HÖCHSTE
ANSPANNUNG

 

 

Am Vorabend des Daviscup-Finales von 2004 brauchte man kein besonders ausgeprägtes Gespür, um die Verärgerung in den Mienen von Juan Carlos Ferrero und Tommy Robredo wahrzunehmen, die der 18jährige Senkrechtstarter Nadal um ihren Platz in der Tennisgeschichte gebracht hatte. Bei der Pressekonferenz des Teams am Vorabend des ersten Spieltags war für jeden, der die vier für die Kameras posieren sah, offensichtlich, dass die spanische Mannschaft nicht gerade ein Bild patriotischer Harmonie war. Carlos Moyá, Spaniens Nummer eins, äußerte sich diplomatisch; Ferrero und Robredo wirkten, als wären sie lieber anderswo; Nadal war zappelig, starrte auf seine Füße und rang sich ein Lächeln ab, das kaum dazu beitrug, sein Unbehagen zu kaschieren.

»Als Rafa zu mir kam und sagte, er sei bereit, seinen Platz im Match gegen Roddick einem der beiden Älteren zu überlassen, antwortete ich, nein, das sei die Entscheidung der Teamchefs, und er habe mein volles Vertrauen. Aber innerlich hatte ich meine Zweifel.« Dasselbe sagte Moyá auch zu Toni Nadal, dem ebenfalls unbehaglich war. »Die Entscheidung war gefällt, und ich sah keinen Sinn darin, etwas anderes zu sagen, was nur noch mehr Spannungen in der Gruppe erzeugt und Rafa zusätzlich unter Druck gesetzt hätte«, erklärt Moyá.

Unverblümt riet Moyá seinem Teamkameraden Ferrero, die Entscheidung mit Fassung zu tragen und daran zu denken, dass er erheblich dazu beigetragen hatte, Spanien ins Finale zu bringen. In den Annalen des Daviscup werde das sicher zum Ausdruck kommen, und falls Moyá und Nadal das Finale gewännen, bedeute das auch für ihn einen Sieg. Unabhängig davon, ob die beiden sich von seinen Argumenten überzeugen ließen, war Moyá über Rafas Zweifel besorgt, ob man ihn zu Recht beim Finale antreten ließ. Wäre Rafa unverfrorener, weniger sensibel gewesen und hätte er die schlechte Stimmung, die plötzlich in der Gruppe herrschte, gar nicht mitbekommen oder sich davon nicht beeinflussen lassen, wäre er zumindest weniger belastet in das entscheidende Match gegen den erfahrenen amerikanischen Spitzenspieler gegangen. Aber dem war nicht so. Moyá war völlig klar, dass unter dem Gladiatorengehabe, das Rafa während eines Matchs an den Tag legte, sich eine ängstliche, sensible Seele verbarg; er kannte den Clark Kent in Rafa, den Unentschlossenen, der viele Meinungen hören musste, bevor er sich entscheiden konnte, den jungen Mann, der Angst vor der Dunkelheit und vor Hunden hatte. Wenn Nadal bei Moyá zu Besuch kam, musste er seinen Hund im Schlafzimmer einsperren, sonst war sein Gast nicht imstande, sich zu entspannen.

Rafa war ein überaus empfindsamer Mensch mit einem ausgeprägten Gespür für die Gefühle anderer, gewöhnt an eine behütete, harmonische Familie und wurde schnell aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn böses Blut herrschte. Spaniens Daviscup-Familie war eindeutig aus dem Gleichgewicht geraten, und am schlimmsten war, dass Nadal zwar nicht die Ursache, aber doch das Zentrum des Problems bildete. Moyá spürte, dass es für seinen jungen Freund schwieriger als sonst werden sollte, seinen Kopf für das größte Match seines bisherigen Lebens frei zu bekommen. Und als ob das alles noch nicht schlimm genug gewesen wäre, konnte Moyá nicht übersehen, dass Rafa in der vergangenen Woche im Training zwar einen hervorragenden Eindruck machte, aber erst 14 Tage zuvor gegen einen Spieler verloren hatte, der in der Weltrangliste Platz 400 einnahm. Und sein Aufschlag war auffallend schwächer als Roddicks, der um nahezu 50 Prozent schneller war.

