich das Blut von den Händen wusch. Ryn’Nel hatte das für unnötig gehalten. Reynolds war entsetzt darüber gewesen, dass ein halbes Dutzend Jockeys sein Habitat gestürmt hatten. Er hätte sich ihnen nicht widersetzt.

Er ist ein guter Mann, dachte Ryn’Nel, auch wenn er nicht weiß, was er damit anrichtet, dass er in unserem Namen für die Habitate wirbt. Diese Werbebotschaften waren Teil einer inoffiziellen Abmachung zwischen Reynolds und den Völkern.

»Wo gehen Sie hin?«, fragte MacCollough.

»Nirgendwo, nur ein wenig spazieren.« Er sah zur Decke hinauf. »Vielleicht ein bisschen fliegen. Der Raum sollte hoch genug sein.«

»Ein Scharfschütze und Sie sind tot«, sagte Snyder.

Ryn’Nel lächelte. »Reynolds hat keine Scharfschützen, nur Buchhalter, Webdesigner und Sachbearbeiter. Wenn Sie Ihren nicht mitgebracht haben, muss ich mir keine Sorgen machen.«

Beide wussten sofort, worauf er anspielte. Der Mann, der sich John Auckland nannte und ebenso wie MacCollough und Snyder für Brown gearbeitet hatte, war für den Tod von mindestens acht Jockeys verantwortlich. Brown hatte ihm befohlen, jeden umzubringen, der an der Entwicklung des Omega-Virus beteiligt gewesen war. Auckland hatte die »Mission« erst abgebrochen, als er erfuhr, dass Ama’Ru und Ryn’Nel an einer Heilung des Virus arbeiteten. Dass Brown währenddessen anscheinend bereits die Seiten gewechselt hatte, machte Ryn’Nel ein wenig nervös. Sein Name hatte schließlich auch auf der Liste gestanden. Doch er war auf Brown angewiesen. Niemand sonst hatte Zugang zu den Forschungsergebnissen von Better Life Solutions – und deren Wissen über Genetik war unerreicht.

Für Brown sind wir nur Mittel zum Zweck, dachte Ryn’Nel, während er an Parkbänken und Schlingpflanzen vorbei die gelbe Straße entlangging. Die Frage ist nur, zu welchem Zweck?

»Sie sind Ryn’Nel op Yrlem, richtig, Sir?«, fragte eine leise Stimme.

Ryn’Nel blieb stehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass Algernon Reynolds im Schatten einer Palme stand. Vom Park aus war er nicht zu sehen. Ryn’Nel wandte sich ihm nicht zu, als er antwortete: »Richtig. Und Sie sind Algernon Reynolds, der Leiter dieses Habitats.« Reynolds schien die Bezeichnung nicht zu gefallen, denn er setzte zu einer Entgegnung an, aber Ryn’Nel redete weiter: »Sie machen sich Sorgen, was als Nächstes hier geschehen wird.«

Er duzte Reynolds nicht. Im Gegensatz zu den meisten seines Volks begegnete er den Menschen mit Respekt. Er hatte eine Schwäche für ihre Kultur, ihre Unterhaltungselektronik und vor allem für die vielen Hundert Softdrinks, die sie einst produziert hatten. Er sammelte ungeöffnete Dosen und Flaschen, wann immer er die Gelegenheit dazu bekam.

»Ja, Sir«, sagte Reynolds. Er trug einen gut sitzenden Anzug, der farblich auf seine kurzen weißen Haare abgestimmt war, und sah aus, als wolle er vor eine Kamera treten. Ryn’Nel hatte einige seiner Reportagen auf YouTube gesehen, um sich ein Bild von dem Mann zu machen. Er war positiv überrascht worden.

»Ursulas Tod und Ihr Eintreffen hat alle sehr verstört«, fuhr Reynolds fort.

»Ich verstehe. Sagen Sie ihnen, dass sie keine Angst haben müssen. Wir werden Sie bald in Ruhe lassen.«

»Ja, Sir. Danke, Sir. Ich…« Reynolds schien nicht zu wissen, wie er fortfahren sollte – ungewöhnlich für einen Mann, der sein Leben mit Reden verbracht hatte.

