WELTSPITZE

 

 

KAPITEL 9

Das Geheimnis besteht darin, die Leistung, von der du weißt, dass du sie bringen kannst, abzurufen, wenn du sie am dringendsten brauchst. Djokovic ist ein fantastischer Spieler – nach Tonis Ansicht talentierter als ich –, aber in einem Grand-Salm-Finale über fünf Sätze zählen Nerven und Zähigkeit mehr als Talent. Etwaige Zweifel, die mich vor Beginn des Matchs vielleicht noch plagten, hatten sich durch meine Leistung in den ersten beiden Sätzen zerstreut. Was die Belastungen eines US-Open-Finales anging, so hatte ich bereits acht Grand-Slam-Turniere gewonnen, er dagegen nur eines, und das gab mir ausreichend Selbstvertrauen, dass ich sie mindestens ebenso gut meistern konnte wie er. Für mich sprachen zudem die Statistiken, die zeigten, dass er bei längeren Matchs körperlich nachließ. In einem Match über fünf Sätze hatte er mich noch nie besiegt. Als Spieler hatte er zwar seine glanzvollen Momente, aber ich spielte sehr konstant, der Dieselmotor schnurrte. Ich spürte, wenn ich den dritten Satz gewänne, würde er sich fühlen, als müsse er einen Berg erklimmen.

Aber zu Beginn des dritten Satzes fand er sofort seinen Rhythmus und machte da weiter, wo er im zweiten Satz aufgehört hatte. In dieser Phase hätte das Match gar nicht ausgeglichener sein können, wobei sich die Initiative, wenn überhaupt, leicht auf seine Seite verlagerte. Ich warf einen flüchtigen Blick zu meinem Team und meiner Familie, die links von mir saßen: Toni, Carlos, Titín, mein Vater, Tuts und hinter ihnen meine Mutter, meine Schwester Maribel und María Francisca, die besonders nervös wirkte. Sie war erst zum zweiten Mal gekommen, um mich bei einem Grand-Slam-Finale spielen zu sehen. Gewöhnlich schaute sie sich die Matchs zu Hause mit ihren Eltern oder allein an, wie sie es beim Wimbledon-Finale 2008 auch getan hatte. Wenn es ihr zu viel wurde, schaltete sie auf einen anderen Sender, gestand sie, oder sie verließ für eine Weile das Zimmer. Dieses Mal in New York musste sie gegen das Bedüfnis ankämpfen, einfach aufzustehen und zu gehen, wie sie mir in einem Gespräch erzählte. Die gegenwärtige Phase des Matchs war für sie die härteste Prüfung.

María Francisca, die selbst Tennis spielt, verstand ebenso gut wie ich, dass die Regenpause Djokovic einen Schub gegeben hatte. Er bewies es beim ersten Ballwechsel des Satzes, den er einwandfrei spielte: Er drängte mich weit nach links und beendete den Ballwechsel mit einem durchschlagenden Rückhand-Winner entlang der Linie auf meine Rechte. Diesen Trick wiederholte er mit einem tieferen Schlag nach einem längeren Ballwechsel für den zweiten Punkt. Das war zu gut.

Ich nahm es gefasst hin. Manche Spieler explodieren vor Wut, wenn ihr Gegner sie dominiert. Aber das ist zwecklos und kann nur schaden. Man muss sich einfach denken: »Dagegen kann ich nichts machen, warum soll ich mich also darüber ärgern?« Er ging viele Risiken ein, und fürs Erste zahlte es sich aus, aber ich schaffte es, mit jener Intensität zu spielen, die ich mir vorstellte, den Ball hart und weit zu schlagen, ohne Risiken einzugehen, und mir größere Spielräume für Fehler zu lassen. »Lass den Sturm vorüberziehen«, sagte ich mir. »Wenn ich beim nächsten Ballwechsel nicht zurückkommen kann, dann eben beim übernächsten.«

In diesem Spiel schaffte ich es allerdings nicht mehr. Er gewann es, nachdem er mir nur einen Punkt durch einen recht unerklärlichen Doppelfehler schenkte – offenbar wollte er beim zweiten Aufschlag ein Ass versuchen –, als er 40:0 in Führung lag. O. k. So geht das nun mal. Pech. Er lag vorn, und mir stand bei meinem Aufschlag eine Aufholjagd bevor, die lange dauern konnte.

Für mich war es entscheidend, das nächste Spiel zu holen. Wenn man die letzten beiden Spiele des vorigen Satzes mitrechnete, hatte er drei Spiele in Folge gewonnen. Ich musste ihn aufhalten, sonst lief ich Gefahr, überrannt zu werden. Den ersten Ballwechsel ging ich geschickt an, indem ich den Ball hoch spielte. Schlägt man den Ball gegen Djokovic niedrig oder in mittlerer Höhe, trifft er ihn perfekt, besonders wenn er so gute Sicht hatte wie bei diesem Spiel. Muss er den Ball aber in Schulterhöhe annehmen, fühlt er sich nicht sehr wohl, denn er ist gezwungen, aufs Geratewohl zu schlagen und kommt aus dem Rhythmus. So ging ich 15:0 in Führung: nicht durch einen Winner, sondern indem ich ihn zu einem untypischen Fehler trieb. Das gab mir das Selbstvertrauen, in meinem Spiel einen Gang hinaufzuschalten, ein Risiko einzugehen und den nächsten Punkt mit einer tiefen Vorhand in die Ecke zu holen. Er nickte, als wolle er sagen: »Da konnte ich nichts machen.« Das tue ich nie. Ich zeige meine Anerkennung für die besseren Schläge eines Gegners nicht. Nicht etwa aus Unhöflichkeit, sondern weil es ein zu riskantes Abweichen von meiner Strategie wäre. Aber seine Haltung war richtig: Beuge dich dem Unvermeidlichen und mache weiter.