Aber es gab für Moyá durchaus auch gute Gründe, an seinen jungen Teamkameraden zu glauben. Er kannte Rafa seit dessen 12. Lebensjahr, hatte unzählige Male mit ihm trainiert und zwei Jahre zuvor bei einem wichtigen Turnier gegen ihn verloren. Kein Spitzenspieler stand Rafa näher und keiner sollte auch zukünftig mit ihm auf vertrauterem Fuß stehen als sein mallorquinischer Landsmann. Moyá, der zehn Jahre älter war als Nadal und 1999 Pete Sampras für kurze Zeit den Spitzenplatz in der Weltrangliste abgejagt hatte, kannte dessen besondere Qualitäten. Aber wie herausragend sie waren, sollte er erst erfahren, als der junge Bursche vor 27 000 Zuschauern auf den Tennisplatz in dem umgebauten Leichtathletikstadion ging und unter höchstem Druck vier aufreibende, emotional aufgeladene Sätze gegen die Nummer zwei der Weltrangliste spielte.

»Auf Mallorca redeten die Leute schon über Rafa, als er sechs oder sieben Jahre alt war«, erzählt Moyá, »auch wenn man sich anfangs fragen musste, ob es nicht eher daran lag, dass sein Onkel Miguel Ángel die Fußballlegende der Insel war. Aber die Tenniswelt ist klein – mein Trainer, Jofre Porta, trainierte ihn zeitweise ebenfalls –, und nachdem er mit acht Jahren die U12Meisterschaft Mallorcas gewonnen hatte, wurde allmählich immer mehr über ihn geredet. Ich erinnere mich, dass Jofre zu mir sagte: ›Der wird mal gut.‹ Mit zwölf Jahren gehörte er bereits zu den Weltbesten seiner Altersgruppe. Damals begegnete ich ihm zum ersten Mal.«

Diese Begegnung fand in Stuttgart statt. Moyá spielte in einem ATP-Turnier, Nadal in einem Juniorenturnier. »Jemand von Nike, der den guten Riecher hatte, ihn unter Vertrag zu nehmen, bat mich, zum Aufwärmen mit ihm zu spielen. Ich spielte etwa eine Stunde mit ihm. Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht den Eindruck, dass er talentierter war als andere Spieler seines Alters. Es fiel mir nur auf, dass er äußerst kämpferisch war, aber überraschender fand ich seine unglaubliche Schüchternheit. Als wir uns zur Begrüßung die Hand reichten, schaute er mich nicht einmal an und brachte kaum einen Ton heraus. Wahrscheinlich war er ein bisschen zu sehr eingeschüchtert, weil ich in den Medien einiges Aufsehen erregt hatte, als ich es in dem Jahr als Ungesetzter bis ins Finale der Australian Open geschafft hatte. Aber der Kontrast war dennoch auffallend – sogar erschreckend – zwischen dem schüchternen kleinen Jungen abseits des Platzes und dem superkämpferischen Burschen auf dem Platz, obwohl wir uns nur einschlugen und nicht mal um Punkte spielten.«

Als Nadal 14 Jahre alt war und Moyá mittlerweile sein einziges Grand-Slam-Turnier, die French Open, gewonnen hatte, fingen die beiden an, dreimal wöchentlich gemeinsam zu trainieren. »Manchmal sagen Leute zu mir: ›Du hast Rafa viel geholfen, nicht wahr?‹ Das mag schon sein, aber er hat mir ebenfalls viel gegeben. Diese Trainingsstunden waren auch für mich wertvoll. Er war bereits gut genug, mich erheblich unter Druck zu setzen, obwohl ich mich damals schon unter den Top Ten der Weltrangliste etabliert hatte. Wir spielten Sätze gegeneinander, und da ich nicht gegen einen 14jährigen verlieren wollte, half er mir, meinen Vorsprung zu halten. Ich glaube sogar, er half mir, ein besserer Spieler zu werden.«

Offensichtlicher war der Nutzen in umgekehrter Richtung: Wenn überhaupt, so hatten nur wenige aufstrebende Profitennisspieler in der Geschichte dieses Sports das Glück, mit 14 Jahren regelmäßig mit einem Spieler trainieren zu können, der ein Grand-Slam-Turnier gewonnen hatte und häufig gegen Tennisgrößen wie Pete Sampras und Andre Agassi antrat. Auch in dieser Hinsicht standen die Sterne günstig für den jungen Mann, der davon träumte, ein Champion zu werden.

