ONKEL TONI

 

Wenn man Toni Nadal fragt, was er seinem Neffen als Letztes sagte, bevor dieser 2008 in Wimbledon die Umkleidekabine zum Endspiel verließ, erzählt er: »Ich sagte ihm, er solle bis zum Ende kämpfen und durchhalten.« Auf die Frage, wie Rafa es im Tennis an die Weltspitze geschafft hat, erklärt er: »Das liegt nur am Kopf, an der Einstellung, mehr zu wollen, mehr auszuhalten als dein Gegner.« Und wer wissen will, was er zu Rafa an jenen Tagen sagt, an denen der Körper rebelliert und der Schmerz zu stark scheint, um zum Wettkampf anzutreten, bekommt zur Antwort: »Ich sage ihm: ›Guck, du hast zwei Möglichkeiten. Sag dir, du hast genug, dann gehen wir, oder sei bereit zu leiden und mach weiter. Du hast die Wahl, durchzuhalten oder aufzugeben‹.«

»Durchhalten« ist ein Wort, das Toni seinem Neffen von klein auf eingetrichtert hat. Es zeugt von der ungewöhnlich spartanischen Lebensphilosophie auf einer Insel und in einem Land, in dem das Spaßprinzip dominiert. Toni wirkt wie ein Spanier vergangener Zeiten, wie ein Abkömmling des Eroberers Hernán Cortés, der im 16. Jahrhundert mit einer kleinen Truppe von knapp 100 Mann in Mexiko landete und seine Schiffe verbrannte, damit niemand in die Versuchung kam, in die Heimat zu flüchten. Unter entsetzlichen Entbehrungen und furchtbaren Umständen besiegte er das Aztekenreich und eroberte dessen Schätze und ausgedehntes Land für die spanische Krone.

Mit seinem stämmigen Körperbau, dem dunklen Teint und den kräftigen, muskulösen Beinen wirkt Toni mitunter wie aus jenem Holz geschnitzt, aus dem die Conquistadores waren. Er ist resolut, hat einen kühlen Blick, nimmt kein Blatt vor den Mund und ist erstaunlich wenig bemüht, seine Umgebung für sich einzunehmen. Dabei ist er keineswegs unfreundlich: Nach Ansicht seiner Familie ist er zu Fremden, die ihn um Tickets für ein Match bitten, oder zu Journalisten, die ein Statement von ihm erwarten, ausgesprochen großzügig. Aber gegenüber allen, die ihm nahestehen, kann er launisch, mürrisch und streitlustig sein, auch wenn er unbeirrbar loyal zu ihnen steht. Das schwarze Schaf der Familie ist er jedoch nicht, weil die Nadals fest zusammenhalten und niemanden ausgrenzen. Carlos Costa, der die Familie gut kennt, erklärt: »Toni ist anders.« Er ist knurriger als seine Brüder, eigensinniger, ein Moralist mit festen Ansichten, der immer zu Kontroversen bereit ist.

Allerdings ist er nicht ganz so conquistadorenmäßig hart oder so selbstgenügsam, wie es den Anschein haben mag. Manche Medien neigen zu der Darstellung, Rafa wäre nichts ohne Toni. Aber man könnte auch das Gegenteil meinen: Toni wäre nichts ohne Rafa. Die Wahrheit liegt in der Mitte. Toni und Rafa sind ein Duo, das aufeinander angewiesen ist und sich in seinen Stärken und Schwächen ergänzt. Gemeinsam sind sie stärker, als es jeder für sich wäre.

Früher träumte Toni einmal davon, Champion zu werden. In seiner Jugend spielte er hervorragend Tennis und machte sich einen Namen als einer der besten Spieler Mallorcas. Eine Zeit lang war er zudem der beste Tischtennisspieler der Insel und brachte es im Schach zu lokalem Ansehen. Er besaß die körperlichen Voraussetzungen und das Köpfchen, als er aber Tennisprofi wurde und seine Insel verließ, um das spanische Festland zu erobern, musste er feststellen, dass er zwar ein beständiger Spieler war, aber nicht über die nötige Schlaghärte, den Killerpunch, verfügte. Als Trainer bemühte er sich vor allem, seinen Schützlingen gerade diese Qualität beizubringen. Jungen, die er zusammen mit seinem Neffen trainierte, erinnern sich, dass andere Trainer die Ballkontrolle in den Vordergrund rückten, Toni jedoch immer den Schwerpunkt auf das aggressive Üben von Gewinnschlägen legte. Toni führt gern das Beispiel des Golfspielers Jack Nicklaus an, der jungen Spielern in einem Lehrvideo einmal riet: »Zuerst einmal müsst ihr den Ball weit schlagen; danach könnt ihr daran denken, ihn ins Loch zu bringen.« Diese Lektion nahm Toni sich zu Herzen. Von Anfang an riet er seinem Neffen, der damals erst vier Jahre alt war: »Zuerst einmal lernst du den Ball hart zu schlagen; danach sehen wir zu, dass er drin bleibt.«