Ich gewann das Spiel, ohne einen Punkt abzugeben, und schaffte dann ein unerwartet frühes Break zum 2:1, nachdem ich einen meiner besten Schläge dieses Matchs gespielt hatte, einen Rückhand-Cross im Laufen aus zwei Metern Entfernung hinter der Grundlinie. Er war ans Netz gegangen, was durchaus vernünftig war, da sein Angriffsschlag weit in meine Rückhandecke gegangen war, aber ich donnerte den Ball an ihm vorbei, bevor er auch nur versuchen konnte, zu einem Volley anzusetzen. Jubelnd reckte ich den Schläger in die Luft und spornte mich selbst an: »Vamos!« Ich hatte Djokovics Lauf gebrochen, die Initiative wieder an mich gerissen und mir – wie auch ihm – bewiesen, dass ich ebenfalls geometrisch unwahrscheinliche Winner schlagen konnte.

Psychologisch fühlte ich mich stärker als in irgendeiner anderen Phase des bisherigen Matchs und hatte den Eindruck, in dem mentalen Kampf allmählich ein Stück voranzukommen. Bei unseren früheren Begegnungen hatte Djokovic tendenziell frustriert reagiert, wenn er im Laufe des Spiels festgestellt hatte, dass er bei jedem Ballwechsel an seine Grenzen gehen musste. Zudem wurde er in aller Regel eher müde als ich. Genau das hatte ich im Hinterkopf. Vordergründig dachte ich nur an den nächsten Ballwechsel.

Nach dem turbulenten dritten Spiel war es Zeit für eine Konsolidierung, um das Break zu nutzen. Während ich spiele, versuche ich ständig abzuschätzen, was angesichts meiner momentanen Verfassung, meiner Beurteilung der Kampfmoral des Gegners und des Punktestands die beste Taktik ist. Nach meiner Einschätzung war es nun am besten, Geduld zu haben, die Ballwechsel in Gang zu halten, nichts zu forcieren und die sich bietenden Chancen zu nutzen, aber nicht aktiv zu suchen. Ich musste versuchen, Djokovic müde zu machen, ihn nervlich aufzureiben und abzuwarten, dass er Fehler machte. Nach eben diesem Muster verlief der lange erste Ballwechsel des vierten Spiels, das ich gewann. Dabei gab mir sein Zögern, zwei von mir einladend kurze Stoppbälle in Winner umzuwandeln, einen weiteren guten Hinweis auf seine mentale Verfassung. Mein Selbstvertrauen wuchs, während seines offenbar in dieser Phase schwand. Ich brachte meinen Aufschlag durch, ging damit 3:1 in Führung und witterte die Chance zu einem weiteren Break.

Diese Gelegenheit bot sich, als er bei seinem Aufschlag 15:40 in Rückstand geriet. Ich machte gar nichts Besonderes, sondern konzentrierte mich lediglich darauf, den Ball tief zurückzuschlagen, das Tempo meiner Schläge zu variieren und sie abwechselnd mit Vorhand-Topspin oder Rückhand-Backspin zu spielen, um ihn zu frustrieren und abzuwarten, bis er die Geduld verlor. Und genau das passierte. Aber als Djokovic nun mit dem Rücken zur Wand stand, änderte er seine Taktik. Da er die langen Ballwechsel verloren hatte, ging er nun dazu über, gleich nach seinem Aufschlag ans Netz zu gehen. Ich entschied, seinen wiedergefundenen Mut als Zeichen der Verzweiflung auszulegen, aber mit einem großartigen Aufschlag holte er zum Einstand auf. Ich bekam noch einen weiteren Breakball, aber ich vergab ihn und ärgerte mich darüber. Nicht weil der Ball ins Aus gegangen war, sondern weil ich ein zu großes Risiko eingegangen und einen zu extremen Winkel gewählt hatte, obwohl die richtige Taktik eindeutig darin bestanden hätte, nichts zu forcieren, sondern den Ball im Spiel zu halten. Für kurze Zeit hatte meine Konzentration versagt, und das wurmte mich. Im Augenblick ließ er ein gewisses Zaudern erkennen, konnte aber jederzeit wieder zu seinem besten Spiel zurückfinden, und ich verpatzte meine Gelegenheit, mir einen unangreifbaren Vorsprung in diesem Satz zu verschaffen. Ich vermasselte sie tatsächlich. Mir gelang es nicht, drei Breakbälle zu verwandeln, die mir im fünften Spiel in den Schoß fielen, während er gleich den ersten nutzte, den er bekam.

Doch die generelle Tendenz blieb positiv für mich. Er hatte Mühe, seinen Aufschlag durchzubringen; ich gewann meinen ohne Weiteres zu null und lag damit 4:2 in Führung. Wieder hatte ich eine Breakchance und gefühlte 1000 Punkte auf meiner Seite, aber wieder gelang mir der entscheidende Durchbruch nicht. Ich spielte zwar zweifellos besser, während er in den Seilen hing – aber durchhielt. Beide brachten wir unseren nächsten Aufschlag durch, und beim Stand von 5:4 schlug ich zum Satzgewinn auf.