Rafa Nadal hatte das Glück, einen Onkel zu haben, der seine eigenen Tennisträume zwar nicht hatte verwirklichen können, sich aber mit Leib und Seele der Aufgabe widmete, einen Tennisspieler aufzubauen, der mental und körperlich an der Spitze mithalten konnte. Die restliche Familie sorgte mit ihrer Warmherzigkeit, ihrer Liebe und ihrem bemerkenswerten Zusammenhalt für ein Gegengewicht zur strengen Disziplin des Onkels. Bei seinem Onkel Miguel Ángel, einem Fußballstar, erlebte er aus nächster Nähe, wie wichtig es war, hart zu trainieren und auf sein Ziel fokussiert zu bleiben, so viel Beifall man auch bekommen mochte. Und dann gab es Carlos Moyá. In New York, London oder Madrid hätte ein angehender Profitennisspieler nicht einmal davon träumen können, einen Mentor, Vertrauten und Trainingspartner von solchem Format und solcher Großzügigkeit zu finden, aber in der abgeschiedenen Tenniswelt einer kleinen Insel wie Mallorca, deren Einwohner von Natur aus zusammenhalten, war so etwas durchaus möglich.

Moyá, der Wohnungen in Miami und Madrid besitzt und wesentlich kosmopolitischer eingestellt ist als Nadal, machte den Jungen aus Manacor zu seinem Lieblingsprojekt. Nadals Eltern sprechen überschwänglich über Moyá und erklären, dass ein weniger gefestigter Charakter vor dem aufstrebenden jungen Spieler davongelaufen wäre, und zwar umso schneller, je bedrohlicher er für dessen Position wurde. Aber mit dem zunehmendem Erfolg Nadals – der Moyá nach und nach als Tenniskönig von Mallorca, Spanien und der gesamten Tenniswelt ablöste – wurde die Beziehung zwischen den beiden immer herzlicher. Bis heute schätzt Nadal ihn als den klugen, wohlwollenden großen Bruder, den er nie hatte. Nach wie vor ist Moyá für ihn in einem Maße enger Vertrauter und Berater wie kein anderer außerhalb seiner Familie, vielleicht mit Ausnahme seines Physiotherapeuten und de facto Psychologen, den er Titín nennt.

»Anfangs gefiel mir der Gedanke, einem Jungen bei der Verwirklichung seines Traums zu helfen, und die Vorstellung, ein Spiegel zu sein, in dem er sich selbst sehen könnte, motivierte mich«, erklärt Moyá. Allerdings, so räumt er ein, dauerte es nicht allzu lange, bis Nadal ihn motivierte. »Ich sah allein an der Intensität, mit der er trainierte, dass er ungemein ehrgeizig war und sich unbedingt verbessern wollte. Er schlug jeden Ball, als hinge sein Leben davon ab. So etwas hatte ich noch nie erlebt, nicht mal annähernd. Wenn man ihn mit anderen Jungen seines Alters verglich, war er schon genauso wie heute, wo er einer der Größten des Tenniszirkus ist. Sicher, in dem Alter kann man sich nie sicher sein, was passiert. Die Welt ist voller Sportler und Sportlerinnen, die mit 14 Jahren den Eindruck machen, sie könnten die ganze Welt besiegen, und dann wegen irgendwelcher Lebensumstände oder einer verborgenen Charakterschwäche spurlos von der Bildfläche verschwinden. Bei Rafa stand fest, dass er etwas Besonderes hatte.«

