Kapitel Elf

Sie waren eine Weile nach Norden gefahren, aber nun bog der Transporter nach Westen ab, der untergehenden Sonne entgegen. Ein halb überwuchertes Schild verkündete, dass sie sich einem Golfplatz näherten, was auch immer das war, auf einem anderen stand Orlando 23.

Die Andere döste mit halb geschlossenen Augen, die beiden Skorpione schwiegen. Ama’Ru sah aus dem Fenster und betrachtete die flache, blassgrüne Landschaft. Zombies standen am Straßenrand oder saßen auf den Ladeflächen verrosteter Pick-ups. Überall lag Gepäck herum, aufgerissene Koffer, Taschen, verstreute Kleidung. Sogar ein Sofa stand auf der Straße. Der Transporter bog einige Male von der Straße in Feldwege ein, vermutlich um Blockaden zu umfahren. Mney’Saak musste die Strecke nach dem Drohnenflug einprogrammiert haben.

Am Horizont tauchte Orlando als eine Reihe schwarzer Silhouetten vor einem violetten Himmel auf. Mit den Zombies nahmen auch die Schilder zu: Magic Kingdom, Adventure Island, Universal – die einst holographisch animierten Werbetafeln waren von Moos und Schlingpflanzen bedeckt. Die Logos und Schriftzüge ließen sich nur noch erahnen. Ama’Ru nahm an, dass es sich um Vergnügungszentren gehandelt hatte. Menschen ließen sich so oft wie möglich von ihrem eigenen Leben ablenken, hatte Kipling ihr einmal erklärt, egal, wie gut oder schlecht es war. Sie strebten nach Abwechslung.

Ihr Blick fiel auf einen Zombie, der unablässig zwischen zwei Viehgittern auf und ab ging. Er machte einen Schritt nach vorn, prallte gegen das vordere Gitter, drehte sich um, machte einen Schritt und prallte gegen das hintere Gitter. Er musste schon seit Langem von einem Gitter zum anderen schlurfen, denn seine Füße hatten tiefe Furchen in den Dreck gegraben. Ama’Ru wandte sich ab.

An ihrem Oberschenkel vibrierte es. Sie zog das Pad, das sie stumm gestellt hatte, aus der Satteltasche. Ofee’Tas drehte den Kopf und sah zuerst sie an, dann Mney’Saak. Die Gesichter der beiden Skorpione waren regungslos, trotzdem hatte Ama’Ru den Eindruck, dass das Pad sie überraschte.

Sollen sie es mir doch abnehmen, dachte sie. Die Unterhaltung zwischen ihr, Kipling und Rin hatte sie gelöscht, ebenfalls das Foto von Lanzo und dem Jockey. Auf den Servern lag es zwar noch, aber auf ihrem Pad war nichts mehr davon zu sehen.

Sie hatte damit gerechnet, dass Rin die Antworten auf ihre Fragen in den Gruppenchat posten würde, doch dieses Fenster war leer. Sie hatte eine private Nachricht bekommen.

Ama’Ru neigte den Kopf, als sie den Absender sah. John? Sie rief die Nachricht auf.

Auckland: ›Alles okay?‹

Das grüne Licht über seinem Namen zeigte ihr, dass er online war. Sie legte das Pad auf ihre Oberschenkel und tippte die Antwort ein.

›Hier schon. Hast du die Nachrichten in der Gruppe gelesen?‹

Auckland: ›Ja.‹

›Warum hast du dich nicht gemeldet? Wir waren besorgt. Wie geht es dir?‹

Das Icon mit den animierten Fingern über einer Tastatur bewegte sich.

Auckland: ›Mir geht es gut. Ich habe mich nicht gemeldet, weil Rin versuchen würde, mich zu retten, und ich muss nicht gerettet werden. Die Situation hier ist unter Kontrolle. Ich möchte, dass du das weißt.‹

Er tippte schneller, als sie es in Erinnerung hatte. ›Warum nur ich?‹

Auckland: ›Weil ich dir vertraue. Wenn ich dich bitte, den anderen erst einmal nichts zu sagen, wirst du das tun.‹

Der Tonfall, den sie in seine Worte hineinlas, störte sie. ›Ich werde tun, was ich für richtig halte.‹

Auckland: ›Und das wird das Richtige sein.‹

Sie wollte antworten, sah dann jedoch, dass er weitertippte und hielt inne.