Nun wurde ich nervös. Ganz oft, wenn der Sieg schon in Sichtweite scheint, bekomme ich anscheinend einen Schwindelanfall. Würde ich das Spiel gewinnen und mit 2:1 Sätzen in Führung gehen, hätte ich schon zwei Drittel des Weges zum noch fehlenden Sieg bei diesem Grand-Slam-Turnier hinter mir. Dann müsste Djokovic die nächsten beiden Sätze gewinnen, wobei er feststellen müsste, dass ich ihm nichts schenken würde. So sehr ich mich auch bemühte, diesen Gedanken aus meinem Kopf zu bekommen, lauerte er doch in mir. Daher war es so wichtig, weiter auf Sicherheit zu spielen, mehr denn je bei meinem üblichen Defensivspiel zu bleiben und zu hoffen, dass er nervlich angeschlagener war als ich.

Wir begannen das Spiel mit zwei sehr langen Ballwechseln, die jeweils über mehr als 20 Schläge gingen. Den ersten gewann ich, als ihm ein Ball zu lang geriet; den zweiten holte er mit einem unglaublichen Vorhand-Winner. Es stand 15 beide, und ich spürte, wie meine Anspannung wuchs, blieb aber gerade noch gefasst genug, um zu registrieren, dass er vielleicht zufrieden über den so gut gewonnen Punkt war, aber auch begriff, dass er sehr hart würde arbeiten müssen, um die Oberhand über mich zu erringen. Vermutlich dachte er: »Uff! Was für eine Plackerei, diesem Kerl einen Punkt abzujagen!« Unterdessen sah ich, dass er müde war und keuchte, und ich dachte: »Ich bezweifle, dass ihm so ein Schlag so bald noch einmal gelingt.« Zumindest wollte ich das gern glauben.

Den nächsten Ballwechsel verlor ich durch eine tollkühne Vorhand, kämpfte mich aber mit einem großartigen, hohen und weiten Aufschlag zurück auf 30 beide. Normalerweise hätte ich den Aufschlag auf Sicherheit gespielt. Ich hätte mich darauf konzentriert, dass der erste Aufschlag im Feld landete, um mir die Aussicht zu ersparen, ihm mit einem zögerlichen zweiten Aufschlag vielleicht ein Geschenk zu machen. Aber ich war mir meiner Aufschläge nie sicherer als bei diesem Turnier und hatte das Gefühl, dass der Augenblick da sei, aufs Ganze zu gehen. Es war die richtige Entscheidung. Mein nächster Aufschlag war ein Ass, das mir einen Satzball verschaffte, und der nächste gelang ebenso gut – lang, hart und unreturnierbar auf seine Rückhandseite gespielt. Ich gewann den Satz 6:4.

Dies war nun eine kristallklare Bestätigung der Philosophie harter Arbeit, die mir in meinem 20jährigen Tennisleben als Leitlinie gedient hatte. Es war der eindeutige Beweis des Ursache-Wirkung- Zusammenhangs und der Überzeugung, dass Siegeswille und der Wille, sich vorzubereiten, ein und dasselbe sind. Ich hatte vor den US Open lange und hart an meinem Aufschlag gearbeitet. Und nun, als ich es am nötigsten brauchte, zahlte es sich aus und rettete mich in eben jenem Moment, als meine Nerven mein Spiel zu untergraben drohten. Ich stand unmittelbar vor etwas wahrhaft Großem. Die Tatsache, dass ich es bis an diesen Punkt geschafft hatte, war die Krönung langjähriger Opfer und Hingabe, die auf der ehernen Prämisse beruhten, dass es keine Abkürzung zu dauerhaftem Erfolg gibt. Im Spitzensport kann man nicht mogeln. Talent allein genügt nicht. Es ist lediglich die Basis, auf der man mit unermüdlicher, sich ständig wiederholender Arbeit im Fitnessstudio, auf dem Tennisplatz und an Analysen der eigenen Spielweise und der seiner Gegner anhand von Videos aufbauen muss, um immer fitter, besser und souveräner zu werden. Ich hatte mich entschieden, Tennisspieler zu werden, und die Folge dieser Entscheidung konnte nur unermüdliche Disziplin und das andauernde Bestreben sein, sich zu verbessern.

Hätte ich mich zurückgelehnt, nachdem ich die French Open oder Wimbledon gewonnen hatte, und geglaubt, mein Spiel sei perfekt genug, um mir weitere Erfolge zu sichern, hätte ich nun nicht im New Yorker Arthur Ashe Stadium gestanden und die Chance gehabt, die Liste meiner Erfolge um die US Open zu erweitern. Ich hatte es nur so weit gebracht, weil ich nie meine Prioritäten aus dem Blick verlor. Die eigentliche Prüfung findet an jenen Tagen statt, an denen man nach einer langen Nacht morgens aufwacht und alles lieber täte als aufzustehen, um zu trainieren, beinhart zu arbeiten und literweise Schweiß zu vergießen. Vielleicht überlegst du kurz: »Soll ich das Training heute mal ausfallen lassen, nur dieses eine Mal?« Aber du hörst nicht auf den Sirenengesang in deinem Kopf, weil du weißt, dass er dich auf einen gefährlich steilen, rutschigen Weg führt. Wenn du einmal nachgibst, wirst du immer wieder nachgeben.