Zudem besaß er eine erstaunliche Kühnheit, die sein zurückhaltendes Benehmen abseits des Tennisplatzes Lügen strafte. »Mit 15 fing er an, die Futures-Turniere, die ATP-Nachwuchsturniere, zu spielen«, erzählt Moyá, »und trat teils gegen Spieler an, die zehn Jahre älter waren als er. Anfangs hatte ich Sorge, dass die unvermeidlichen – und häufigen – Niederlagen einen Jungen, der es gewohnt war zu gewinnen, um sein Selbstvertrauen bringen könnten. Das war eine Gefahr. Aber wieder einmal hatte ich ihn unterschätzt. Innerhalb von fünf Monaten fing er an, Matchs zu gewinnen, nach acht oder neun Turnieren.«

Moyá wundert sich über das Tempo, mit der Nadal die normalen Stadien der Entwicklung eines Tennisspielers durchlief. »Als ich 15 war, spielte ich im Sommer Turniere auf Mallorca und ging im Winter zur Schule. Das war mein Limit. Hätte ich damals Futures-Turniere gespielt, hätte ich jedes Mal 0:6, 0:6 verloren. So fing ich mit 17 an und erlebte es dann.«

»Nach einem Jahr stieg er mit 16 von den Futures zu den Challenger-Turnieren auf, eine Stufe unter der ATP World Tour«, erzählt Moyá. »Anfangs war es nicht einfach für ihn. Er spielte auf Hartplätzen in der Halle, dem schnellsten Belag, den es gibt – im Tennis unendlich weit von den Sandplätzen im feuchtwarmen Klima entfernt, in dem er aufgewachsen ist. Wir Spanier tun uns normalerweise auf solchen Plätzen schwer, und anfangs hatte auch er darunter zu leiden. Häufig treten spanische Spieler dort gar nicht erst an, weil sie aus Erfahrung wissen, dass sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bereits in der ersten Runde ausscheiden werden.

Als wir erstmals in einem Turnier gegeneinander spielten, war er 16 und ich 26. Es war in Hamburg bei einem großen ATP-Turnier Anfang 2003. Die zahlreichen Trainingsspiele, die wir in den vorangegangenen zwei Jahren gegeneinander gespielt hatten, hatte ich fast ausnahmslos gewonnen. Ich würde sogar sagen, wenn ich wirklich gewinnen wollte, gewann ich auch. Was nicht überrascht. Aber hier war ich sehr nervös. Ich fühlte mich unglaublich unter Druck. Ich war in den Top Ten, er war ein Kind, sicher ein kommender Star, aber er stand auf Platz 300 der Weltrangliste oder so. Eine Niederlage wäre für mich peinlich gewesen, und diesen Druck spürte ich deutlich.

Es war ein Abendspiel, und es war kalt. Mir machte die Kälte zu schaffen, ihm offenbar nicht. Er wirkte schon heiß, bevor wir auch nur den ersten Ballwechsel gespielt hatten. Eigentlich spielte er nicht in Bestform. Ich auch nicht. Aber er besiegte mich in zwei Sätzen. Es war ein so klarer Fall, dass ein Spieler durch überlegene mentale Stärke siegte, wie man ihn nur finden kann. Auf dem Circuit sah man andere Jugendliche im Alter von 16 Jahren, die nicht so gut waren wie er, sich aber auf dem Platz viel chaotischer verhielten und über den geringsten Rückschlag in Wut gerieten. Was ich an jenem Tag auf der anderen Seite des Netzes erlebte, war ein wirklich talentierter Spieler, der aber vor allem in seiner Konzentration, Professionalität und Fokussierung auf einem anderen Niveau war als ich. Einer, dessen schwaches Spiel zehnmal stärker war als das schwache Spiel irgendeines vergleichbaren Spielers. Und man darf nicht vergessen – ich sage das nur, um zu zeigen, wie bemerkenswert es war –, dass ich damals bereits ein Grand-Slam-Turnier gewonnen und im Finale der Australian Open gestanden hatte.

