Kapitel Eins

Sie nannten ihn Joe. Jho’tol ne Thrigne hasste den Namen, aber er ließ sie gewähren. Den primitiven Schläger schien es zu amüsieren, ihn mit »Joe« anzusprechen, und Jho’tol hatte längst erkannt, dass sein eigenes Wohlbefinden unmittelbar von Arnests Laune abhing.

Er trat an die Gitterstäbe seiner Zelle und blickte in den Gang. Die Menschen hatten ihn hierhergebracht, um ungestört reden zu können. Er vermutete, dass sich die Unterhaltung hauptsächlich um ihn drehen würde.

Und um die Frage, wie sie den, den sie an mich verloren haben, retten können. Jho’tol legte seine großen Hände um die Metallstäbe. Er kannte die Fähigkeiten seines Körpers noch nicht und auch nicht dessen Grenzen. Zu kurz erst waren sie vereint. Doch er spürte, wie der Hunger ihn schwächte, wie die Klarheit seiner Gedanken darunter litt und er sich kaum noch auf etwas anderes als die schmerzende Leere in seinem Magen konzentrieren konnte.

Warum esse ich nicht? Die Antwort auf diese Frage verschloss sich ihm. Er erwog den Gedanken, dass die Menschen ihm absichtlich Nahrung angeboten hatten, die unverdaulich war. Vielleicht wollten sie ihn verhungern lassen, in der Hoffnung, dass der alte Teil seines Körpers zuerst sterben und den neuen freigeben würde. Sie wissen nichts über uns.

Die Tür zum Zellentrakt öffnete sich. Jho’tol hörte Schritte und einen Moment später tauchte die menschliche Frau – Rin? Es war so schwer, sich Menschennamen zu merken – auf. Sie hielt ein abgedecktes Tablett in den Händen. Als er den Essensgeruch wahrnahm, sog er tief die Luft ein. Speichel sammelte sich in seinem Mund und er musste mehrfach schlucken, um nicht zu sabbern. Noch nie in seinem Leben war er so hungrig gewesen.

»Geh zum Bett und setz dich hin«, sagte Rin.

Jho’tol blieb stehen. »Warum?« Er konnte den Blick kaum von dem Tablett abwenden, das Rin nun auf einer Hand balancierte, während sie die zweite auf das Touchpad neben der Tür legte.

»Willst du essen oder nicht?«

Er zögerte, doch dann drehte er sich um, setzte sich steif aufs Bett und legte die Hände auf die Oberschenkel. Es erstaunte ihn immer noch, wie warm sein Körper war – und wie behaart. Die kleinen Haare auf seinen Handrücken und Unterarmen kitzelten, wenn die Brise der Klimaanlage sie streifte. Er hatte noch nie Haare gehabt und war sich nicht sicher, ob ihm die Veränderung gefiel.

Rin öffnete die Zellentür, stellte das Tablett auf den Boden und schloss sie von außen wieder. Die ganze Zeit über ließ sie Jho’tol nicht aus den Augen.

»Hast du Angst vor mir?« Er lächelte nicht. Lächeln war eine menschliche Geste, keine seines Volks. Sieger übernahmen nicht die Kultur der Verlierer. Gelegentlich ertappte er sich dabei, wie er seine eigene Regel brach, doch im Allgemeinen hielt er sich daran.

Rin hob die Schultern. »Ich weiß, zu was Lanzo in der Lage ist, du vielleicht nicht. Du sitzt noch nicht lange auf ihm, oder?«

Jho’tol antwortete nicht. Er stand auf, um Rins Erlaubnis zuvorzukommen, und nahm das Tablett. Es war schwer. Der Geruch, der davon aufstieg, raubte ihm fast den Verstand.

Er setzte sich aufs Bett und entfernte die Abdeckung mit zitternden Fingern. Darunter sah er einen Teller, auf dem ein großes, dunkel gebratenes Stück Fleisch lag, irgendwelche gelbbräunlichen Scheiben und grüne Pflanzenstängel.

