DER

VERHINDERTE

FUSSBALLSTAR

 

 

KAPITEL 3

Federer schlug auf und gewann das erste Spiel des zweiten Satzes ohne Punktverlust. Hätte es nach dem Gewinn des ersten Satzes im hintersten Winkel meines Kopfes auch nur den kleinsten Anflug von Selbstgefälligkeit gegeben, wäre er damit zunichte gemacht worden. Mit seiner täuschenden Leichtigkeit donnerte er vier gute Aufschläge heraus, auf die ich keinerlei Antwort hatte. Spätestens jetzt war klar, dass es keine Wiederholung des French-Open-Finales geben würde, bei dem er insgesamt nur vier Spiele gewonnen und ich den letzten Satz mit 6:0 geholt hatte. Er kämpfte verbissen. Sollte er an diesem Tag gewinnen, würde er zum sechsten Mal in Folge den Wimbledon-Titel holen, eine Meisterleistung, die noch niemandem gelungen war. Er hatte bereits so viel gewonnen und dominierte den Tennissport schon so lange, dass ein Teil von ihm »für die Geschichte« spielte, wie er einmal sagte. Dieses Match zu gewinnen bedeutete ihm ebenso viel wie mir; eine Niederlage hätten wir beide als gleich schmerzlich empfunden.

Beim zweiten Spiel, bei dem ich den Aufschlag hatte, war er aggressiver, als ich ihn je erlebt hatte. Normalerweise war er auf dem Platz gelassener als ich, aber nun gewann er die ersten beiden Punkte mit sensationellen Vorhandbällen an der Linie entlang beziehungsweise diagonal über den Platz und reagierte bei jedem mit einem wütenden Schrei. Er schaffte das Break, gewann das Spiel und putzte mich einfach weg. Wenn Federer diese brillanten Phasen hat, kann man nur versuchen, ruhig zu bleiben und abzuwarten, bis der Sturm vorüberzieht. Wenn der beste Tennisspieler der Geschichte den Ball so groß sieht wie einen Fußball und ihn mit Kraft, Selbstvertrauen und Treffgenauigkeit schlägt, kann man nicht viel tun. Das passiert, darauf muss man sich einstellen. Man darf sich nicht demoralisieren lassen, sondern muss sich in Erinnerung rufen – oder einreden –, dass er unmöglich ein Spiel nach dem anderen auf diesem Niveau halten kann, dass auch er nur ein Mensch ist – wie Toni meint, mich immer wieder erinnern zu müssen – und dass seine Hochphase früher oder später enden muss, wenn man nur einen kühlen Kopf bewahrt, an seiner Spielstrategie festhält und weiter versucht, ihn müde zu machen. Seine intensive mentale Fokussierung wird nachlassen, und dann bekommst man seine Chance. Dieses Mal sollte diese Wende allerdings eher später als früher eintreten. Er gewann erneut mühelos seinen Aufschlag. Ich schaffte es knapp, meinen Aufschlag durchzubringen, und wieder gewann er den seinen. Innerhalb von gefühlten fünf Minuten Spielzeit, wie es mir vorkam, führte er 4:1. Mein gewonnener erster Satz schien lange, lange zurückzuliegen.

Aber ich hatte eine lange, lange Anzahl von Matchs hinter mir, in denen ich schlimmere Rückstände aufgeholt hatte. Ich besaß genügend Erfahrung, damit umzugehen. Es gibt zwar nichts Größeres als ein Wimbledonfinale, aber die Nervosität, die man während eines Matchs, irgendeines beliebigen Matchs, verspüren kann, hat ebenso ihre Grenzen wie die Bedeutung, die ein Sieg haben kann. Die Spannung und Euphorie sind ebenso groß, ob man nun als Kind ein Fußballspiel bestreitet, wenn die Träume nicht über den Balearen-Pokal im Juniorenfußball hinausreichen, oder im Tennis die spanische U12-Meisterschaft gewinnt. Das habe ich nie vergessen. An dem Abend, als ich mit elf Jahren dieses Turnier gewonnen hatte, waren wir alle sehr glücklich, aber wie üblich verdarb Toni die Feier, weil er seinen Drang, mich auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, nicht zurückhalten konnte. Er rief beim spanischen Tennisverband an, gab sich als Journalist aus und fragte nach der Liste der letzten 25 Titelgewinner. Im Beisein meiner übrigen Familie las er die Namen vor und fragte mich, ob ich jemals von einem von ihnen gehört hätte. Soundso, kennst du den? Nein. Diesen Jungen? Nein. Und diesen? Nein. Nur fünf hatten als Profis eine gewisse Bekanntheit erlangt und sagten mir etwas. Toni triumphierte. »Siehst du? Deine Chancen, es als Profi zu schaffen, stehen eins zu fünf. Also, Rafael, lass dir den heutigen Sieg nicht allzu sehr zu Kopf steigen. Du hast immer noch einen langen, harten Weg vor dir. Es hängt alles nur von dir ab.«

Ganz allein von mir hing es auch ab, ob mir das Tennisspielen wichtig genug war, um den Fußball aufzugeben. Es war eine der schwersten Entscheidungen, die ich treffen musste, auch wenn letztlich die Umstände für mich entschieden.