Als Nächstes machte Toni sich an die anspruchsvollere Aufgabe, einen mental für Wettkämpfe gerüsteten Spieler aufzubauen. Er fing so an, wie er auch weiterzumachen gedachte: Er behandelte seinen Neffen in Gegenwart Gleichaltriger offen ungerecht und erwartete von ihm, sich nicht zu beklagen. Die Jungen, die mit Rafa Nadal trainierten, erinnern sich noch heute, dass er den Kopf senkte und tat, was von ihm verlangt wurde, wenn Toni ihm beispielsweise die Anweisung zubrüllte, nach dem Training die Bälle aufzusammeln und den Platz abzuziehen. Trainierten die beiden allein und die Sonne schien gleißend auf eine Platzhälfte, schickte Toni Rafa immer genau auf diese Seite. Trainierten sie zu Beginn der Stunde mit guten, kräftigen Schlägen, spielte Toni unvermittelt mit einem schlechten Ball, der unberechenbar wegsprang oder kraftlos kaum vom Boden hochsprang. Wenn sein Neffe sich beschwerte, erklärte Toni: »Die Bälle sind vielleicht drittklassig, aber du bist viertklassig.«

Nach Tonis Ansicht behandelte er Rafa zu dessen eigenem Besten so ungerecht, wenn er etwa mit ihm Tennis spielte und vereinbarte, dass derjenige gewann, der als Erster 20 Punkte erzielte. Er ließ das aufgeregte Kind 19 Punkte erreichen, bevor er sein Spiel umstellte, seinen Neffen schlug und ihm den Tag verdarb, als er seinen kleinen Sieg schon fast genießen wollte. Die moralischen Tiefschläge und die unerbittlich harte Disziplin, die er Rafa abverlangte, dienten einem strategischen Ziel: sein Durchhaltevermögen zu fördern.

Toni selbst hatte dagegen ein widersprüchliches Verhältnis zum »Durchhaltevermögen«. Ihm und seinem Bruder Sebastián hatte man die Tugend des Durchhaltens in ihrer Jugend beigebracht, als sie in Palma, eine Autostunde von Manacor entfernt, im Internat waren. Der Schulleiter predigte den Schülern ausgiebig die Vorzüge, unvermeidliche Prüfungen und Enttäuschungen des Lebens mannhaft zu ertragen. Die unmittelbarste Prüfung, der die Brüder ausgesetzt waren, bestand allein schon in der Tatsache, fern von ihrer eng verbundenen, fürsorglichen Familie im Internat zu leben. Sebastián blieb bis zum Ende der Schulzeit dort. Toni bat seine Eltern nach einem Jahr, ihn wieder nach Hause zu holen, was sie auch taten. Später studierte er Jura und Geschichte, brach das Studium aber ohne Abschluss ab. Nachdem er seine Bestrebungen aufgegeben hatte, ein erfolgreicher Profitennisspieler zu werden, kehrte er nach Manacor zurück und trainierte die Kinder im Tennisclub der Stadt.

Dort ließ er sich auch nieder, da er endlich seinen Beruf gefunden hatte. Durch unglaubliches Glück hatte er zudem einen Neffen mit Enthusiasmus und Talent, wie er es zuvor noch bei keinem anderen Kind entdeckt hatte und wohl nie wieder finden sollte. Rafas Art, den Ball zu schlagen, sein natürliches Gespür für die richtige Position und seine Willensstärke brachten Toni bald zu der Überzeugung, dass er es mit einem potenziellen Champion zu tun hatte. Das Schicksal hatte an die Tür der Familie geklopft, und er würde das Beste daraus machen, die Lehren aus seinen eigenen Fehlern ziehen, seinen Neffen zum Gewinner formen und ihm helfen, eine Zukunft aufzubauen, in deren Glanz er sich dann ebenfalls sonnen könnte.

Rafas Erfolg war für Toni eine nicht zu unterschätzende Bestätigung und Ermutigung, seine Ansichten unverblümt zu äußern und in seinen Überzeugungen ebenso streng zu sein, wie ein Katholik am spanischen Hof zu Cortés Zeiten. Allerdings sucht er keinen Trost im Leben nach dem Tod oder in einem gnädigen Gott. Er ist kein Katholik und vertritt, eisern wie in allen anderen Dingen auch, die Meinung, Religion sei Schwäche und Unsinn. Den Glauben an Gott tut er als primitiven Aberglauben ab, der ebenso infantil ist wie der frühere Glaube seines Neffen, sein Onkel könne Regen machen.

