Kapitel Zwei

»Sprung in Normalraum erfolgt. Selbstdiagnose abgeschlossen. Alle Systeme arbeiten einwandfrei.«

Die Computerstimme benutzte Englisch, die einzige Sprache, die alle auf der Brücke verstanden. Sie zu hören, machte Mak’Uryl wütend. Das war jedoch nichts Besonderes, es gab in letzter Zeit nur wenig, was ihn nicht wütend machte.

Er ging langsam auf und ab. Der weiche Boden federte unter seinen Tentakeln. Es war warm und feucht auf seiner kleinen Privatjacht. Nur wenige wussten von dem Schiff und genau aus diesem Grund hatte er es gewählt. Außer ihm waren noch vier andere an Bord, alles Haie, die in kleinen Alkoven standen und ihre Konsolen bedienten. Sie bildeten einen Kreis um den kugelförmigen holographischen Bildschirm, der vor ihnen in der Mitte der Brücke schwebte. Alle arbeiteten ruhig und konzentriert. Viele Haie hatten sich Mak’Uryl untergeordnet und standen loyal zu ihm. Dafür verachtete und schätzte er sie gleichermaßen.

Haie. Mak’Uryl verzog das Gesicht. Er hatte auf NG27 so lange unter Menschen gelebt, dass er angefangen hatte, ihre Begriffe für die Völker zu übernehmen. Auch das machte ihn wütend. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und genoss das Gefühl, mit dem seine Haut die Feuchtigkeit aufsog. Die Brücke war hell erleuchtet, ihr Licht warm. Es roch nach Salz und der Weite des Ozeans.

»Sind Patrouillen am Sprungtor unterwegs, Vro’kel?«

Der Navigator hob den Kopf. »Nicht in Sensorreichweite, Mak’Uryl.«

Wie erwartet, dachte er. Die Deportation der Menschen auf verlassene Raumstationen und Bergwerkskolonien verlief schleppend. Als Mak’Uryl sie vorgeschlagen hatte – befehlen konnte er den Völkern nichts –, war sie von den meisten begrüßt worden. Die Clans hatten Schiffe und Besatzungen bereitgestellt, worauf in den ersten Tagen der Deportation mehr als zehn Prozent der geschätzten Menschenpopulation aufgegriffen und an ihre Bestimmungsorte gebracht worden waren. Doch dann schienen sie das Interesse verloren zu haben, wie so oft. Viele Besatzungen waren nach Hause geflogen oder hatten sich andere Aufgaben gesucht, ohne jemanden darüber zu informieren. Eine Pilotin hatte auf Mak’Uryls erboste Frage geantwortet, es habe ihr »nicht mehr gefallen«, ihre Zeit mit dem Zusammentreiben der Menschen zu verbringen. Er konnte nichts dagegen unternehmen. Was den Völkern gefiel, taten sie, was nicht, blieb unvollendet.

Allerdings befürchtete er, dass nicht mangelndes Interesse für die halbherzige Ausführung dieser bestimmten Aufgabe verantwortlich war. Der wahre Grund hatte mit ihm selbst zu tun.

Er bemerkte einen blinkenden Punkt auf dem Bildschirm, unmittelbar vor dem gewaltigen runden Sprungtor. »Ist das ein Schiff?«, fragte er.

»Einen Moment.« Vro’kels Finger bewegten sich über die Tastatur. Die Buchstaben waren lateinisch, die Zahlen arabisch, an den Rändern der Displays stand der Markenname 4R. Den Völkern war es zwar gelungen, Wunderwerke der Mathematik und Ingenieurskunst zu erbauen – Sprungtore, Raumstationen und Schiffe –, aber ihre Computer waren so groß wie Städte und niemand hatte je daran gedacht, sie zum persönlichen Vergnügen einzusetzen. Wenn es um Software und Hardware ging, waren die Menschen ihnen weit überlegen.

Er wurde ungeduldig. »Und?«

»Entschuldigen Sie, Mak’Uryl.« Vro’kel legte den Kopf schräg und bot ihm seine Halsschlagader dar, die traditionelle Art seines Volks, Schuld einzugestehen und um Vergebung zu bitten. Die anderen drei Haie warfen ihm verstohlene Blicke zu. Theoretisch gab es keine Ränge auf diesem Schiff, aber alle wussten, wer das Kommando hatte.