Mittlerweile trainierte ich fünf Mal in der Woche, reiste zu Tennisturnieren ins Ausland und spielte in Europa gegen einige der weltbesten Jungen meiner Altersgruppe. Außerdem trainierte ich während der Woche aber auch mit meiner Fußballmannschaft und nahm an Wochenenden an Turnierspielen teil. Und zu alledem musste ich noch für die Schule lernen, worauf meine Mutter achtete. Irgendetwas musste ich aufgeben, aber ich wollte nicht auf den Fußball verzichten. Schon die Vorstellung brach mir das Herz. Am Ende blieb mir aber kaum etwas anderes übrig. Mir und meinen Eltern war klar, dass ich nicht alles machen konnte. Mein Kummer wäre noch größer gewesen, wenn nicht ein neuer Trainer unsere Fußballmannschaft übernommen hätte. Der frühere Trainer, den ich sehr mochte, hatte viel Verständnis dafür aufgebracht, dass ich nicht regelmäßig zum Training kommen konnte, ließ mich aber trotzdem gern weiterspielen, weil ich der beste Torschütze der Mannschaft war. Der neue Trainer war da anders. Er erklärte, wenn ich nicht wie alle anderen Jungen zum Training erschiene, dürfe ich nicht spielen. Wenn ich auch nur ein Training in der Woche ausließe, werfe er mich aus der Mannschaft. Das war’s dann. Ohne diesen Trainer wäre mein Leben vielleicht anders verlaufen. Mein Vater vermutet, dass ich ein guter Profifußballer hätte werden können. Wie er sagt, trainierte ich beim Fußball härter als alle anderen Jungen. Zudem hatte ich das unerschütterliche Vertrauen – oder den Irrglauben –, dass meine Mannschaft Spiele gegen jede Wahrscheinlichkeit gewinnen könne.

Dennoch glaube ich, dass mein Vater meine Fußballtalente überschätzt hat. Ich war gut, aber nicht sonderlich herausragend. Tennis war der Sport, in dem ich glänzte, obwohl Fußball mir ebenso viel oder vielleicht sogar noch mehr Spaß machte. Im Fußball gehörte ich zwar zu der Mannschaft, die die Balearen-Meisterschaft gewann, aber im Tennis war ich spanischer U12-Meister und stand im selben Jahr im Finale der spanischen U14-Meisterschaft. In der Fußballmannschaft war ich ein Jahr jünger als meine Mannschaftskameraden, im Tennis häufig sogar zwei – manchmal drei – Jahre jünger als meine Gegner.

Eine Entscheidung war fällig, und die Indizien waren unstrittig. Es musste Tennis sein. Ich bedaure es nicht, denn es war die richtige Wahl, und ich gehöre nicht zu den Menschen, die gern über Dinge lamentieren, die nicht zu ändern sind. Schon damals begriff ich das, glaube ich, recht gut. Auf YouTube ist ein Fernsehinterview von mir zu sehen, das ich als 12-Jähriger bei der spanischen U14-Meisterschaft gab. Nachdem ich erklärt hatte, dass ich täglich von 16 bis 20 Uhr trainieren würde, sagte ich: »Ich spiele gern Fußball, aber das ist nur zum Spaß.« Damals war ich kaum 12 Jahre alt und machte schon Karriere.

Toni ließ nicht locker. Er kannte keine Gnade. Mit 13 Jahren kam ich eines Tages nach dem Training in Manacor auf die saudumme Idee, über das Netz zu springen, mit verheerenden Folgen. Von Natur aus bin ich nicht sonderlich gut koordiniert. Auf dem Tennisplatz habe ich meinen Rhythmus gefunden, weil ich daran gearbeitet habe. Aber in der Familie gelte ich als ungeschickt. Meine Patentante Marilén erinnert sich noch gut an Fahrradtouren, die unsere Familie sonntagmorgens unternahm, als ich noch ein Kind war. Ich mochte nie mitfahren, weil ich mich auf dem Fahrrad unwohl fühlte. Ebenso auf einem Motorrad. In der Osthälfte Mallorcas, wo ich lebe, sind Fahrräder und Motorräder beliebte Transportmittel, weil dieser Landstrich weitgehend flach ist, aber ich hatte immer Angst zu fallen, und konnte mich nie mit Zweirädern anfreunden. Als ich meinen Führerschein machte, rief Marilén aus: »Was für eine Gefahr für uns alle!« Ich verstand den Wink und fahre seitdem vorsichtig.

Mein Patenonkel Juan ist überzeugt, dass ich meine Ungeschicklichkeit von meiner Mutter geerbt habe, die als Kind ständig fiel und alles mögliche anrempelte. Genauso erging es mir, als ich nach dem Training in Manacor über das Netz sprang. Ich stolperte, stürzte und landete mit meinem gesamten Körpergewicht auf dem Handgelenk. Es war verstaucht und blutete, was noch schlimmer war. Toni hatte kein Mitleid mit mir: »Rafael, du hast einfach nichts im Kopf!« Mein Patenonkel war damals dabei, und obwohl er mit offener Kritik an Toni sonst immer sehr vorsichtig war, konnte er sich nicht zurückhalten: »Toni, diesmal bist du zu weit gegangen.«

Mein Pate fuhr mich in die Ambulanz der Stadt, um mein Handgelenk verbinden zu lassen. Er war wütend und sagte, mein Onkel sei ein Idiot. Er habe zwar Verständnis, dass Toni mich für die bevorstehenden Wettkämpfe und alles fit machen wolle, aber nun habe er eine Grenze überschritten. Ich hatte Schmerzen und sagte nichts, aber eines war mir klarer als meinem Patenonkel: nämlich wie wichtig Toni nun für mich war, nachdem ich meinen ganzen Ehrgeiz auf das Tennis konzentriert hatte, wie unklug es wäre, innerhalb der Familie Reibereien über Toni zu schüren oder mir negative Gedanken über ihn zu erlauben, so verlockend es in diesem Moment auch sein mochte. Ich wollte im Tennis Erfolg haben, und alles, was sich dem in den Weg stellte – sei es ein fauler Sommer mit meinen Freunden oder negative Gefühle gegenüber Toni –, musste ich beiseite schieben.