Gelegentlich befallen mich tief greifendere Zweifel. Wenn ich über Weihnachten einen Monat Urlaub von den Turnieren mache und bei meiner Familie auf Mallorca bin, sehe ich dem Beginn des neuen Jahres häufig mit gemischten Gefühlen entgegen. Mein Enthusiasmus wird von einer finsteren Stimmung überdeckt. Ich möchte neue Höhen erklimmen, die aber sehr hohe Berge bleiben. Ich weiß nur zu gut, wie erbarmungslos und zermürbend die Anforderungen des kommenden Jahres sein werden. An allen Fronten: Training, Reisen, Turniere, der Medienpräsenz, Sponsoren, Fans. Den größten Teil der Zeit werde ich weit weg von zu Hause verbringen, wo ich immer am liebsten bin. Häufig steige ich Anfang des Jahres schweren Herzens ins Flugzeug nach Australien zum ersten Turnier. Sobald wir gestartet sind, hebt sich meine Stimmung, und ich wende meine Aufmerksamkeit mit wachsender Erregung der bevorstehenden Aufgabe zu. Ich habe jedoch auch ein Privatleben jenseits des Tennis, und den Kampf zwischen meinen persönlichen Bedürfnissen und den beruflichen Anforderungen zu gewinnen ist ein weiteres Element meines Erfolgs auf dem Tennisplatz. Manchmal wünschte ich jedoch, diesen Kampf nicht ausfechten zu müssen.

Meine Schwester Maribel erinnert sich noch, als sie vor drei oder vier Jahren nach Hause kam und mich weinend auf der Treppe sitzend vorfand. Ich hatte mich gerade von einer Verletzung erholt und stand kurz davor, wieder auf Tennistour zu gehen. Als sie mich fragte, was los sei, erklärte ich ihr, dass mich plötzlich schreckliche Traurigkeit befallen habe, weil ich mich der Möglichkeit beraubt hatte, als Kind mehr mit meinen Freunden zu spielen. Meine Schwester war verdutzt. Außer in der Zeit unmittelbar nach der Trennung unserer Eltern lachen und scherzen wir zu Hause meistens. Solche Gedanken hatte ich ihr gegenüber bis dahin noch nie geäußert. Aber dieser Moment der Verzweiflung, so flüchtig er auch war, offenbarte mein Gefühl, dass ich tatsächlich zu viel geopfert und einen zu hohen Preis dafür bezahlt habe, um dorthin zu kommen, wo ich bin.

Aber in dieser Frage hatte es eigentlich nie eine echte Wahl gegeben. Der dominante Teil meines Wesens trat in jener Episode zutage, als ich mit zehn Jahren im Auto meines Vaters bitterlich geweint hatte. Maribel und ich werden nie vergessen, wie ich meinem Vater sagte, der Spaß, den ich in einem sorglosen August mit meinen Freunden hatte, könne niemals den Kummer über die Niederlage gegen einen Spieler aufwiegen, den ich eigentlich hätte schlagen müssen. An jenem Tag setzte ich meine Prioritäten und fällte die wichtigste Entscheidung meines Lebens, ohne dass es mir damals klar gewesen wäre. Nachdem sie getroffen war, gab es kein Zurück mehr. Damals nicht und heute nicht. Der Weg war vorgezeichnet, und obwohl es Momente des Zweifels und der Schwäche gab, bin ich nie davon abgegangen. Nicht einmal, wenn die Verlockung am größten war.

Ein solcher Moment kam, als ich mit Kindheitsfreunden aus Manacor in Thailand Urlaub machte. Es war eine Chance, verlorene Zeit gutzumachen, aber mein Wettkampfgeist rebellierte.

Es stand ein Turnier in Bangkok bevor, und ich beschloss, vorher eine Woche Strandurlaub zu machen. Wir waren zu zehnt, darunter auch mein ältester Freund, Miguel Ángel Munar, mit dem ich als kleiner Junge bei Toni trainiert hatte. Vor der Abreise bekam ich Zweifel, ob es sinnvoll sei, die lange Reise nach Bangkok und den Kampf gegen den Jetlag auf mich zu nehmen, um an einem Turnier teilzunehmen, das auf meiner Prioritätenliste keinen sonderlich hohen Stellenwert hatte. Aber ich hatte mich acht Monate zuvor zur Teilnahme verpflichtet und durfte die Veranstalter nicht durch eine so kurzfristige Absage im Stich lassen.

Unser Urlaub war herrlich. Wir fuhren Jetski und spielten Golf. Miguel Ángel, der noch nie in der Woche vor einem Turnier Tag und Nacht mit mir verbracht hatte, wunderte sich jedoch, dass ich gleich nach der Ankunft, nachdem wir auf dem Hinflug dreimal hatten umsteigen müssen, auf den Tennisplatz des Hotelkomplexes ging, um eine Stunde zu spielen. Noch mehr verblüffte ihn, dass ich jeden Morgen pünktlich um neun Uhr aufstand, um zu trainieren, selbst wenn wir erst um fünf Uhr morgens schlafen gegangen waren. Außerdem trainierte ich jeden Nachmittag eine Stunde.

Miguel Ángel wusste allerdings nicht, dass mich etwas bedrückte, so gut wir uns auch amüsierten. Ich absolvierte zwar meine Trainingsstunden, wusste aber, dass ich mich nicht so gründlich vorbereitete, wie ich es unmittelbar vor einem Turnier hätte tun sollen. Wir waren in den Tropen, und es war viel zu heiß und feucht, um mich körperlich so zu verausgaben, wie es eigentlich erforderlich war. Also traf ich einen Entschluss, der weder meine Freunde noch mich sonderlich freute. Aber er war notwendig. Planmäßig sollten wir eigentlich am Dienstagabend nach Bangkok fahren, aber ich reiste schon am Montagmorgen ab. Es ging zwar nicht um das wichtigste Turnier meiner Karriere, aber da ich nun mal beschlossen hatte teilzunehmen, wollte ich nicht weniger als mein Bestes geben. Hätte ich an der ursprünglichen Planung festgehalten, hätte ich zwei Tage gründlicher Vorbereitung versäumt. Und ich hatte das Gefühl, dass ich mir das nicht leisten konnte. Wie die Dinge lagen, schied ich im Halbfinale aus und wusste genau, dass ich auf dem Tennisplatz mehr Freude gehabt hätte, wenn ich mir weniger Spaß am Strand gegönnt hätte.