»Das Schiff muss den Hyperraum direkt nach uns verlassen haben«, fuhr Vro’kel fort »Es hat seine Signatur verschleiert, allerdings nicht besonders gut. Es gibt sich als eines unserer Kurierschiffe aus, aber die Registrierungsnummer passt nicht. Ich glaube, dass Menschen an Bord sind, Mak’Uryl.«

»Lon’feh, kontaktieren Sie das Schiff. Ich will Bild und Ton.« Er wusste, dass eine Software im Umlauf war, die dem Betrachter vorgaukelte, statt eines Menschen einen aus dem eigenen Volk zu sehen. Sie war noch nicht ausgereift, weshalb viele Menschen versuchten, eine Bildübertragung zu verhindern.

Lon’feh berührte einige Icons auf seinem Display. Die rechteckige, metallisch glänzende Menschenhardware fügte sich nur schlecht in die geschwungenen, braungrünen Rundungen der Brücke ein. Mak’Uryl sehnte sich nach dem Tag, an dem er ganz auf sie verzichten konnte, aber bisher hatte es anscheinend noch niemandem aus den Völkern »gefallen«, sich ernsthaft mit der Entwicklung eigener Systeme zu befassen.

Eine kleinere Kugel löste sich aus dem Holobildschirm wie ein Wassertropfen und schwebte zur Seite, bis sie auf Armeslänge an sein Gesicht herangekommen war. Ein kleiner, roter Punkt verriet ihm, wo sich die Kamera befand. Er sah hinein.

»Verbindung steht«, sagte Lon’feh. In der Kugel flackerte es, dann sah Mak’Uryl rechte Winkel, graue Wände und hartes, künstliches Licht. Er hatte recht gehabt. Es war ein Menschenschiff.

»Wir wollen keinen Ärger, Sir«, sagte der Mann, der Mak’Uryl gegenüber in einem zerschlissenen Pilotensitz saß. Er war dünn, blass und trug einen dicken Pullover und Handschuhe. Anscheinend hatte er die Temperatur im Schiff reduziert, um Energie zu sparen. Hinter ihm sah Mak’Uryl zwei in Winterjacken gehüllte Frauen und zwei Männer, die sich Decken um den Körper gewickelt hatten. An den Wänden lagen Schlafsäcke, aufgerissene Packungen bedeckten den Boden.

»Ihr haust in diesem einen Raum?«, fragte Mak’Uryl, ohne auf den Mann einzugehen.

»Ja, Sir. Wir müssen Energie sparen. Es ist schwer geworden, Treibstoff zu finden.«

»Warum lasst ihr euch nicht in ein Habitat bringen? Ihr hättet es dort besser.« Mak’Uryl versuchte, sich seinen Ekel nicht anmerken zu lassen. Eine der beiden Frauen musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen.

Der Mann beugte sich vor. »Es kursieren zu viele Geschichten über diese Habitate, Sir, üble Geschichten«, sagte er. »Wir wollen lieber erst mal abwarten. Und bis dahin …« Er wischte mit den Händen über die dünne Decke, die auf seinen Beinen lag. »… könnten wir ein bisschen Hilfe gebrauchen, Sir. Treibstoff, Wasser, Pak, was immer Sie entbehren können. Wir bezahlen auch dafür.«

Nun wurde Mak’Uryl doch neugierig. »Wie?«

»So wie immer, Sir.« Beide Männer lächelten, auch eine der Frauen. Alle hatten braune Zähne. »Wir sind so was wie Experten, wenn es um Unterhaltung geht. Oktopoden wie Sie, Warane, Haie, Wölfe … jeder geht bei uns zufrieden nach Hause.«

Mak’Uryl ballte die Fäuste hinter dem Rücken und schluckte seinen Ekel herunter. Seine Tentakel zuckten. Er hatte natürlich geahnt, dass solche Dinge vorkamen, aber noch nie hatte es jemand gewagt, ihm ein solch widernatürliches Angebot zu machen. Ohne zu zögern, traf er seine Entscheidung. »Wir werden euch helfen. Dockt an.«

Die Haie auf seiner Brücke sahen einander überrascht an. Das Lächeln des Mannes wurde breiter. »Mit dem größten Vergnügen, Sir. Sie werden es nicht bereu–«

Mak’Uryl unterbrach die Verbindung, bevor er ausgeredet hatte.