Denn Toni hatte Recht, auch wenn es mich oft wütend machte, langfristig gesehen hatte er Recht. Harte Lektionen wie diejenige, die er mir an jenem Tag erteilte, befähigten mich, besser mit der Bürde aller Spitzensportler zu leben, unter Schmerzen zu spielen. Die Lektion setzte ich in die Praxis um, noch bevor ich Profispieler wurde: Als ich kurz nach diesem Sturz am Netz die spanische U14-Meisterschaft gewann, errang ich einen der denkwürdigsten Siege meines Lebens, denn ich musste damals nicht nur meinen Gegner im Endspiel schlagen, sondern auf dem gesamten Weg dorthin auch über die Schmerzgrenze gehen. Das Turnier fand in Madrid statt, und mein Gegner war einer meiner besten Freunde – und ist es bis heute –, Toméu Salva, mit dem ich gemeinsam trainierte, seit ich zwölf Jahre alt war.

In der ersten Turnierrunde fiel ich hin und brach mir den kleinen Finger der linken Hand. Ich verkniff mir aufzugeben oder mich unter Tonis wachsamem Blick zu beklagen. Im Vorjahr hatte ich das Halbfinale erreicht und war fest entschlossen, dieses Mal zu gewinnen. Also spielte ich bis zum Ende und besiegte Toméu im dritten Satz des Endspiels mit 6:4. Dabei musste ich den Schläger mit vier Fingern packen, während der gebrochene kleine Finger schlaff herunterhing. Auf ein Tapen des Fingers verzichtete ich, weil es dann schwerer geworden wäre, den Ball zu schlagen. Am schwierigsten war der Vorhand-Drive. Bei der beidhändigen Rückhand verlagert sich die Belastung stärker auf die rechte Hand. Ich spielte so lange mit Schmerzen, dass ich sie beinahe vergaß. Es ist eine Frage der Konzentration, alles außer das eigentliche Spiel aus dem Kopf zu verbannen. Dieses Prinzip galt durchgängig während meiner ganzen Karriere. Titín, der häufig erlebt hat, dass ich mich vor einem Match in furchtbarer Verfassung befand, aber nach Beginn des Spiels perfekt in Form war, ist der Ansicht, dass der Wettkampf durch das freigesetzte Adrenalin den Schmerz stillen hilft. Ganz gleich, wie es sich erklären lässt, bin ich rückblickend stolz auf den Teenager, der ich einmal war. Damals habe ich einen Maßstab für mein eigenes Durchhaltevermögen gesetzt, der mir seither als Beispiel und Mahnung dafür dient, dass man den Geist tatsächlich über die Materie stellen kann und kein Opfer zu groß ist, wenn man etwas unbedingt will.

Nachdem ich den letzten Punkt gewonnen hatte, bekam ich zu spüren, was ich in diesem Endspiel gegen Toméu geleistet hatte. Die Schmerzen waren so stark, dass ich nicht einmal den Pokal hochheben konnte. Ein Junge musste mir helfen, ihn für das Erinnerungsfoto zu halten.

Als ich etwa 14 Jahre alt war, bekam ich eine Chance, mich von Toni zu lösen. Man bot mir ein Stipendium am Hochleistungszentrum San Cugat in Barcelona an, eine der besten Tennisakademien für Profispieler in Europa, die eine halbe Flugstunde von Mallorca entfernt ist. Für mich war es eine weitere schwere Entscheidung, und ich muss zugeben, dass es mir bis heute nicht leicht fällt, Entscheidungen zu treffen. Sicher, ich kann mich in Sekundenbruchteilen auf dem Tennisplatz entscheiden, aber wenn ich über etwas nachdenken muss, fällt mir das nicht sonderlich leicht. (Daher war ich in gewisser Weise dankbar, dass der neue Trainer zwei Jahre zuvor im Fußballverein aufgetaucht war und mir die Entscheidung abgenommen hatte, auf den Sport, den ich liebte, zu verzichten und eine Tenniskarriere anzustreben.) In solchen Momenten höre ich mir gern an, was andere zu sagen haben, bevor ich die Argumente abzuwägen versuche. Ich bilde mir nicht gern eine Meinung, bevor ich nicht alle Fakten kenne. Bei dieser Entscheidung hörte ich mehr auf meine Eltern als auf Toni, und sie hatten ganz klare Ansichten. Da wir es uns aussuchen konnten und finanziell nicht auf das Stipendium angewiesen waren, meinten sie: »Er macht sich gut bei Toni, und außerdem: Wo ist ein Junge besser aufgehoben als zu Hause?« Ganz abgesehen vom Tennis, befürchteten sie vor allem, dass ich allein und ohne Familie in Barcelona den Halt verlieren könnte. Sie wollten nicht, dass aus mir ein problematischer Jugendlicher würde. Das zu verhindern war ihnen wichtiger als eine erfolgreiche Tenniskarriere.

Ich war froh, dass meine Eltern sich so entschieden, denn im tiefsten Inneren wollte ich auch nicht von zu Hause fort; rückblickend ist meine Freude darüber sogar noch größer. So sehr Toni mir auch manchmal auf die Nerven ging (damals hatte er die Angewohnheit, mich für 9 Uhr morgens zum Training zu bestellen, aber nicht vor 10 Uhr zu kommen), war mir doch klar, dass ich mit ihm auf einem guten Weg war. Einen besseren Trainer oder Berater würde ich nicht finden.