»Sie können offen sprechen«, sagte Ryn’Nel. Zwei Haie sahen zu ihm herüber. Er breitete die Schwingen aus und tat so, als teste er ihre Spannweite vor dem Flug. »Ihnen wird nichts geschehen.«

Reynolds betrachtete ihn einen Moment lang und Ryn’Nel bemerkte die Verwandlung, die in ihm vorging. Die Unterwürfigkeit verschwand, sein Blick wurde wach und forschend. Das war der Mann, den Ryn’Nel aus den Reportagen kannte.

»Warum lassen Sie uns in Ruhe?«, fragte Reynolds.

Ryn’Nel lächelte, wie er es vor dem Spiegel geübt hatte. »Weil es mir gefällt, das zu tun.«

»Und mir gefällt, dass es so ist. Diese Menschen sind wie eine Familie für mich, ich würde alles für sie tun.« Reynolds wandte den Blick nicht von ihm ab. »Aber ich glaube, dass Sie mir nicht die ganze Wahrheit sagen. Sehen Sie, ich dachte, diese Station wäre ein Spielplatz für jugendliche Haie. Sie jagen Menschen durch ihre Geisterbahn und damit es nicht langweilig wird, lassen sie ab und zu ein paar entkommen. Die landen dann bei mir. Doch Ihre Anwesenheit und die der beiden Männer da hinten passt nicht ins Bild. Sie sind nicht hier, um uns zu jagen, Sir.«

»Nein«, sagte Ryn’Nel. Reynolds’ Augenwinkel zuckten. »Was ich hier getan habe und noch zu tun gedenke, wird für unsere beiden Spezies von großem Vorteil sein. Sie sind ein Teil davon.«

»Haben Sie eine Möglichkeit gefunden, den Virus zu heilen, Sir?«

Die Frage kam schnell, so als habe Reynolds sie sich längst zurechtgelegt. Ryn’Nel wusste nicht, was sein Gesicht verriet, er sah nur Reynolds’ kurzes, kaum wahrnehmbares Lächeln.

»Wenn Ihnen das gelingt, Sir, werden Sie–«

Das gleichzeitige Piepen zweier Pads unterbrach ihn. Ryn’Nel drehte den Kopf und sah, wie Snyder und MacCollough in die Seitentaschen ihrer Hosen griffen. Eine Sekunde später rief MacCollough: »Ryn’Nel, Brown ist online.«

Ryn’Nel hob die Hand zum Zeichen, dass er ihn verstanden hatte. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, Mr. Reynolds.«

»Natürlich, Sir.« Die Unterwürfigkeit kroch zurück in Reynolds’ Stimme. Er trat einen Schritt zurück und wurde eins mit den Schatten. Ryn’Nel schwang sich empor und brachte die Entfernung zum Park mit nur wenigen Flügelschlägen hinter sich. Er wirbelte Dreck und Hydrokultur auf, als er neben MacCollough landete. Snyder saß immer noch auf dem Tisch, aber er hatte das Gesicht in den Händen vergraben und schüttelte den Kopf. Er murmelte leise vor sich.

MacCollough schob sein Pad über den Kunststofftisch. »Lesen Sie selbst.«

MacCollough: ›Testsubjekt von zwei Besatzungsmitgliedern der Eliot entführt. Erbitten neue Befehle.‹

Brown: ›Verstanden. Befehle folgen in Kürze. Bis dahin Code 72.‹

»Code 72?«, fragte Ryn’Nel.

MacCollough nahm das Pad wieder an sich. »Vor Ort bleiben, tot stellen. Komplette Funkstille.«

»Ich bin sicher, dass Brown damit nicht Mak’Uryl gemeint hat«, sagte Ryn’Nel.

»Und ich bin sicher, dass er gerade ihn gemeint hat.« Snyders Worte wurden durch seine Hände gedämpft. Dann flüsterte er etwas Unverständliches und nickte.

Ryn’Nel wollte nachhaken, doch in diesem Moment piepte auch sein Pad. Er zog es aus der Satteltasche und rollte es auseinander. »Er ist hier. Mak’Uryl hat soeben angedockt.«

MacCollough verzog das Gesicht. »Scheiße.«