Einen Moment lang herrschte Stille, dann sagte Vro’kel: »Ich möchte mich nicht einmischen, aber die sehen nicht gerade sauber aus.«

Einer von Mak’Uryls Tentakeln schlug hart und unkontrolliert gegen die Wand. Es klatschte, als sei er in Wasser gefallen. Die Wand vibrierte. Mak’Uryl riss sich mit aller Kraft zusammen, bis der Tentakel zu Boden sackte und ruhig liegenblieb. »Ich werde tun, was mir gefällt.«

»Wie wir alle, Mak’Uryl«, sagte Vro’kel rasch, bevor er den Blick senkte und so tat, als wäre er beschäftigt. Die anderen Haie schwiegen. Mak’Uryl hatte mit allen auf NG27 gearbeitet. Sie waren ihm dankbar für die Niederschlagung des Aufstands und die kompromisslose Zerstörung der Station. Doch selbst sie nannten ihn nicht bei dem zweiten Namen, den er danach gewählt hatte. Nicht mehr, dachte er.

Schweigend wartete er, bis der Schiffscomputer meldete, dass das fremde Schiff angedockt hatte. »Ich werde allein gehen«, sagte er und verließ die Brücke. Niemand antwortete ihm.

Der Gang schlängelte sich durch seine Privatjacht. Rechts und links lagen Kabinen, die man durch Türen erreichte, die in den Wänden verborgen waren. Nur Lichtreflexe auf dem feucht glänzenden, felsähnlichen Material verrieten, wo sie sich befanden. Vor der Luftschleuse am Ende des Gangs blieb Mak’Uryl stehen. Er konnte den Mann im grauen Pullover auf der anderen Seite der transparenten Tür sehen. Er winkte Mak’Uryl zu und lächelte.

Der Druckausgleich war bereits erfolgt. Mak’Uryl betrat das fremde Schiff. Seine Tentakel glitten über hartes Metall. Es war so kalt, dass sein Atem kondensierte.

Der Mann trat einen Schritt zurück. »Willkommen, Sir, und schon mal vielen Dank für Ihre Hilfe. Mein Name ist Pierre.«

»Wo sind die anderen?«

»Auf der Brücke, Sir.« Pierre zeigte den Gang hinunter. »Bitte folgen Sie mir. Wir haben die Heizung höher geschaltet, damit Sie sich wohl fühlen. Ich weiß, dass Oktopoden wie Sie es gern warm haben.« Er zwinkerte Mak’Uryl zu. »Wir werden dafür sorgen, dass Ihnen richtig heiß wird.«

Tentakel zuckten über den Boden. Pierres Blick flackerte nervös. »Und gegen Ihre schlechte Laune haben wir auch genau das Richtige.«

Er schien Oktopoden gut zu kennen, sonst hätte er deren Körpersprache nicht so schnell und korrekt lesen können. Mak’Uryl spürte einen scharfen Schmerz in den Händen und bemerkte überrascht, wie fest er sie geballt hatte. Seine Knöchel traten weiß hervor.

Das Schiff war klein, kaum mehr als ein Shuttle. Pierre brauchte nur ein Dutzend Schritte, um zur Brücke zu gelangen. Er legte die Hand auf ein verschmiertes Touchpad und öffnete damit die Tür. Warme Luft schlug Mak’Uryl entgegen. Es stank nach Schweiß und Urin. Sein Magen krampfte sich zusammen. Abschaum, dachte er. Schmutziger, widerwärtiger Abschaum.

Hinter Pierre betrat er die Brücke. Die Menschen hatten zumindest versucht, ein wenig aufzuräumen. Ihre Abfälle hatten sie in einer Ecke zusammengekehrt und die Schlafsäcke in der Mitte der Brücke, zwischen dem Pilotensitz und zwei schmalen Konsolen, ausgebreitet. Sie hatten ihre Winterkleidung abgelegt. Eine der Frauen, die, die gelächelt hatte, trug Lippenstift auf. Die andere strich zusammen mit dem Mann die Schlafsäcke glatt und richtete sich auf.

»Ich weiß, dass es hier nicht gerade gemütlich ist, Sir, aber das werden Sie bestimmt schnell–« Sie brach ab. Ihre Augen weiteten sich. »Mein Gott … das ist Mak’Uryl!«

Die anderen wichen gleichzeitig mit ihr zurück. Pierre prallte gegen den Sitz der Navigationskonsole. »Bist du sicher, Cassie?«

Mak’Uryl steckte die Hand in eine der Satteltaschen und schloss sie um den Griff seiner Pistole.