In Barcelona wäre mir der Erfolg vielleicht zu Kopf gestiegen, bei Toni und meiner Familie konnte das nicht passieren, da sie alle sich verbündet hatten, mich mit beiden Füßen auf dem Boden zu halten – auch meine jüngere Schwester Maribel. In diesem Zusammenhang fällt mir ein Juniorturnier in der französischen Stadt Tarbes ein, Les Petits As (Die kleinen Asse), das als Weltmeisterschaft dieser Altersgruppe gilt. Ich war damals 14 Jahre alt. Es lockt Besucher in Scharen an, weil die Leute glauben, dort einige zukünftige Stars zu Gesicht zu bekommen. In jenem Jahr gewann ich das Turnier und erhielt einen ersten Vorgeschmack auf das, was mir bevorstand, als gleichaltrige und ältere Mädchen zu mir kamen und mich um ein Autogramm baten. Als meine Eltern es sahen, waren sie amüsiert, aber auch leicht beunruhigt. Mein Vater brachte Maribel, die damals neun Jahre alt war, dazu, sich zu den Mädchen in die Schlange zu stellen; als sie an die Reihe kam, fragte sie zuckersüß: »Herr Nadal, kann ich bitte ein Autogramm haben?« Meine Eltern schauten aus einigem Abstand zu und lachten beifällig. Andere mochten ungeheuer beeindruckt von mir sein, aber nicht meine Familie.

Im selben Jahr reiste ich nach Südafrika, weiter, als ich je zuvor von zu Hause fort war. Da ich einige von Nike gesponserte Turniere in Spanien gewonnen hatte, qualifizierte ich mich für ein großes Masters in Südafrika, das Nike Junior Tour International, an dem die Sieger der Turniere aus allen Teilnehmerländern gegeneinander antraten. Toni war sich nicht sicher, ob ich hinfahren sollte. Wie üblich wollte er nicht, dass ich mir falsche Vorstellungen über mich machte. Aber was meine Vorbereitung auf das Wanderleben eines Tennisprofis anging, hielt er es durchaus für sinnvoll, mich in einem fernen Land gegen einige der besten ausländischen Spieler meiner Altersgruppe antreten zu lassen. Während Toni noch zauderte (er hat zwar klare Ansichten, tut sich mit Entscheidungen jedoch noch schwerer als ich), hatte mein Vater keinerlei Bedenken. Er rief Jofre Porta an, einen anderen Trainer, mit dem ich manchmal in Palma arbeitete, und fragte ihn, ob er mit mir nach Südafrika fahren wolle. Jofre sagte zu, und noch am selben Abend flogen wir über Madrid mit einem Nachtflug nach Johannesburg. Toni machte den Eindruck, als sei er nicht sonderlich erfreut, aber angesichts seiner Flugangst war er vermutlich sogar erleichtert, dass ihm der zwölfstündige Flug erspart blieb.

Meine Erinnerungen an das Turnier sind weniger die eines Tennisspielers als die eines aufgeregten Kindes auf seiner ersten Reise nach Afrika. Es fand in Sun City statt, einem erstaunlich extravaganten Komplex mitten im afrikanischen Busch mit gigantischen Swimmingpools, Wasserfällen und sogar einem künstlichen Strand. In der Umgebung gab es Löwen und Elefanten, und es war aufregend, diesen wilden Tieren nahe, aber nicht zu nahe zu sein. Man brachte uns an eine Stelle, an der wir weiße Löwenbabys halten und streicheln konnten, was ich aber nicht tat. Tiere machen mir ein unbehagliches Gefühl, selbst Hunde. Ich weiß nie, was sie im Schilde führen. Aber Südafrika ist mir als spannende Reise in Erinnerung geblieben, auf der ich zudem noch ein Tennisturnier gewann. Wie kindlich und unprofessionell ich trotz des stundenlangen harten Trainings und Tonis gutem Zureden geblieben war, zeigte sich am Morgen vor dem Endspiel, als ich zwei Stunden Fußball spielte. Die Veranstalter waren empört, so als ob ich ihr Turnier nicht ernst genug nähme, und forderten Jofre auf, er solle dafür sorgen, dass ich mit dem Fußballspielen aufhöre. Aber das tat er nicht. In dem sicheren Wissen, dass meine Eltern seiner Ansicht waren, erklärte er den Veranstaltern, wenn es keinen Spaß mache, für ein Tennisturnier um die halbe Welt zu reisen, würde irgendwann der Punkt kommen, an dem ich meine Tennisbegeisterung verlieren würde.

Nach meiner Heimkehr aus Südafrika erfuhr ich, dass meine Patentante bei meinen Großeltern eine Party zur Feier meines Turniersiegs organisiert hatte. Sie hatte sogar ein Banner aufgehängt, das ich allerdings nie zu sehen bekam. Denn als Toni Wind davon bekam, riss er das Banner wütend von der Wand und schaffte es fort. Obwohl die Aufschrift auf dem Banner von meiner Patentante als Scherz, fast schon als Hänselei gemeint war – meinen Sieg feierte, ihn zugleich aber auch klein machte –, fand Toni es ganz und gar nicht komisch. Er fing mich bei meinen Großeltern an der Haustür ab und sagte: »Du kannst sofort wieder nach Hause gehen. Ich komme nach, sobald ich deiner Patentante und deinen Großeltern die Meinung gesagt habe.« Was er ihnen genau sagte, weiß ich nicht, aber wie meine Patentante mir später erzählte, ging es in die Richtung: »Seid ihr verrückt? Was macht ihr mit Rafael? Ihr werdet ihn noch ruinieren. Messt dem, was er tut, nicht so große Bedeutung bei!«