Nach dem Match umarmten wir uns am Netz, und er sagte: ›Es tut mir leid.‹ Das hätte er nicht zu sagen brauchen. Ich nahm die Niederlage gelassener, als ich vorher gedacht hätte. Mir war klar, dass es nur die erste von vielen Niederlagen war; dass Rafa die Zukunft gehörte, während ich zwar noch lange nicht am Ende, aber doch am Beginn meines Abstiegs war.«

Als der eine im Laufe der Jahre aufstieg und der andere abstieg, bemerkte Moyá zunehmend, welche einschüchternde Wirkung Nadal auf andere Spieler hatte. »Ich glaube nicht, dass er es jemals zugeben würde, und ich habe ihn nie danach gefragt, aber ich bin überzeugt, dass er seine Rivalen bewusst einschüchtert«, erklärt Moyá. »Privat ist er komplexer und verletzlicher, als er öffentlich erkennen lässt, aber seine Wirkung auf seine Gegner ist ganz und gar nicht komplex. Sie sind einfach nur von ihm eingeschüchtert. Seine Rituale sind an sich schon eine Schau. So etwas erlebt man bei keinem anderen Spieler. Und was seine körperliche Vorbereitung betrifft, so geht er praktisch schon schwitzend auf den Platz, was ich nie geschafft habe, aber es ist die ideale Verfassung, ein Match zu beginnen.«

Rafas Agent Carlos Costa, selbst ein ehemaliger Profispieler, ist mit Moyá einer Meinung, dass es etwas Beängstigendes hat, gegen Nadal anzutreten. Seiner Ansicht nach wirkt er auf seine Rivalen wie Tiger Woods zu seinen besten Zeiten auf die übrigen Profigolfer, nämlich wie ein dominantes Alphamännchen auf die restliche Horde. »Gegen Ende meiner Karriere trat ich bei einem Turnier gegen ihn an«, erzählt Costa, »ja, während des Matchs kam ein Punkt, an dem du Angst bekamst. Du wusstest, dass du einem geborenen Sieger gegenüberstandest. Rafael ist mental stärker als alle anderen; er ist aus einem besonderen Holz geschnitzt.«

Zudem besitzt er Charisma. Moyá, zu seiner Zeit ein großer Star, war Spaniens erster Tennisspieler, der auf Platz eins der Weltrangliste landete. Aber lange bevor Nadal es auf Platz zwei schaffte, übertraf er Moyá in seinem Heimatland und darüber hinaus an Popularität. Moyá sah in klassischem Sinne gut aus (die Zeitschrift People führte ihn im Mai 1999 in der Liste der »50 schönsten Menschen der Welt«), aber mit Nadals elementaren Reizen konnte er es nicht aufnehmen: Moyá war der elegantere Spieler mit dem kraftvolleren Aufschlag, aber Nadals wilde Kampfstärke besaß mehr Verführungskraft. Er sprach das Publikum auf eine Weise an, wie Moyá es nie konnte.

Moyá akzeptiert das in aller Gelassenheit, denn er weiß, dass er nicht in derselben Liga ist und war wie Nadal. Das gilt zwar nicht für das Talent, wohl aber für die Einstellung. »Rafas Kopf unterscheidet ihn vom Rest der Spieler. Auf dem Platz wird das nicht nur für den Rivalen deutlich, sondern auch für das Fernsehpublikum. Es ist unsichtbar, aber man spürt es. Seine Rückhand, seine Vorhand: die haben andere auch. Selbstverständlich hat er Talent. Ich glaube, ihm ist gar nicht klar, wie viel Talent er hat, denn er hat eine Tendenz, sich zu unterschätzen. Aber was das Mentale angeht, ist er nicht von dieser Welt. Ich kenne viele Spitzensportler, nicht nur im Tennis, und keiner hat das, was er hat – vielleicht mit Ausnahme von Tiger Woods oder Michael Jordan. Bei den entscheidenden Punkten ist er ein Killer, seine Konzentration ist absolut, und er besitzt etwas, was ich nie hatte, einen grenzenlosen Ehrgeiz. Als ich einen Grand Slam gewann, war ich glücklich: Mein Lebenswerk war vollbracht. Rafa muss immer mehr gewinnen und wird nie genug haben.

