Kapitel Sechs
Einige Wochen zuvor
»Hhalim«, sagte Ryn’Nel. »Du musst denken, als wärst du Hhalim.«
Jho’tol lachte. »Ich glaube nicht, dass ich meinen Verstand so weit hinter mir lassen könnte.«
Sie standen vor einer Reihe Monitore auf einer Station namens Scania. Hochsensible Kameras zeigten stumm Menschen, die durch dunkle Gänge rannten, eingekesselt und getrieben von Haien. Das Licht ihrer Taschenlampen zuckte über die Wände und den Boden.
Einer der Haie hatte gerade eine junge Menschenfrau in den Geheimgang gezerrt, der sich hinter den Wänden befand. Nun brach Panik aus.
»Oh«, sagte Jho’tol, als sein Blick auf die Tasche fiel, die er in einer großen Klaue hielt. » Das hätte ich beinahe vergessen. Es hat mir gefallen, dir etwas mitzubringen.«
Er öffnete die Tasche und zog einen von Plastikringen zusammengehaltenen Sixpack heraus. Die Dosen waren weiß und mit großen, grünen Symbolen versehen. »Dieses Getränk«, sagte er, als er den Sixpack vor sich auf den Tisch stellte, »stammt von einem Ort namens Vietnam. Ich weiß nicht, ob das ein Kontinent, ein Mond oder sonst etwas ist, aber–«
»Das ist ein Land«, sagte Ryn’Nel. Er betrachtete die Dosen mit sichtlich großem Interesse. »Diese Art Softdrink habe ich noch nie gesehen.«
»Es soll angeblich so frisch schmecken wie Morgentau auf Gras. Das hat der Verkäufer zumindest behauptet, aber du weißt ja, wie diese Menschen sind.«
»In der Tat.« Ryn’Nel neigte den Kopf. »Das ist ein sehr schönes Geschenk. Ich danke dir dafür.«
»Willst du sie nicht probieren?«
»Besondere Geschenke sollte man für besondere Anlässe aufbewahren.« Ryn’Nels Blick glitt zurück zu den Monitoren. Dort wallte plötzlich weißer Nebel auf. »Wir trennen die Gruppe jetzt und reduzieren sie weiter.«
»Ihr wisst, wer infiziert ist und wer nicht?«
Ryn’Nel schob ihm ein Pad herüber, auf dem Jho’tol Namen und Fotos sah. »Das ist eine Liste aller nicht infizierten Menschen auf Scania. Die meisten von ihnen leben in Reynolds’ Habitat, aber in dieser Gruppe sind auch ein paar.«
Jho’tol beobachtete, wie die Haie blitzschnell Gangwände verschoben und einen kleinen Teil der Menschen in einem Raum isolierten. Kisten, Kartons und anderer Müll bildeten dort Barrikaden. Ein Mann lief als Erster auf sie zu und begann, die Kisten zu untersuchen.
»Wie stellst du sicher, dass nur die Infizierten sterben?«
Ryn’Nel machte ein seltsam schnalzendes Geräusch mit seiner Zunge. »Gar nicht. Ich bitte die Haie aufzupassen, aber sie lassen sich schnell hinreißen. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Ohne sie hätten wir nicht annähernd genug Leute, um diese Operation durchzuführen. Ursprünglich hatte ich geplant, mit befruchteten menschlichen Eiern zu arbeiten, aber der Verkäufer konnte schließlich doch nicht liefern. Dies ist eine Notlösung. Und zum Glück verlieren die Haie noch nicht die Geduld.«
»Sie haben am meisten dadurch zu gewinnen«, sagte Jho’tol. Auf dem Monitor kroch ein Zombie aus einer umgestürzten Kiste. Der Mann tötete ihn mit einem Hammer. Die meisten anderen Menschen verhielten sich passiv, nur zwei jüngere Männer halfen bei der Durchsuchung der Kisten. Das Gesicht des einen war geschwollen und es schien Spannungen zwischen ihm und dem etwas älteren Mann zu geben.