Dabei ließ Toni es jedoch nicht bewenden. Er kam am selben Abend zu mir nach Hause und sagte: »Gut, wir dürfen keine Zeit verschwenden. Wir treffen uns morgen früh um neun unten, dann fahren wir zum Training nach Palma.« Verdutzt rebellierte ich: »Toni, weißt du eigentlich, was du da von mir verlangst?« Er antwortete: »Was verlange ich denn? Doch nur, dass du um neun zum Training kommst. Ich warte auf dich. Lass mich ja nicht heraufkommen müssen.« Ich ärgerte mich und hatte wieder einmal das altbekannte Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. »Ist das dein Ernst? Wenn ja, bist du verrückt. Findest du es fair, dass du nach 14 oder 15 Stunden Flug nicht mal ein einziges Training für mich ausfallen lässt?« Er sagte nur: »Wir treffen uns dann um neun.« »Also ich werde nicht da sein«, antwortete ich. Aber ich war da, unzufrieden, mürrisch und schlechter Laune, aber pünktlich um neun.

Er hatte Recht, und das war mir trotz meiner Empörung im tiefsten Inneren auch klar. Wieder einmal ging es ihm darum, bereits im Ansatz zu verhindern, dass ich mir meine Erfolge zu Kopf steigen ließ und glaubte, sie seien ein Grund zu feiern oder das Training ausfallen zu lassen. Meine Eltern sind feierfreudiger als Toni, nicht solche Partymuffel, aber in dieser Hinsicht waren sie mit ihm einer Meinung. Wenn ein Onkel oder eine Tante mir zu einem Sieg gratulierte, kam von meiner Mutter unweigerlich die Reaktion: »Ach komm, das ist doch keine große Sache.«

Meine Mutter investierte ihre Energie und Motivation in Bereiche, in denen ich weniger stark war, also etwa in meine Schulbildung. Nachdem meine Eltern mich vor Barcelona bewahrt hatten, beschlossen sie, dass ich mit 15 Jahren ein Sportinternat in Palma besuchen sollte, so wie mein Vater und Toni es getan hatten. Die Balearen-Sportschule war geradezu auf meine Bedürfnisse zugeschnitten – sie bot Schulunterricht und viel Tennis – und lag nur eine Autostunde von meiner Heimatstadt entfernt. Aber ich fühlte mich dort elend. Meine Eltern, vor allem meine Mutter, machten sich Sorgen, dass das viele Tennisspielen mich am Lernen hindern würde. Ich dagegen war besorgt, dass die Schule meine Tenniskarriere vereiteln könnte. Sie machte meine Chancen zunichte, am Wimbledon Junior Tournament und auch am Roland-Garros-Juniorenturnier teilzunehmen. »Aber diese Turniere sind so wichtig«, beschwerte ich mich bei meiner Mutter. »Ja, sicher, aber ich versichere dir, dass du wieder eine Chance bekommen wirst, an diesen Wettkämpfen teilzunehmen; aber wenn du die Schule vernachlässigst, bekommst du bestimmt keine zweite Chance, deine Prüfungen zu machen«, erwiderte sie.

Das Sportinternat schien meinen Eltern die beste Möglichkeit zu bieten, dass ich beide Ziele erreichte. Ich will nicht behaupten, dass es ein großer Fehler von ihnen war, denn ich schaffte tatsächlich meine Prüfungen. Aber es war ein schreckliches Jahr. Ich war überzeugt, dass ich nichts an meinem Leben ändern brauchte oder wollte. Ich war glücklich mit dem, was ich hatte. Und plötzlich hatte ich furchtbares Heimweh, vermisste meine Eltern, meine Schwester, die Familienessen mit meinen Onkeln und Großeltern, die Fußballübertragungen im Fernsehen – sie zu verpassen brachte mich schier um – und das hausgemachte Essen. Der Stundenplan war brutal. Um 7.30 Uhr standen wir auf, hatten von 8 bis 11 Uhr Unterricht und anschließend zweieinhalb Stunden Tennis bis zum Mittagessen. Von 15 bis 18 Uhr war wieder Unterricht und von 18 bis 20 Uhr Tennis und Fitnesstraining. Und von 21 bis 23 Uhr mussten wir wieder lernen. Es war zu viel. Von den beiden Dingen, die ich machen musste, Schule und Tennis, machte ich weder das eine noch das andere gut. Das einzig Gute daran war, dass ich am Ende des Tages so erschöpft war, dass ich gut schlief. Schön war auch, dass ich an den Wochenenden nach Hause fuhr und tatsächlich meinen Schulabschluss schaffte.

Meine Mutter wollte, dass ich weiter zur Schule ging und die Hochschulreife erwarb. Als ich 16 Jahre alt war, meldete sie mich für einen Fernlehrgang an, aber mir kamen sämtliche Bücher abhanden, als ich sie auf einem Flug auf die Kanarischen Inseln im Flugzeug vergaß, und damit endete meine Schulzeit. Ich glaube nicht, dass ich die Schulbücher absichtlich liegen ließ; es lag lediglich an meiner Schusseligkeit, die so typisch für mich ist, außer im Tennis. Und ich bereue es nicht, dass ich die Chance auf ein Studium aufgegeben habe, denn Reue kenne ich nicht, punktum. Ich bin neugierig auf die Welt, ich informiere mich gern über alles, was passiert, und ich glaube, ich habe in den letzten Jahren mehr als genug über das Leben gelernt. So viel hätte mir ein Studium nie vermitteln können.