Am liebsten hätte er sich alles mit bloßen Händen in den Mund gestopft, aber er riss sich zusammen. »Was ist das?«

»Wahrscheinlich eines der letzten Rindersteaks im Universum, aus Bob Swansons persönlicher Tiefkühltruhe, Bratkartoffeln mit Zwiebeln und grüne Bohnen, beides aus den Gärten der Moon. Iss, bevor alles kalt wird.«

»Das ist Nahrung für Menschen?«

»Wenn wir sie kriegen können.«

Jho’tol wollte nach Messer und Gabel greifen. Seine Hände bewegten sich nicht. Er versuchte es noch einmal und sah, wie sich seine Finger in die Oberschenkel krallten, bis es schmerzte. Der Anblick war unheimlich und fremd. Auf einmal fühlte er sich in seinem Körper gefangen.

»Du musst etwas essen, Lanzo«, sagte Rin. »Du kannst ihn nicht töten, ohne selbst zu sterben.«

»Du redest mit etwas, das nicht mehr existiert.« Mit einer gewaltigen Anstrengung öffnete Jho’tol seine Finger. Einen Zentimeter hob er seine Hände, dann zwei. Er sah die Schweißabdrücke, die sie auf seiner grauen Hose hinterlassen hatten. Ich kämpfe gegen mich selbst.

»Wie kannst du das behaupten?«, fragte Rin. Sie klang eher verwirrt als verärgert. »Du siehst doch, dass er sich gegen dich wehrt.«

»Ich sehe einen Körper, der noch nicht fest mit seinem Geist verbunden ist. Wie du diese Tatsache interpretierst, hat nichts mit der Realität zu tun.«

Jho’tol glaubte selbst nicht so ganz an seine Worte. Er hatte viele Neugeborene vervollständigt, wie man bei seinem Volk sagte, doch eine solche Verweigerung hatte er noch nie erlebt. Seine Hände fielen auf die Oberschenkel zurück. Er hätte vor Frustration beinahe geschrien.

»Lanzo«, sagte Rin. »Bitte hör auf mich. Dein Bruder und ich tun, was wir können. Wir werden Ama’Ru finden und sie wird dir helfen. Bis dahin musst du überleben, egal, wie schwer es dir fällt. Du musst essen.«

»Du machst dich lächerlich.« Jho’tol zwang sich, den Blick vom Teller zu nehmen und Rin anzusehen. »Redest du auch so mit deinem Fuß? In diesem Körper ist kein anderes Bewusstsein außer meinem. Also stell diese Unhöflichkeit ein und rede mit mir, so wie man es dir beigebracht–«

Er war satt. Auf seiner Zunge lag ein angenehm scharfer, feuriger Geschmack. Er stand vor dem Waschbecken auf der anderen Seite der Zelle und trank mit seiner behaarten Hand Wasser aus einem Plastikbecher.

»Wir reden später weiter«, sagte Rin. Sie schien sich nicht bewegt zu haben, doch nun hielt sie ein Tablett mit einem leeren Teller in der Hand. Sie lächelte. »Wir werden das gemeinsam durchstehen, das verspreche ich dir.«

Ihr Blick streifte Jho’tol kurz, dann drehte sie sich um und verließ den Zellentrakt. Er hörte, wie sich die Tür hinter ihr schloss.

Es ist also wieder geschehen, dachte er. Es war das mindestens dritte Mal, dass er die Kontrolle über seinen Körper verloren hatte. Für ihn war keine Zeit vergangen, in der Realität jedoch fehlte ihm die Erinnerung an die letzten zwanzig Minuten, vielleicht auch mehr.

Er stellte den Plastikbecher ab. Seine Hand zitterte und er war müde. Jho’tol setzte sich auf das Bett, seine Hände ruhten auf den Oberschenkeln. Er durfte sich vor dem Offensichtlichen nicht länger verschließen. Er war nicht allein in seinem Körper. Etwas lauerte dort, in Tiefen, die ihm verschlossen blieben. Und es kämpfte mit aller Macht gegen ihn an.

»Ich bin Jho’tol ne Thrigne«, flüsterte er. »Du bist ein Nichts. Du wirst mich nicht besiegen.«

Er holte mit seinen kleinen Fäusten aus und schlug sie gegen seinen behaarten Kopf. Schmerz durchfuhr ihn, aber er hörte nicht auf.

»Du bist ein Nichts. Du wirst mich nicht besiegen. Du wirst mich nicht besiegen.«

Seine behaarten, fremden Hände lagen ruhig auf den Oberschenkeln.