Unerbittlich doktrinär ist Toni hingegen in seinen Ansichten in Bezug auf die Kindererziehung. »Das Problem ist heutzutage, dass Kinder zu stark im Zentrum der Aufmerksam stehen. Ihre Eltern, ihre Familien, alle um sie herum halten es für nötig, sie auf ein Podest zu heben. Es wird so viel Energie darauf verwendet, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, dass sie das Gefühl haben, an sich schon etwas Besonderes zu sein, ohne etwas getan zu haben. Das verwirrt die jungen Leute: Sie begreifen nicht, dass man nicht dadurch, wer man ist, sondern durch das, was man tut, etwas Besonderes ist.«

»Ich erlebe das ständig, und wenn sie dann schließlich Geld verdienen, ein bisschen berühmt werden, ihnen alles leicht gemacht wird, ihnen nie jemand widerspricht und sie in allen Kleinigkeiten des Lebens bedient werden, tja … dann hat man letzten Endes die unerträglichsten verwöhnten Bälger.«

Dieses Phänomen ist im Profisport so verbreitet, dass es nach Tonis Ansicht irritierend ist, wenn ein brillanter junger Sportler sich nicht wie ein verwöhntes Gör, sondern wie ein normaler anständiger Mensch benimmt. Spitzensportler sind von gierigen Jasagern umgeben, die ständig um sie herumscharwenzeln und ihnen so lange einreden, sie seien Götter, bis sie es selbst glauben. Rafa Nadals bodenständige Höflichkeit, die weit vom Normalen abweicht, wird immer wieder hervorgehoben, und darauf ist Toni stolz.

Rafa Nadals gesamte Erziehung zielte darauf ab, ihn auf dieses Verhalten vorzubereiten. Sollte er ein Superstar werden, wollten Toni und seine Eltern auf jeden Fall dafür sorgen, dass er bescheiden blieb. Sollte seine Bescheidenheit Beifall ernten, was häufig geschah, würden sie es als übertriebenes Lob abtun. »Man muss bescheiden sein, punkt«, erklärt Toni. »Das ist kein besonderes Verdienst. Außerdem würde ich Rafael nicht als ›bescheiden‹ bezeichnen. Er kennt einfach seinen Platz in der Welt. Jeder sollte seinen Platz in der Welt kennen. Die Sache ist doch, dass die Welt schon groß genug ist, auch ohne dass du dich für groß hältst. Die Leute übertreiben das mit der Bescheidenheit manchmal. Es geht doch nur darum, zu wissen, wer du bist, wo du stehst und dass die Welt ohne dich genauso weiterbesteht, wie sie ist.«

Tonis Reflex, auch den kleinsten Anflug von Selbstgefälligkeit oder Dünkel bei seinem Neffen im Keim zu ersticken, macht ihn indes nicht blind für dessen Qualitäten oder den Einfluss, den seine Eltern auf ihn haben. »Ich glaube nicht, dass er sich von sich aus schlecht entwickelt hätte«, erklärt er. »Wegen seiner Eltern, die auf ihre Art genauso unprätentiös sind wie ich, und wegen seiner eigenen Art. Er war immer folgsam, was bei einem Kind ein Zeichen von Intelligenz ist, weil es zeigt, dass du begreifst, dass die Älteren es besser wissen als du, und dass du ihre größere Lebenserfahrung respektierst. Ich glaube also, dass wir hier mit dem besten Rohmaterial arbeiten konnten. Allerdings habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, diese Eigenschaften zu fördern. Als ich sein enormes Potenzial erkannte, überlegte ich, welche Art Mensch ich, ganz abgesehen von seinen tatsächlichen Fähigkeiten als Spieler, gern auf dem Platz erleben würde. Jemanden mit Persönlichkeit, aber keinen Angeber. Ich mag keine Diven, und davon gibt es in der Tenniswelt eine Menge. Darum habe ich ihm verboten, während eines Matchs jemals den Schläger auf den Boden zu werfen; darum habe ich immer darauf bestanden, dass er beim Spielen ›gute Miene‹ macht, wie ich es nenne – ruhig und ernst, nicht wütend oder verärgert; darum war es immer wichtig, sich bei Sieg und Niederlage dem Gegner gegenüber sportlich und freundlich zu verhalten.«