Bei jedem Ballwechsel treibt ihn derselbe Hunger. In einem Satz lag ich beispielsweise 5:0 in Führung, und meine Gedanken schweiften ab; ich verschenkte ein Spiel, zwei. Rafa niemals. Er verschenkt nichts; er vermittelt seinen Rivalen die niederschmetternde Botschaft, dass er alles in seiner Macht Stehende tun wird, sie 6:0, 6:0 zu schlagen.«

Nach Moyás Ansicht ist das jedoch noch nicht alles, denn die Sache ist vielschichtiger und komplexer. Nadal hat eine Schwäche, die nach Moyás Einschätzung mit dem Zwiespalt zwischen seiner sensiblen, unsicheren Seite im Privatleben und dem sportlichen Rammbock zusammenhängt, den die Welt sieht. Demnach schüttelt Nadal auch auf dem Tennisplatz seine Clark-Kent-Anteile nicht ganz ab. So bewusst er die Verwandlung in Superman auch anstrebt und so überzeugend sie auch wirkt, gelingt sie ihm doch nicht vollständig. Moyá meint dazu: »Auf dem Platz ist er vorsichtiger, als man vielleicht denkt. Schon immer hatte er Sorge um seinen zweiten Aufschlag, deshalb schlägt er den ersten Aufschlag nicht so hart, wie er es bei seiner kräftigen Statur könnte. Dieselbe Vorsicht ist in seinem offenen Spiel festzustellen. Ich habe Tausende Male mit ihm auf dem Platz trainiert, und wenn ich ihn in einem Match sehe, bin ich immer wieder verblüfft, dass er im Training viel aggressiver ist und erheblich mehr Winner schlägt. Schon oft habe ich ihm gesagt: ›Warum lässt du nicht lockerer? Warum gehst du nicht stärker in den Platz und greifst mehr an, zumindest in den ersten Turnierrunden, in denen du häufig gegen Spieler antrittst, die du mit geschlossenen Augen schlagen könntest?‹ Aber das macht er nicht oder zumindest nicht so oft, wie er sollte. Vielleicht liegt es zum Teil an seiner Weigerung zu glauben, wie gut er wirklich ist.«

Moyá ist überzeugt, dass Nadal sein Kämpfer-Image weniger seinem aggressiven Angriff als seiner unbeirrbaren Abwehrstärke verdankt. Er spielt im Geiste von Alamo. Es ist ein Gefühl, das sich dem Publikum mitteilt, welches so den Eindruck gewinnt, er sei in der Rolle des herausfordernden Underdogs, ganz gleich, auf welchem Weltranglistenplatz er gerade steht. Nach Moyás Ansicht würde man Federer nie als Gladiator sehen, weil er kein Kämpfer ist; er kämpft nicht um sein Leben wie Nadal es scheinbar ständig tut. Federers Markenzeichen ist seine tödliche Präzision.

Dass sich Nadal als ein so unverwüstlicher Champion herauskristallisiert hat, ist aus Moyás Sicht umso mehr zu würdigen, als er auf dem Weg dorthin manche Widerstände und Ängste zu überwinden hatte. Das erklärt zum Teil seine fesselnde Ausstrahlung auf dem Platz. Mit einem kämpfenden Underdog können sich andere leichter identifizieren als mit einem scheinbar mühelos überlegenen Performer, weil er menschlicher wirkt. In einem mit Schwächen behafteten Nadal finden sich deutlich mehr Menschen wieder als im olympischen Federer. Es wären sicher weniger, wenn er mehr Ähnlichkeit mit jenem Tennischampion hätte, mit dem er mitunter verglichen wird: Björn Borg; oder wenn er sich auf dem Platz so unbändig wild benähme wie John McEnroe. Moyá sieht in Nadal eine Kreuzung dieser beiden Spieler, die als die schärfsten Rivalen der Tennisgeschichte galten, bis Nadal und Federer auftauchten. Borg war reinstes Eis, McEnroe schieres Feuer. »Das Geheimnis seiner weltweiten Beliebtheit ist, dass er sichtbar ebenso leidenschaftlich ist wie McEnroe, aber die Selbstbeherrschung Borgs, des kaltblütigen Killers, besitzt«, meint Moyá. »Beides in sich zu vereinen ist eigentlich ein Widerspruch, und das macht Rafa aus.«