Auckland: ›Stimmt es, dass Brown bei dir ist?‹

Ama’Ru hatte sich schon gefragt, wann er den Namen erwähnen würde. ›Ja.‹

Auckland: ›Lass mich mit ihm reden. Ich kann ihn unter seinem alten Alias nicht kontaktieren.‹

Der Transporter wurde langsamer. Ama’Ru sah auf und bemerkte, dass sie die breite Straße verlassen hatten und in eine schmalere eingebogen waren. Zwei- und dreistöckige Wohnhäuser mit wild wuchernden Gärten säumten sie. Auf einem Balkon wuchsen Palmen. Einige Zombies wankten zwischen geparkten Autos umher.

Sie wandte sich wieder ihrem Pad zu. ›Er ist im Moment nicht bei mir. Ich bin in einer Stadt namens Orlando, um Geräte für mein Labor zu besorgen. Ich melde mich, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.‹

Auckland: ›Vergiss es bloß nicht.‹

Auckland: ›:)‹

Ama’Ru starrte den Smiley an. Sie wusste, dass er als Entschuldigung für den Satz davor diente, aber ein Smiley? Von Auckland?

Niemals, dachte sie. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie ihre Antwort eingab. Die Andere öffnete die Augen und hob den Kopf.

›Wer bist du?‹

Das grüne Licht über Aucklands Namen erlosch. Wer auch immer mit ihr gesprochen hatte, war offline.

Der Transporter hielt an. »Wir sind da«, sagte Ofee’Tas. Er zog die Seitentür auf und stieg aus. Ama’Ru steckte das Pad in die Satteltasche und zwang sich, die Gedanken an den Chat und was er implizierte, zu verdrängen. Der Transporter stand auf einem Parkplatz zwischen einigen mehrstöckigen, sandbraunen Gebäuden. Alles war grün überwuchert. Sogar der Asphalt war an einigen Stellen bereits aufgeplatzt. Pflanzen breiteten sich aus den Rissen und Löchern über den Parkplatz aus. Es standen nur wenige Autos dort.

Ofee’Tas und Mney’Saak stellten sich wie Leibwächter rechts und links von Ama’Ru auf und liefen auf eines der Gebäude zu. Sie blieb zwischen ihnen. Die Andere hob die Scheren, aber sie war nicht nervös. Die wenigen Zombies, die sie sahen, waren weit weg und bemerkten sie nicht.

Sie erreichten das Gebäude und liefen die Stufen zum Eingang hinauf. Ihre dünnen Beine kratzten über den Stein. Die Glastür und die Fenster waren längst eingeschlagen worden, aber das Schild, das darüber angebracht war, ließ sich noch erkennen.

University of Central Florida – College of Sciences

»Ihr habt eine gute Wahl getroffen«, sagte Ama’Ru. »Hier werde ich finden, was ich brauche.«

Wie erwartet antworteten Ofee’Tas und Mney’Saak nicht.

Glas knirschte unter ihren Beinen, als sie hintereinander eintraten. Zettel lagen auf dem Boden, hastig gekritzelte Hilferufe, die wahrscheinlich von eingeschlossenen Studenten aus den Fenstern geworfen und vom Wind hineingeweht worden waren. Ama’Ru bezweifelte, dass irgendjemand ihnen geholfen hatte.

»Es könnte hier viele Zombies geben«, sagte sie leise. »In beengten Räumlichkeiten werden sie schnell gefährlich.«

Seit dem Angriff der Überlebenden bereitete die Arroganz der beiden Skorpione Ama’Ru Sorgen. Sie fühlten sich zu sicher und verließen sich zu sehr auf ihre überlegene Stärke und Intelligenz.

Mney’Saak lief an den Fahrstühlen vorbei zur Treppe. In einer Ecke lagen zusammengeknüllte Decken und Dutzende aufgerissene Verpackungen. Hier hatte jemand gelebt. Das schwarz eingetrocknete Blut auf den Decken und am Boden ließ darauf schließen, dass dieses Leben kein gutes Ende gefunden hatte.