Respekt vor anderen, wer sie auch sein und was sie auch tun mögen, ist die Grundlage von allem, erklärt Toni: »Es ist völlig inakzeptabel, dass Leute, die alles im Leben haben, sich ungehobelt gegenüber anderen verhalten. Nein, je höher man steht, umso größer ist die Verpflichtung, Menschen mit Respekt zu behandeln. Ich hätte es gehasst, wenn mein Neffe sich anders entwickelt, auf dem Tennisplatz Wutanfälle bekommen und sich seinen Gegnern gegenüber unmöglich benommen hätte, während die ganze Welt im Fernsehen zuschaut. Ich hätte es auch nicht gemocht, wenn er sich gegenüber Schiedsrichtern oder Fans unhöflich benommen hätte. Ich und auch seine Eltern sagen immer, es ist wichtiger, ein guter Mensch als ein guter Tennisspieler zu sein.«

Toni selbst ist aber selbstkritisch genug, um zuzugeben, dass er bei seinem Neffen vielleicht manchmal »zu weit in die andere Richtung« gegangen ist. Seine Strenge im Training war eine bewusste, kalkulierte Strategie. Das gilt auch für seine Reaktion auf die frühen Wettkampferfolge seines Neffen, die er immer herunterspielte. Wenn Rafa in einem Match eine tolle Vorhand schlug, gab es noch viel an seiner Rückhand zu arbeiten. Wenn er eine beeindruckende Serie weiter Grundlinienschläge schaffte, fragte Toni, was denn mit seinen Volleys sei. Wenn er ein Turnier gewann, war es keine große Sache; aber wie sah es denn mit seinem Aufschlag aus?

»Noch hast du nichts erreicht«, erklärte Toni dann. »Wir brauchen noch viel, viel mehr!« Die restliche Familie schaute mit einer gewissen Verwunderung zu, die bei Rafas Mutter zuweilen in Wut umschlug. Sein Vater, Sebastián, hatte seine Bedenken. Sein Onkel Rafael fragte sich manchmal, ob Toni seinen Neffen nicht zu hart anfasste. Sein Pate Juan, der Bruder seiner Mutter, ging sogar so weit zu behaupten, was Toni dem Kind antue sei »seelische Grausamkeit«.

Aber Toni war streng mit Rafa, weil er wusste, dass der Junge es aushalten konnte und letztlich daran wachsen würde. Bei einem schwächeren Kind hätte er nicht dieselben Prinzipien angewendet, erklärt er. Das Gefühl, dass er vielleicht doch Recht hatte, hielt die skeptischeren Familienmitglieder von einer offenen Rebellion ab. Einer, der nicht an Toni zweifelte, war Miguel Ángel, der Profifußballer. Er glaubt ebenso fest an das Durchhaltevermögen wie Toni und vertritt die Meinung, dass der Erfolg eines Spitzensportlers von seiner »Leidensfähigkeit« und sogar von seiner Freude am Leiden abhängt.

»Es bedeutet, die Tatsache akzeptieren zu lernen, dass, wenn du zwei Stunden trainieren musst, zwei Stunden trainierst, wenn du fünf trainieren musst, fünf Stunden trainierst; wenn du eine Übung fünfzigtausend Mal wiederholen musst, es eben tust. Das unterscheidet die Champions von den nur Talentierten. Und das hängt alles unmittelbar mit der Siegermentalität zusammen; wenn du Durchhaltevermögen demonstrierst, wird gleichzeitig dein Kopf stärker. Dinge, die du geschenkt bekommst, weißt du nicht zu schätzen, außer sie haben eine besondere sentimentale Bedeutung, aber was du durch eigene Anstrengung erreichst, ist für dich von Wert. Je größer die Anstrengung, umso größer der Wert.« Diese Einstellung herrschte in der Familie zumindest so weit vor, dass niemand, nicht einmal Rafas Mutter, Toni entgegentrat und ihm sagte, er solle das Kind weniger fordern. Alle begriffen, dass die vielen Trainingsstunden mit Toni extrem anstrengend waren, aber dass die beiden einen Punkt erreicht hatten, an dem sie nicht ohne einander leben, geschweige denn im Tennis erfolgreich sein konnten.

Die Familie murrte, ließ Toni aber seine Arbeit machen, respektierte seine Souveränität in seinem Bereich, sein spartanisches Regime, in dem Jammern nicht erlaubt war, der werdende junge Champion allen möglichen Prüfungen unterzogen und Entbehrungen ausgesetzt war und Entschuldigungen, so legitim sie sein mochten, nicht akzeptiert wurden. Wenn er ein Spiel verlor, weil der Rahmen seines Schlägers einen Riss hatte, wollte Toni nichts davon wissen; wenn er schlecht spielte, weil der Schläger nicht hart genug besaitet war und der Ball falsch flog, blieb Toni unbeeindruckt. Ob er Fieber, Schmerzen im Knie oder einen schlechten Tag in der Schule hatte: Nichts zog bei Toni. Rafa musste lächeln und durchhalten.