»Aber trotzdem ist das alles nur ein Spiel für sie. Wenigstens respektieren sie, dass es sich bei dem Habitat um eine Sicherheitszone handelt. Wer es bis dorthin schafft und nicht infiziert ist, überlebt.«
»Sie trennen die Starken von den Schwachen. So ist es bei ihnen üblich.« Jho’tol sah zu, wie der Mann mit dem Hammer eine Wand abklopfte. Er schien dem Geheimnis der Station, den verborgenen Gängen und Räumen hinter den Wänden, auf die Spur gekommen zu sein. »Wir werden alle durch unsere Umgebung geprägt. Es ist schwer, daraus auszubrechen, selbst wenn das bedeutet, gegen die eigenen Interessen zu handeln.«
Die Haie hatten die niedrigste Lebenserwartung aller Völker. In menschlichen Jahren wurden die meisten nicht einmal fünfundzwanzig.
»Du tust es«, sagte Ryn’Nel sanft.
»Ich habe keine Wahl.« Er hob seine Klauen hoch. Die Haut war schuppig und hatte sich an einigen Stellen bereits schwarz verfärbt. Die Fäulnis, so nannte man diese Erbkrankheit auf seiner Welt. Sie war unheilbar und führte innerhalb weniger Monate zum Tod. Jho’tol hatte das Endstadium erreicht. Für ihn gab es nur noch den Tod oder Ryn’Nels Vorschlag.
Ein neuer Körper, dachte Jho’tol. Die Vorstellung faszinierte und schockierte ihn gleichermaßen. Wäre Ryn’Nel nicht schon seit Jahren einer seiner engsten Freunden, hätte er das wahrscheinlich nicht einmal in Erwägung gezogen. Doch so …
»Ich werde der Erste sein?«, fragte er.
»So ist es.« Ryn’Nel wirkte abgelenkt. »Alle Computersimulationen verlaufen tadellos, aber trotzdem wird …« Er unterbrach sich. »Das hatten wir auch noch nicht.«
Jho’tol erkannte, worauf er sich bezog. Der Mann hatte mit einer Eisenstange ein Loch in den Kunststoff geschlagen und die Wandhälften, die sich dort befanden, aufgestemmt. Zombies wankten von der anderen Seite des Raums auf ihn zu. Die Haie mussten sie losgelassen haben, um die Gruppe aufzuhalten. Auf anderen Monitoren sah er, wie sie hektisch durch die schmalen Gänge hinter den Wänden rannten. Offensichtlich hatten sie mit dieser Entwicklung nicht gerechnet.
Der Mann stieß die Menschen, die bei ihm waren, durch die von der Eisenstange offen gehaltenen Wandhälften. Die Zombies kamen immer näher, aber er geriet nicht in Panik. Jho’tol beugte sich vor. Er erkannte den Mann wieder. Sein Gesicht war auf der Liste der nicht infizierten Menschen. »Ich will ihn.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
Auf dem Monitor lief der junge Mann, mit dem der andere sich vorher gestritten hatte, durch die Tür, fuhr herum und schlug mit einem Hammer gegen die Eisenstange. Die Wandhälften schlossen sich. Der Mann war in dem Raum gefangen, keine Armeslänge von den Zombies entfernt.
»Hilf ihm!«, stieß Jho’tol hervor, aber Ryn’Nel gab bereits Befehle über ein kleines Mikrofon an seiner Kehle.
Die Kamera lieferte nun nur noch Wärmebilder. Der Mann tastete nach der Stange am Boden. Die dunkler wirkenden, kühleren Zombies griffen nach ihm. Er trat einen zur Seite und rammte seine Schulter in den nächsten.