Sie liefen die Treppe hinauf bis in den zweiten Stock. Ama’Ru bemerkte, dass die Skorpione neben ihr blieben, egal, ob sie sich langsam oder schnell bewegte. Und sie schienen zu wissen, wohin sie wollten, denn sie bogen im zweiten Stock ohne zu zögern nach links ab.

Die Türen des Gangs, durch den sie liefen, waren geöffnet worden. Schon der zweite Raum, in den Ama’Ru sah, enthielt Labortechnik, die in langen Regalen stand. »Wartet«, sagte Ama’Ru zu den Skorpionen, aber die liefen weiter.

»Komm«, sagte Ofee’Tas. »Wir sind gleich da.«

Widerstrebend schloss Ama’Ru sich ihnen an, obwohl sie am liebsten zurückgeblieben wäre. Aber die Universität war groß und sie wusste nicht, wie viele Zombies es allein in diesem Gebäude gab. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick in die anderen Räume. Sie sah Blutspuren an Böden und Wänden, manchmal sogar an der Decke, aber weder Zombies noch Chaos. Dieser Trakt war im Gegensatz zum Eingangsbereich nach Omega nicht sich selbst überlassen worden. Jemand hatte ihn gesichert und aufgeräumt.

Ama’Ru blieb stehen. »Ihr seid die Strecke nicht mit einer Drohne abgeflogen«, sagte sie. »Ihr wart hier.«

Ofee’Tas und Mney’Saak drehten sich zu ihr um. Sie und die Andere spiegelten sich in ihren Facettenaugen. Und dann, plötzlich, sprangen die Skorpione sie an. Mney’Saaks Schere schloss sich um Ama’Rus Hals, bis sie einen scharfen Schmerz spürte und warmes Blut auf ihre Schultern tropfte. Die Andere fiepte hoch, aber sie ließ ihre eigenen Scheren hängen und senkte den Kopf. Ofee’Tas packte ihre Arme und drückte sie nach hinten. Er führte sie einige Schritte durch den Gang, dann stieß er mit einem seiner Hinterbeine die einzige geschlossene Tür im Trakt auf.

Ama’Ru hörte ein leises elektrisches Summen. Mney’Saak schob sie durch die Tür ins Innere des Raums. Heiße, trockene Luft schlug Ama’Ru entgegen. An einer Wand lehnte ein menschenhoher Stapel alter Zeitschriften, die restlichen drei standen voll mit wissenschaftlichen Geräten, Computern und Ausrüstung. Es war ein perfekt ausgestattetes Labor.

Durch das große Fenster gegenüber der Tür sah Ama’Ru, wie das letzte Tageslicht verging und die Farben aus der flachen Landschaft zog. Alles wirkte grau.

»Was soll das?«, fragte Ama’Ru, als Ofee’Tas die Andere losließ. Mney’Saaks Schere ritzte weiterhin schmerzhaft die Haut an ihrem Hals ein.

Die Skorpione beachteten sie nicht. »Frag ihn, was wir mit dem Pad machen sollen«, sagte Mney’Saak.

Ama’Ru sah nicht, was Ofee’Tas unter dem Körper des Skorpions tat, aber nach einem Moment antwortete er: »Abnehmen.«

Er richtete sich auf, um mit seiner eigenen Hand in ihre Satteltasche zu greifen, und Ama’Ru sah zum ersten Mal sein Gesicht. Blasse, eingefallene Wangen – und schwarze Schlieren, die seine Augen wie Nebel trübten.

Mak’Uryl hatte das auch, dachte sie. Ihr Herz schlug schneller. Ihre Gedanken sprangen von der Gegenwart in die Vergangenheit, zu Erlebtem, Gehörtem und Gesehenem.

»Seid ihr Christen?«, fragte sie. »Antwortet.«

Ofee’Tas steckte ihr Pad in die Chitintasche, in der er lag. »Das hat er uns noch nicht gesagt.«

»Und ihr tut alles, was er sagt.« Ama’Ru spürte die Schere um ihren Hals kaum noch. »Weil ihr euch selbst nicht mehr traut. Etwas ist in euch, das euch verwirrt und ängstigt. Etwas Fremdes.«

Sie drehte den Kopf und sah sich selbst in Mney’Saaks Augen. »Ihr seid infiziert.«