Merkwürdig ist, dass es mir im Internat wie Toni erging, der ebenfalls furchtbar unter Heimweh gelitten hatte. Mein Vater hatte dagegen nie Probleme damit. Er spielte immer mit den Karten, die das Leben ihm zuteilte. Ich bin ebenso wie Toni nicht so charakterstark wie er, aber in meinem Tennisspiel halte ich mich an das Durchhalteprinzip. Toni lieferte dazu die Theorie, mein Vater die Praxis; Toni brachte mir bei, durchzuhalten, mein Vater lieferte mir ein Vorbild, dem ich nacheifern konnte.

Seine Persönlichkeit ist der Gegenpol zu der von Toni. Toni ist ein großer Redner und Philosoph, mein Vater ein Zuhörer und Pragmatiker. Toni hat feste Ansichten, mein Vater trifft Entscheidungen, und das immer mit klarem Kopf. Toni ist unberechenbar, mein Vater ausgeglichen. Toni kann ungerecht sein, mein Vater ist gerecht. Und er ist der Macher in der Familie. Ich war Tonis Projekt, und er hat seine Sache tadellos durchgezogen. Aber mein Vater, der zwei Jahre älter ist als Toni, hat eine Firma nach der anderen aus dem Nichts aufgebaut; er ist zielstrebig, aber sein Hauptaugenmerk gilt der Familie. Er ist von Grund auf anständig und immer darauf bedacht, dem Namen der Familie keine Schande zu machen. In seinen verschiedenen Firmen beschäftigt er Dutzende Leute und hat dafür gesorgt, dass wir gut leben und Toni sich ganz mir widmen kann.

Das eine wäre ohne das andere nie möglich gewesen. Toni hat weder von mir noch von sonst jemandem aus der Familie jemals Geld bekommen für die Zeit, die er mir im Laufe meines Lebens gewidmet hat; das konnte er jedoch nur tun, weil ihm die Hälfte des Unternehmens meines Vaters gehört und er die Hälfte der Gewinne bekommt, ohne sich an der Arbeit zu beteiligen. Das war ein fairer Deal, denn Toni hätte mir niemals auch nur annähernd so viele Trainingsstunden geben können, wenn mein Vater nicht zeitlebens so zielstrebig gearbeitet hätte.

Mein Vater zeichnet sich in seiner Arbeit dadurch aus, dass er Probleme anpackt, Lösungen findet und für die Erledigung der anfallenden Aufgaben sorgt. In dieser Hinsicht bin ich ihm, glaube ich, ähnlicher als Toni. Toni ist mein Tennistrainer und auch mein Coach. Sein Medium ist die Sprache, sind die Worte: Er treibt mich an, beschimpft mich, gibt mir Ratschläge, belehrt mich. Aber damit endet seine Arbeit und meine beginnt. Seine Worte umsetzen muss ich. Meine Patentante sagt, mein Vater sei der geborene Sieger und auf dem Tennisplatz hätte ich seinen Charakter. Ich glaube, das stimmt. Auf meinem Gebiet bin ich ebenso ein Kämpfer wie mein Vater auf seinem.

Was die Öffentlichkeit angeht, steht er jedoch eher im Schatten. Er sagt gern: »Ich bin der Sohn von Rafael Nadal, der Bruder von Miguel Ángel Nadal, der Vater von Rafael Nadal – nie ich allein.« Andere würden auf diese Situation vielleicht mit Neid oder kaum verhohlener Bitterkeit reagieren. Mein Vater freut sich aufrichtig darüber. Sein Vater war als Musiker eine Berühmtheit in Manacor; sein Bruder war ein gefeierter Fußballspieler; sein Sohn ist ein gefeierter Tennisspieler. Dadurch musste mein Vater sich in verschiedenen Phasen seines Lebens als Sohn/Bruder/ Vater eines anderen Nadal vorstellen oder vorstellen lassen. Wenn er sagt: »Hallo, ich bin Sebastián Nadal«, kommt unweigerlich die Reaktion: »Ach, der Sohn/Bruder/Vater von … ?« Seit mein Vater denken kann, gab es mindestens einmal wöchentlich in den Lokalmedien eine Meldung über einen Nadal, aber nie über ihn. Das hat ihn jedoch nie gekümmert, weil er überhaupt kein Interesse hat, bekannt oder erkannt zu werden, geschweige denn sich feiern zu lassen. Er ist zufrieden damit, wenn wir anderen begreifen, dass er versucht hat, eine Stütze der Familie und in den letzten Jahren vor allem eine Stütze für mich zu sein.

Als Geschäftsmann begriff mein Vater bereits früh, dass es für meine Karriere wichtig war, ein professionelles Team um mich aufzubauen. Zusätzlich zu Toni engagierten wir Joan Forcades als Fitnesstrainer; Rafael »Titín« Maymó als Physiotherapeuten; Ángel Cotorro als Arzt; Benito Pérez Barbadillo für die Medienkontakte; und meinen Agenten Carlos Costa, der für IMG arbeitet, eine Sportmarketingfirma mit guten Kontakten zur Tenniswelt. Was die geschäftliche Seite meiner Tenniskarriere anging, fand es mein Vater entgegen seiner sonstigen Einstellung sinnvoll, fachlichen Rat von außerhalb der Familie hinzuzuziehen. Ich erklärte ihm zwar, dass ich ihm vollauf vertrauen würde, aber ihm war es lieber, mit Leuten zu arbeiten, die vielleicht eine objektivere Sicht auf die Dinge haben, und mir war es recht. Also tat er sich mit einigen bewährten Partnern zusammen, die sein Vertrauen besaßen, mit denen er bereits zusammengearbeitet hatte und die ich von Kind auf kannte. Es ist jedoch eine Tatsache, dass mich die geschäftlichen Dinge nicht sonderlich interessieren. Toni, der immer konservativ eingestellt ist, war nicht davon angetan, über den engen Familienkreis hinauszugehen, aber mein Vater bestand darauf, denn wenn wir die Spitze anstreben wollten, müssten wir unsere Grenzen erkennen und mit einigen guten Profis zusammenarbeiten. Mein Vater ist der strategische Kopf unseres Teams, ist sich aber nicht zu schade, sich auch um Kleinigkeiten zu kümmern, wenn sonst niemand dafür zur Verfügung steht. So beschafft er schon mal für einen Sponsor Eintrittskarten für Wimbledon oder organisiert den Transport vom Hotel zu dem Tennisclub, in dem ein Turnier stattfindet. In großen wie in kleinen Dingen ist es mein Vater, der für die Ordnung, Ruhe und gute Stimmung sorgt, die ich brauche, um auf dem Tennisplatz höchste Konzentration zu haben.