Eine Lektion, die ich gelernt habe, lautet: Wenn mein Beruf einfach wäre, würde er mir nicht so viel Befriedigung verschaffen. Die Freude über einen Sieg entspricht proportional der Anstrengung, die ich vorher in ihn investiere. Aus langer Erfahrung weiß ich, wenn man sich im Training anstrengt, obwohl einem nicht danach ist, zahlt es sich aus, indem man Spiele gewinnt, auch wenn man nicht in Bestform ist. So gewinnt man Turniere, und eben das unterscheidet die großen Spieler von den lediglich guten Spielern. Der Unterschied besteht in der gründlichen Vorbereitung.

Novak Djokovic gehört zweifellos zu den aktuellen Tennisgrößen, aber als es nun in New York dunkel wurde, lag ich 2:1 Sätze gegen ihn in Führung. Um 21.15 Uhr hatte er zu Beginn des vierten Satzes Aufschlag. Er spielte gut, aber ich spielte sehr gut. Mir war klar, dass er unter starkem Druck stand, da er von Anfang an gegen einen Rückstand hatte ankämpfen müssen und in keiner Phase des bisherigen Matchs in Führung gegangen war. Und nun fiel er noch weiter zurück. Wenn ich in diesem Satz meinen Vorsprung ausbauen könnte, würde es mental für ihn überaus schwierig werden. Auch ich stand unter Druck, aber ich hatte genügend Erfahrung mit Grand-Slam-Endspielen, um darauf zu vertrauen, dass ich mein Spiel beibehalten konnte.

Im ersten Ballwechsel des Satzes schaffte ich mit Glück ein Break. Mit einem guten ersten Aufschlag brachte er mich sofort in die Defensive, und nachdem wir zwei weitere Schläge ausgetauscht hatten, lief er ans Netz. Ich versuchte einen angeschnittenen Cross, traf den Ball aber so schlecht, dass ein verunglückter Lob daraus wurde. Er überlegte wohl, einen Schmetterball zu versuchen, ließ es aber, weil er meinte, der Ball ginge ins Aus, aber er unterschätzten den Slice, der den Ball noch knapp vor der Grundlinie auftreffen ließ. Es war ein guter Punktgewinn, aber vor allem ein aufschlussreicher Einblick in Djokovics mentale Verfassung. Er bestätigte damit meinen Eindruck, dass sein Selbstvertrauen schwand und ihm die Ideen ausgingen. Ansonsten hätte er den Schmetterball gespielt, und in jedem Fall hätte er nicht so überstürzt versucht, den Ballwechsel zu beenden, indem er ans Netz ging, was er ebenso selten tut wie ich. Er ging immer mehr Risiken ein, und meine Intuition sagte mir, wenn ich so weiterspielte, würde ich ihn an den Rand der Verzweiflung treiben.

Den nächsten Punkt holte er, indem er wieder ans Netz ging, diesmal mit einem spitzwinkligen, unterschnittenen Volley. Ich sprintete wie der Teufel diagonal über die gesamte Platzbreite und hätte ihn beinahe noch erwischt. Es war gut, dass er sah, wie ich es versuchte. Beim nächsten Mal würde er es sich wohl sicherlich zweimal überlegen, einen Volley zu spielen. Vielleicht würde es ihn aber auch zu einem sehr ehrgeizigen Versuch verleiten und damit zu einem Fehler zwingen. Beim Stand von 15 beide spielten wir beide eine Weile von der Grundlinie aus, bis er die Beherrschung verlor und einen dummen Vorhand-Winner versuchte, der ihm zu lang geriet. Den nächsten Punkt bekam er, weil mir ein Ball ins Aus ging, aber nachdem er eine weitere Vorhand verpatzt hatte, hatte ich bei 30:40 einen Breakball. Zum ersten Mal in diesem Match fluchte er lautstark. Vielleicht brauchte er das, vielleicht tat es ihm gut. Aber für mich war es ein weiteres ermutigendes Zeichen.

Mein Hauptproblem war im Augenblick seine einzige schlagende Waffe, sein Aufschlag, der nach wie vor gut funktionierte. Seit Beginn des Matchs hatte er noch keinen Aufschlag verpatzt, und auch die drei nächsten gelangen ihm gut. Er ging 1:0 in Führung, allerdings hatte ich den Eindruck, dass er nicht mehr allzu viele Pfeile im Köcher hatte.

Im nächsten Spiel glich ich mit gutem Aufschlag und guten Bällen aus. Er holte einen Punkt mit einer so kraftvollen Longline-Vorhand, wie ein Mensch sie nur schlagen konnte, verlor aber die nächsten vier: einen durch eine Rückhand ins Aus, die ihn zu einem weiteren für mich ermutigenden lauten Schrei veranlasste. Mit zwei großartigen Aufschlägen entschied ich das Spiel für mich.