Cassie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja, ich bin sicher. Ich habe Bilder von ihm im Netz gesehen. Ihm fehlt ein Tentakel. Die Leute haben Witze darüber gemacht.«

»Meinst du diesen Tentakel?« Mak’Uryl hielt den Stumpf hoch, die ständige Erinnerung an den Moment seines Niedergangs. Ama’Ru hatte ihn mit ihren scharfen Scheren abgetrennt – ausgerechnet sie, die Hhalim, die Verrückte, die Schwache. Bei einem Kampf gegen jeden anderen hätte er den Tentakel verlieren dürfen, aber nicht gegen sie. Und dass er nach all der Zeit noch nicht nachgewachsen war, machte alles nur schlimmer. Man hatte aufgehört, ihn mit seinem zweiten Namen anzusprechen, und nicht nur im Netz wurden Witze über ihn gerissen.

Seitdem toste Wut wie ein Sturm durch seinen Körper, nur eingedämmt von seinem Willen. Doch kein Damm konnte ewig halten.

Pierre räusperte sich. »Mich stört nicht, wer Sie sind, Sir. Sie werden schon gewusst haben, weshalb Sie NG27 zerstören. Richtig?«

Zwei der anderen Menschen nickten, nur die Frau, die ihn erkannt hatte, nicht. »Sie sind nicht hier, um sich zu vergnügen, oder?«, sagte sie.

»Oh doch, das bin ich.« Mak’Uryl schloss die Augen. Der Damm brach.

Als er die Augen wieder öffnete, schmeckte er Blut, roch Blut und sah Blut. Wände und Boden waren voll davon, in den wasserdichten Schlafsäcken standen rotschimmernde Pfützen. Anscheinend hatte er der Frau, Cassie, den Kopf abgerissen und Pierre die Arme. Er sah die Körperteile auf dem zusammengekehrten Müllhaufen in einer Ecke der Brücke liegen. Dem anderen Mann hatte er das Genick gebrochen, die zweite Frau aufgeschlitzt. Ihre Füße zuckten noch … nein, korrigierte er sich. Sie stand kurz vor ihrer Verwandlung.

Mak’Uryl atmete tief durch. In ihm herrschte Ruhe, wie auf dem Meer am Tag nach einem schweren Sturm. Er wusste nicht, wann er sich das letzte Mal so gut gefühlt hatte.

Die Frau stöhnte und setzte sich auf. Hinter ihm drehte sich der armlose Pierre auf den Rücken. Mak’Uryl zog seine Pistole und schoss beiden in den Kopf. Dann ging er zu einer der Konsolen, wischte das Blut mit seinem Ärmel ab und schaltete die Lebenserhaltungssysteme in allen Räumen auf Maximum. Eine Anzeige warnte ihn, dass dies die Schiffsenergie innerhalb von vierzehn Stunden aufbrauchen würde.

Gut, dachte Mak’Uryl, während er zur Luftschleuse ging. Ein dunkles, kaltes Schiff in einem dunklen, kalten All. Kein Sensor würde es entdecken, niemand würde je erfahren, was hier geschehen war.

Er betrat seine Jacht und wusch sich im Süßwassertümpel seiner Kabine das Blut vom Körper. Die Reinigungsbakterien im Wasser lösten es vor seinen Augen auf. Beinahe bedauernd sah er zu, wie die roten Schlieren nach und nach verschwanden.

Wie lange wird es wohl dauern, bis die Wut zurückkehrt?, dachte er, als er sich auf den Steinen neben dem Tümpel ausbreitete und seinen Körper vom warmen Licht trocknen ließ. Eine Stunde, einen Tag, einen Monat? Er wusste es nicht, aber diese Frage bereitete ihm keine Sorgen. Er wusste jetzt, was zu tun war, wenn sie übermächtig wurde. Und Menschen gab es mehr als genug im All.

Nach einer Weile stand Mak’Uryl auf, zog sich an und ging zurück auf die Brücke. Vro’kel und die anderen sahen auf, als er eintrat.

»Sie werden nie wieder jemanden belästigen«, sagte Mak’Uryl. Die Haie nickten, beeindruckt, wie er glaubte.

»Abdocken und Sprung vorbereiten.«

Vro’kel gab einige Berechnungen ein. »Sprung eingeleitet, Mak’Uryl. Wir werden Scania in drei Stunden erreichen.«

»Gut. Wir haben schon genug Zeit verschwendet.« Er trat in die Mitte der Brücke und sah zu, wie das kleine Menschenschiff langsam in der Dunkelheit verschwand.