Damit will ich keineswegs die Rolle klein reden, die Toni in meinem Leben spielt. Auch wenn wir häufig aneinander geraten sind, ist er mein Onkel, und ich mag ihn. Aber die wesentliche treibende Kraft in meinem Leben war und ist mein Vater, der gemeinsam mit meiner Mutter für ein glückliches, stabiles Zuhause gesorgt hat, ohne das ich nicht der Tennisspieler wäre, der ich heute bin. Für meine Mutter war es vielleicht nicht das Beste, denn sie hat praktisch ihr eigenes Leben aufgegeben – sie besaß eine Parfümerie – und alles für uns, für meine Schwester, meinen Vater und mich, geopfert. Sie ist ein geselliger Mensch, liebt es, Neues kennenzulernen und zu sehen, aber nach meiner Geburt beschränkte sich ihr Leben auf die Familie. Sie wollte es so und hegte nie auch nur den geringsten Zweifel, dass es so sein müsse. Manchmal denke ich, dass sie für uns zu viele persönliche Opfer gebracht hat. Aber wenn es ihr Ziel war, uns den nötigen Raum und die Liebe zu geben, um uns positiv zu entwickeln, dann hat sie es erreicht. Während mein Vater außer Haus seinen Geschäften nachging, prägte sie unsere Wertvorstellungen, kümmerte sich um unsere Erziehung, half mir und meiner Schwester bei den Schularbeiten, sorgte für unser Essen, war tagtäglich mit uns zusammen und immer für uns da. Die Rolle zu unterschätzen, die sie in meiner gesamten Entwicklung gespielt hat, und sie etwa als weniger wichtig zu bewerten als Tonis Einfluss, wäre ebenso dumm wie ungerecht. Manchmal sagt sie: »Hättest du es gern, wenn überall geschrieben würde, dass ein anderer dein Kind großgezogen hat?«

Dennoch kommt es mir gegenwärtig entgegen, dass Toni in meinem Tennisleben eine zentrale Rolle spielt, wie ich meiner Mutter gelegentlich erkläre. Es ist in meinem Interesse. Ohne das, was er mir gibt, würde mein Spiel leiden. Und ich glaube, meine Mutter versteht das, wenn auch manchmal widerstrebend.

Ich werde bei meinen Eltern nie gutmachen können, was sie mir gegeben haben, das Einzige, was ich versuchen kann, ist den Werten, die sie mir vermittelt haben, treu zu bleiben und ein »guter Mensch« zu bleiben, denn ich weiß, dass sie es andernfalls als größte Kränkung oder sogar als Verrat empfinden würden. Wenn ich ihnen zusätzlich die Freude und Genugtuung geben kann, ein großes Turnier wie Wimbledon zu gewinnen, ist das ein wunderbarer Bonus. Denn mein Sieg ist ein Sieg für uns alle. Das wissen sie ebenso gut wie ich.

Dieser Gedanke stand für mich wohl nicht im Vordergrund, als ich im zweiten Satz des Wimbledonfinales gegen Federer 1:4 zurücklag, aber die Überzeugung, dass ich diesen Berg nach wie vor bezwingen konnte, hatte sehr viel mit dem Vorbild und der Stabilität zu tun, die meine Familie mir gegeben hatten.

Aber die Lage war alles andere als hoffnungsvoll. Hier stand ich nun dem unübertroffenen Wimbledon-Champion gegenüber, und Federer spielte so gut wie eh und je. Er war mir spielerisch überlegen. Von außen betrachtet muss es gewirkt haben, als ob Federer plötzlich in seinem Centre-Court-Königreich wieder majestätisch und unangefochten herrschte. Beobachter stellten sich vielleicht vor, dass ich dachte: »Mein Gott! Ich lasse mir das Spiel entgleiten. Es wird wieder genauso wie 2007.« Aber nein. Ich dachte anders: »Dieses Niveau kann er nicht über diesen Satz oder die nächsten drei, vier Sätze hinweg durchhalten. Ich fühle mich immer noch gut. Das Gefühl ist da. Halte dich nur an deinen Plan, dann wirst du schon zurückkommen.« Und gib nie, niemals einen Punkt auf.