Nun stand es 1:1, und er hatte Aufschlag. Ich hatte Blut geleckt. Seit Beginn des dritten Satzes war die Initiative auf meiner Seite, und ich hatte nicht vor, sie abzugeben. Meine Beine waren noch frisch, und ich verspürte eine Woge des Selbstvertrauens. Er wurde dagegen körperlich und mental müde, was sich in den ersten beiden Ballwechseln des Spiels zeigte, die er mit ungemein lahmen Schlägen verlor. Sein erster Aufschlag kam allerdings immer noch gut und war sein Rettungsanker, aber nachdem ich einen donnernden Vorhand-Winner an ihm vorbei gedroschen hatte, gab er das Spiel zu 30 ab. Ich hatte mein Break und konnte nun bei eigenem Aufschlag meinen Vorsprung zum 3:1 ausbauen.

Wenn ich in Führung liege, habe ich die Tendenz, defensiv zu spielen. Wie gut ich mich fühlte, lässt sich daran ablesen, dass ich im Laufe dieses Satzes mehr und mehr in die Offensive ging und bei einem Ballwechsel nach dem anderen mehr und mehr die Initiative ergriff. Genau das tat ich im vierten Spiel, wo ich Djokovic nach rechts, nach links und wieder nach rechts schickte und ihn so unter Druck setzte, dass er keine Kraft mehr hatte und eine schwache Vorhand ins Netz schlug. Ich gewann das Spiel unter anderem mit zwei Assen zu null. Nachdem ich nun meinen Aufschlag durchgebracht und mein Break gegen Djokovic konsolidiert hatte, ging ich davon aus – beim Stand von 3:1 –, dieses Match im Griff zu haben.

Im Tennis gibt es eine ungeschriebene Regel, dass man nicht zeigen darf, wenn man müde ist. Er hatte es aufgegeben, sich auch nur darum zu bemühen. Seine Körpersprache zeugte von Resignation, als seien ihm die Antworten auf meine Herausforderungen ausgegangen. Jetzt war der Moment gekommen, das Doppelbreak zu versuchen und das Match zu entscheiden. Mein Instinkt sagte mir, auf Sicherheit zu spielen, aber mein Verstand hielt die Zeit für reif, in die Offensive zu gehen. Ich wollte keine Sekunde in meinem Druck auf Djokovic nachlassen. Da ich wusste, wie sprunghaft er war, musste ich es um jeden Preis vermeiden, ihm eine Lücke zu lassen, die ihm die Chance bot, sein Selbstvertrauen und seine Bestform wiederzufinden. Ich warf einen flüchtigen Blick zu meinem Team und meiner Familie hinauf und sah Tuts strahlen und Toni ernst und konzentriert wie immer dreinschauen. Als ich seinem Blick begegnete, sagte er so laut, dass ich es gerade noch über den Lärm hinweg hören konnte, der Moment sei gekommen, aufs Ganze zu gehen. Genau das wollte ich hören. Mein strengster Kritiker bestätigte meine Einschätzung des Spielverlaufs.

Ein zweites Break gegen Djokovic zu schaffen fiel mir nicht so schwer, wie ich erwartet hatte. Gleich beim ersten Ballwechsel schlug er eine Vorhand wild ins Aus, und beim nächsten nutzte ich meinen Vorteil zu einem Vorhand-Drive, der ihn auf der völlig falschen Position erwischte, und holte damit den Punkt. Mit einem Doppelfehler geriet er 0:40 in Rückstand. Meine erste Chance vergab ich durch eine zu lange Vorhand, aber dann schlug er eine simple Vorhand ins Netz, gab damit das Match so gut wie auf und brüllte verzweifelt. Ich ging mit 4:1 in Führung, lag 2:1 Sätze vorn und hatte Aufschlag.

Wenn der Aufschlag so gut kommt damals wie bei mir, eliminiert man aus seinem Spiel eine ganze Reihe von Unwägbarkeiten, die einem Sorgen bereiten könnte. Bei der Vorbereitung auf den Aufschlag denkt man zu Beginn eines Spiels nicht: »Bitte, bitte, lass mich nicht im Stich.« Vielmehr ist der Aufschlagrhythmus wie automatisiert, und der Körper erledigt diese Aufgabe beinahe von selbst. Mental ist das von unschätzbarem Wert. Man ist erheblich ruhiger und kann sich befreit auf die anderen Aspekte seines Spiels konzentrieren.

Soweit die Theorie, die auch in der Praxis hätte gelten sollen. Aber nein. An diesem Punkt fing mein Kopf wieder mit seinen seltsamen Tricks an. Da stand ich nun, sollte meinen Aufschlag zum 5:1 durchbringen, während mein Gegner eindeutig auf dem letzten Loch pfiff, und bekam plötzlich Angst wie zwei Jahre zuvor in Wimbledon im kritischen Moment des vierten Satzes. Wie damals packte mich die Angst zu gewinnen. Alles deutete darauf hin, dass ich das Match in der Tasche hatte. Wie oft in meiner Karriere hatte ich ein Match unter solchen Umständen verloren, nachdem ich durch ein Doppelbreak in Führung gelegen hatte? Viermal? Nein, wohl eher zweimal. Falls nicht eine unerwartete Katastrophe passierte, mussten der Satz und damit das Match mir gehören.

Aber in diesem Stadium waren solche Überlegungen nicht angebracht. Ich bemühte mich, die Vorstellungen von einem Sieg beiseite zu schieben, die sich mir aufdrängten. Ich versuchte, das, wie ich wusste, Richtige zu tun, nämlich nur an den nächsten Punkt zu denken und alles andere außer Acht zu lassen. Aber das gelang mir nicht ganz, und als ich zum ersten Aufschlag dieses Spiels ansetzte, hatte ich schlicht und ergreifend Angst.