Im gleichen Moment öffnete sich eine weitere, verborgene Tür. Haie, deren Nachtsichtgeräte wie schwarze Flecken auf ihren Gesichtern saßen, stürmten in den Raum. Sie trugen einen Menschen zwischen sich, den sie nun in die Zombiegruppe warfen. Zwei von ihnen schlugen Lanzo nieder und zerrten ihn in den Gang. Die Zombies beachteten sie kaum. Sie rissen den Menschen in ihrer Mitte auseinander. Gelborange leuchtendes Blut lief über den Boden und spritzte an die Wände. Es leuchtete nur kurz auf, dann kühlte es ab und wurde dunkler.
Ryn’Nel sprach über Funk mit den Haien. »Er ist unverletzt«, beantwortete er nach einem Augenblick Jho’tols stumme Frage. »Ich lasse ihn auf das Schiff bringen und die Aufnahmen der Kamera editieren, damit es so aussieht, als wäre er dort gestorben.« Er zeigte auf einen der anderen Monitore. Darauf war die zweite Gruppe zu sehen. Ein weißhaariger Mann hatte sich ihr angeschlossen. »Ich habe so ein Gefühl, dass seine Freunde ihn suchen würden, wenn sie Grund zu der Annahme hätten, dass er noch lebt. Wir können keine Nachforschungen gebrauchen.«
Er machte eine Pause. »Du stehst vor einer großen Veränderung, Jho’tol, wahrscheinlich größer, als du oder ich verstehen können. Das Bewusstsein dieses Körpers ist voll ausgebildet. Kämpfe nicht dagegen an. Nutze es. Mache es zu einem Teil von dir. Das wird ein schwieriger Weg, aber ich werde dich begleiten. Du musst dich nicht davor fürchten.«
Jho’tol zeigte ihm zum Dank die Handflächen, die Finger nach unten abgespreizt, so wie es bei seinem Volk üblich war. Ryn’Nel verstand die Geste. Er lächelte auf menschliche Art und griff mit seinen langen Klauen nach dem Sixpack. Er zog zwei Dosen aus ihren Plastikringen. Er öffnete beide und schob eine von ihnen Jho’tol zu.
Der neigte den Kopf. »Ich dachte, besondere Geschenke sollte man für besondere Anlässe aufbewahren.«
»So ist es.« Ryn’Nel hob die Dose an die Lippen. Jho’tol folgte seinem Beispiel und trank. Die Flüssigkeit war kalt und schmeckte so frisch wie Morgentau auf Gras.
»Menschen lügen nicht immer«, sagte Ryn’Nel. »Du wirst sie bald besser kennen, als es je einem von uns vergönnt war. Ich beneide dich darum.«
Ich tue das nur, um zu überleben, dachte Jho’tol und schluckte die Flüssigkeit herunter. Auf einmal lag der Geschmack bitter auf seiner Zunge.
Ich wollte die Menschen nicht kennenlernen.
Das war mein Fehler. Jho’tols Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er hatte Ryn’Nels Worte nicht ernst genommen, sondern sich dem Neuen verschlossen und so getan, als hätte sich nur seine Gestalt geändert, aber nicht er selbst. Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war.
Die Erkenntnis erschreckte und befreite ihn. Er musste Hhalim werden, den Verstand verlieren, zumindest ein bisschen.
»Wir müssen auf Ama’Rus Antwort warten«, sagte Rin und öffnete die Tür. »Kommst du?«
»Ja.« Arnest schloss sich ihr an, blieb dann jedoch im Türrahmen stehen. Er sah den Körper unter Jho’tol an. Nein, nicht den Körper, Lanzo. Sein Name ist Lanzo.
»Lass dich von diesem Arsch nicht fertigmachen«, sagte Arnest. »Wir holen dich da raus.«
Er wartete einen Moment, als rechne er mit einer Antwort, dann verließ auch er die Kabine.
Jho’tol legte die Hände auf Lanzos Schultern. »Lass uns reden. Ich habe viel von dir zu lernen.«