Schneller, als ich erwartet oder wirklich verdient hätte, bekam ich wieder die Oberhand. Ich brachte meinen Aufschlag durch und schaffte bei seinem Aufschlag mit Glück das Break. Das war für ihn ein Rückschlag, den er schwer verkraftete. Er verlor die Konzentration, geriet aus seinem brillanten Spielfluss, und mir gelang erneut ein Break. Seine Schläge kamen ungenau, weil er sich meist in einer ungünstigen Position wieder fand, während er das Sperrfeuer meiner Bälle, die ich auf seine Rückhand zielte, zu umlaufen versuchte. Wo er zuvor scheinbar mühelos Punkte gewonnen hatte, verschenkte er sie. Allmählich fühlte er sich wieder unbehaglich, spürte den Druck, und das zeigte sich in seiner Miene. Er schrie ein paarmal laut vor Wut und Ärger. Das war ganz und gar nicht Rogers Stil. In dieser Phase war ich äußerlich und vermutlich auch innerlich cooler als er. Dabei hatte ich mein Spiel nicht etwa wesentlich verbessert. Auch ich spielte einige schlechte Bälle und vergab Gewinnschläge, die ich recht mühelos hätte verwandeln müssen. In solchen Momenten bin ich durchaus kein Pokerface. Ich brülle frustriert oder schließe verzweifelt die Augen, wie jeder weiß, der mich hat spielen sehen. Aber sobald ich meine Position für den nächsten Ballwechsel einnehme, ist die Frustration fort, vergessen, ausgelöscht, und es zählt nur noch der Augenblick.

Mittlerweile lag ich 5:4 vorn und hatte Aufschlag. Er gewann den ersten Punkt, dann gelang mir ein guter erster Aufschlag direkt auf seinen Körper. Darauf hatte er keine Antwort. Fünfzehn beide. Den nächsten Punkt holte ich mit einem weiten Drive in seine Vorhandecke, dem Schlag sehr ähnlich, mit dem ich den ersten Punkt des Matchs gewonnen hatte. Aber er schlug zurück, und es stand dreißig beide. Ein großartiger Punkt. Als ich den Ball mehrfach auf den Rasen tippte und gerade zum Aufschlag ansetzte, schaltete der Schiedsrichter sich ein: »Zeitüberschreitung: Verwarnung, Mr Nadal.« Offenbar hatte ich zwischen den Ballwechseln zu viel Zeit verstreichen lassen und die zugelassene Spanne von 20 Sekunden bis zu meinem Aufschlag überschritten – eine Regel, die nur selten angewandt wird. Allerdings ist es eine gefährliche Regel. Denn sobald man die erste Verwarnung bekommen hat, führt jede nachfolgende Regelverletzung zum Punktabzug. Meine Konzentration war auf die Probe gestellt. Ich hätte Theater machen können. Die Zuschauer waren ebenso verärgert wie ich, das war zu spüren. Aber ohne auch nur eine Sekunde darüber nachdenken zu müssen, war mir klar, dass es nicht gut für mich wäre, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Damit hätte ich nur riskiert, meine Konzentration, dieses wichtige Kapital, zu verlieren. Außerdem lief das Spiel gerade gut für mich, und ich war nur noch zwei Punkte vom Gewinn des zweiten Satzes entfernt. Sofort schob ich jeden Gedanken an die Unterbrechung durch den Schiedsrichter beiseite und gewann den Punkt mit einem hervorragenden, für mich äußerst ungewöhnlichen Schlag: mit einem Rückhand-Cross-Slice, den er selbst mit einem Sprung ans Netz nicht mehr erreichte. Das war besonders befriedigend für mich, nicht nur wegen des wichtigen Punktgewinns, sondern weil ich trotz der vielen Turniere, die ich gewonnen habe, mein Spiel gern ständig verbessern möchte. Und der Rückhand-Slice war ein Spielelement, an dessen Verbesserung ich seit einer Weile gearbeitet hatte. Diesen Schlag haben nicht mehr allzu viele Spieler in ihrem Repertoire, weil Tennis heute durchgängig ein so schnelles Spiel ist, aber ich glaube, dass er mir einen Vorteil, eine zusätzliche Option verschafft, durch die ich den Spielrhythmus ändern und meinen Gegner vor neue Herausforderungen stellen kann. Aber dieser Schlag übertraf meine sämtlichen Erwartungen. Normalerweise ist der Rückhand-Slice ein Defensivschlag; aber der Ball, den ich gerade aus dem Hut gezaubert hatte, war einer der besten Gewinnschläge meines Lebens und verschaffte mir einen Satzball. Federer war sofort wieder da und schaffte den Einstand, aber ich fühlte mich nun auf der Höhe meines Spiels und zu allem fähig. Zwei weitere Male gab es einen Einstand, und er holte sich insgesamt drei Break-Bälle, aber schließlich gab er das Spiel und den Satz mit einem zögerlichen Rückhandschlag ins Netz ab. Es war ein vermeidbarer Fehler in einem entscheidenden Moment dieses Matchs, das von einer ungewöhnlich hohen Zahl an Gewinnschlägen geprägt war. Damit lag ich nun 6:4, 6:4 in Führung. Ein weiterer gewonnener Satz würde mich zum Wimbledonsieger machen.

Aber ich witterte den Sieg noch nicht. Ganz und gar nicht. Mein Gegner war schließlich Roger Federer, bei dem man nie nachlassen durfte. Zudem wusste ich, dass der Punktestand von 6:4 im zweiten Satz nicht gerechtfertigt war. Er hatte in diesem Satz insgesamt besser gespielt als ich. Er konnte durchaus weiter auf diesem Niveau oder sogar schlechter spielen und den nächsten Satz gewinnen. Mental mochte ich ihn besiegt haben, aber wenn ich hier nachlassen sollte, würde er mich schlagen. Mit einem Blick nach oben stellte ich fest, dass der Himmel sich verdunkelte. Es sah nach Regen aus. Eventuell musste die Fortsetzung des Matchs auf Montag verschoben werden. Was auch kommen mochte, ich würde damit leben können. Nach dem Spielstand lag ich 2:0 Sätze in Führung, aber nach meiner inneren Einstellung stand es nach wie vor 0:0.