Sie wirkte sich unmittelbar auf meinen Aufschlag aus. Hatte dieser bisher wie ein Uhrwerk funktioniert, so hakte er plötzlich. Mein Vertrauen in meine Grundschläge brach zusammen, meine Bewegungen waren völlig falsch. Ich spielte wesentlich defensiver und strampelte mich kopflos ab. Mein Körper verspannte sich, mein Arm wurde steif. Das Wissen, dass die US Open praktisch mir gehören würden, wenn ich dieses Spiel gewann und 5:1 in Führung ging, war nicht gerade hilfreich. Ich stand kurz davor, etwas so Enormes zu erreichen, dass ich mich fühlte, als ob ich vor einem gigantischen Monster stünde, das mich zu schlucken drohte. Ich erstarrte, zumindest beinahe.

Den ersten Aufschlag brachte ich ins Feld. Es war ein sicherer Prozentaufschlag ohne Biss, aber ausreichend, um einen Ballwechsel in Gang zu bringen und das Risiko eines Doppelfehlers zu bannen, was an sich schon eine Leistung war. Zum Glück war Djokovic moralisch angeschlagen und beendete den Ballwechsel mit einem unnötig langen Schlag. Den nächsten Punkt verlor ich durch einen verpatzten Vorhand-Winner an der Linie. Bislang hatte ich in diesem Satz meine Aufschläge alle problemlos durchgebracht. Aber dieses Aufschlagspiel war die reinste Tortur. Es kam zum Einstand, und das noch weitere zwei Mal. Ich wehrte einen Breakpunkt ab. Plötzlich gelangen ihm zwei vernichtende Winner. Aber er war unbeständig: Auf jeden donnernden Drive folgte ein unnötiger Fehler. Noch immer hielt ich die Stellung und beging keine Flüchtigkeitsfehler. Beim dritten Einstand lief er nach einer kraftvollen Vorhand in meine Rückhandecke ans Netz. Ich musste beinahe auf die Knie gehen, um den Ball noch zu erwischen, schaffte es aber, ihm die gesamte Kraft beider Arme mitzugeben und ihn in einen Cross-Winner zu verwandeln. Irgendwie hatte mein Instinkt meine Nerven besiegt und mir zu einem meiner besten Schläge des Matchs verholfen.

Beim nächsten Punkt erwies sich mein Aufschlag als zu gut für ihn. Sein Return geriet zu lang, und es war vorbei. Ich führte 5:1.

Die Spannung fiel von mir ab. Nun hatte er Aufschlag, und ich rechnete nicht damit, dieses Match zu gewinnen. Allerdings wollte ich das nächste Spiel holen. Ich empfand so etwas wie die Ruhe nach dem Sturm und spielte in dieser Phase wie im Halbschlaf, worauf ich nicht unbedingt stolz bin. Er gewann zu 30 mit einem spitzwinkligen Volley-Stoppball, bei dem ich nicht einmal den Versuch unternahm, hinzulaufen.

Als ich beim Stand von 5:2 Aufschlag zum Matchgewinn hatte, kehrte meine Nervosität zurück. Sie ist immer da, ebenso schwer zu besiegen wie der Gegner auf der anderen Seite des Netzes, und ebenso wie er gewinnt sie manchmal die Oberhand, manchmal auch nicht. Im Augenblick war sie das größte Hindernis zwischen mir und dem Sieg. Ich schaute zu den vertrauten Gesichtern meines Teams und meiner Familie, die mich aufgeregt anspornten. Innerlich wollte ich unbedingt für sie, für uns alle gewinnen, aber meine Miene – eine gute Miene – verriet nichts.

Allmählich wurden alle nervös. Djokovics Aufschlagreturn ging ins Aus, und beim nächsten Ballwechsel erklärte der Linienrichter einen seiner Bälle für zu lang, der aber eindeutig auf der Linie gelandet war. Wir mussten den Ballwechsel wiederholen. Da es nun ums Ganze ging, war die Änderung der Schiedsrichterentscheidung nicht so gut für mich. Ich musste sie verdrängen und mich ermahnen, konstant zu spielen, ohne clevere Schachzüge, und Djokovic viel Raum für Fehler zu geben.

Beim zweiten Ballwechsel versuchte er einen weiteren Stoppball. Diesmal lief ich zum Ball und erwischte ihn. Er erreichte den Volley, worauf ich den Ball, mit der Nase beinahe am Netz, direkt zurückschlug, und den Punkt holte: 30:0. Die Zuschauer konnten bei diesem Ballwechsel wie schon bei vielen Ballwechseln zuvor nicht ruhig bleiben und drehten förmlich durch – Toni mehr als alle anderen. Als ich aufschaute, sah ich ihn links von mir. Er war aufgesprungen, ballte die Fäuste und versuchte, nicht in Tränen auszubrechen. Ich musste weinen. Mit dem Handtuch wischte ich mir die Tränen ab. Verschwommen sah ich ihn vor mir, den Sieg. Ich wusste, dass ich ihn mir nicht vorstellen durfte, aber ich sah ihn.

Allerdings doch noch nicht ganz. Beim nächsten Ballwechsel hatte Djokovic einen glücklichen Netzroller, der auf meiner Seite vom Netz tropfte. Innerlich fluchte ich. Ich hätte 40:0 vorn liegen und den nächsten Ball in aller Ruhe in dem Wissen spielen können, dass alles vorbei war. Stattdessen gab es noch mehr Stress. Er holte auf 30 beide auf, nachdem ich es mit einem übereilten Schlag versäumte, einen Vorhand-Winner zu versuchen. Mein Herz raste, meine Nervosität rang mit der Freude. Nur noch zwei Punkte, dann hätte ich es geschafft. Ich bemühte mich angestrengt, fokussiert zu bleiben, und sagte mir: »Bleib locker, keine Risiken, halte den Ball einfach im Spiel.«

Diesmal hielt ich mich an meinen Plan. Der Ballwechsel war lang und ging über 15 Schläge. Wir tauschten ein Dutzend harter Grundlinienschläge aus, dann kam er nach einem weiten Drive auf meine Rückhandecke ans Netz. Dieses Mal hatte ich Glück. Der Ball rollte über den Netzrand, und als er es schaffte, ihn zurückzuschlagen, lief ich diagonal über den Platz und riss ihn mit einer Vorhand hoch. Er rechnete mit einem Cross von mir. Aber ich spielte an der Linie entlang, und der starke Topspin ließ den Ball einwärts drehen. Knapp. Djokovic konnte es nicht fassen. Er legte Einspruch ein, aber das half ihm nichts. Die Aufnahme zeigte, dass der Ball um Haaresbreite im Feld gelandet war und die Außenkante der Grundlinie gestreift hatte. Djokovic ging mit gesenktem Kopf in die Hocke, ein Bild der Niederlage. Toni, Titín und mein Vater ballten die Fäuste und schrieen: »Vamos!« Tuts, meine Mutter und meine Schwester applaudierten lachend vor Freude. María Francisca hatte die Hände an den Kopf gelegt, als könne sie nicht fassen, was gerade geschah.

Matchball. Championship-Ball. Der alles entscheidende Ball. Ich schaute zu meinem Team hinauf, als wolle ich mir bei ihnen nochmals Zuspruch und ein gewisses Maß an Ruhe holen. Wieder rang ich mit den Tränen und schlug auf. Weit auf die Rückhand, wie geplant. Der Ballwechsel ging über sechs Schläge. Beim sechsten schlug er den Ball weit, sehr weit und ins Aus. Meine Beine gaben nach, ich sank zu Boden, noch bevor der Ball gelandet war, und blieb mit dem Gesicht nach unten schluchzend und bebend liegen.

So zusammenzubrechen kann man nicht planen. Mir war gar nicht bewusst, was ich tat. Mein Verstand setzte aus, nackte Emotionen gewannen die Oberhand, und als die Spannung schlagartig aus mir wich, gab auch mein Körper nach und konnte sein Gewicht nicht mehr tragen. Als ob ich aus einer Ohmacht erwachte, merkte ich plötzlich, dass ich inmitten aufbrandenden Lärms ausgestreckt auf dem Boden lag, und erkannte, was ich vollbracht hatte. Mit 24 Jahren hatte ich die vier Grand Slams gewonnen. Ich hatte Geschichte geschrieben und mehr erreicht, als ich je zu träumen gewagt hätte, etwas, was mein Leben lang dauern würde und niemand mir mehr nehmen konnte. Was auch immer geschehen mochte, eines Tages würde ich das Tennisspielen als jemand an den Nagel hängen, der in diesem Sport eine bedeutende Rolle gespielt hat, als einer der Besten und hoffentlich als einer, den man für eine gute Persönlichkeit hielt – auch daran dachte ich im Augenblick meines Triumphs.

Novak Djokovic – »Nole«, wie seine Fans, Freunde, Verwandten und auch ich ihn nennen – erfüllt das alles schon jetzt. In einem für ihn so bitteren Moment besaß er die Größe, nicht am Netz auf mich zu warten, sondern auf meine Seite herüberzukommen, mich zu umarmen und mir zu gratulieren. Ich ging zu meinem Stuhl, ließ meinen Schläger fallen und kehrte mit hoch gereckten Fäusten zurück in die Arena. Der Jubel der Menge brandete über mich hinweg, ich sank wieder schluchzend auf die Knie, legte meine Stirn auf den harten Platzbelag und blieb so hocken. So viel war in dieses Match geflossen, und es gab so viel, wofür ich dankbar sein musste.

Bei der Siegerehrung sprach Nole als Erster, und wieder bewies er große Klasse, bedachte mich mit viel Lob und dankte abwesenden Freunden. Er erwies sich als äußerst würdiger Verlierer und als Zierde unseres Sports. Als ich an die Reihe kam, dankte ich meiner Familie und meinem Team, die vor mir saßen, und erinnerte sie an die größte Wahrheit meines Lebens: dass ich es ohne sie nicht geschafft hätte. Besonders erwähnte ich Joan Forcades, der zu Hause am Fernseher zuschaute. Ja, er hatte Recht. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, und den wichtigsten Teil bilden die Menschen in meiner Umgebung. Bei den US Open hatte ich mich ungewöhnlich fit und stark gefühlt, was mir an diesem Tag zu einem Vorteil gegenüber Nole verholfen hatte, und das hatte ich zu einem großen Teil Joan zu verdanken. Ausdrücklich würdigte ich auch Noles Haltung angesichts seiner Niederlage und das großartige Beispiel, das er allen Kindern und Jugendlichen gab. Ich erklärte, ich sei sicher, dass er diese Trophäe schon sehr bald gewinnen und in den kommenden Jahren weiterhin ein Gegner sein werde, den es zu fürchten galt. Aber das war mein Moment. Trotz aller Leidenschaft und Mühen, die ich über lange, lange Zeit investiert hatte, ein so guter Tennisspieler wie möglich zu werden, überstieg dieser Augenblick alles, was ich mir je vorgestellt hatte. Als ich den US-Open-Pokal hochhielt, die Kameras blitzten und das Publikum jubelte, begriff ich, dass ich das Unmögliche möglich gemacht hatte. Für einen kurzen Moment war ich an der Weltspitze.