DIE ANGST

VOR DEM SIEG

 

 

KAPITEL 5

Wimbledon zu gewinnen war an sich schon eine verlockende Aussicht, aber mir war auch bewusst, dass ich mit diesem Sieg schon bald zur Nummer eins der Weltrangliste aufsteigen würde, nachdem ich zwei Jahre lang den zweiten Platz hinter Federer belegt hatte. Eine Niederlage hieße, ihm weiter auf den Fersen zu bleiben und ihn vielleicht nie zu überholen. In diesem Match lag ich jedoch in Führung, und bei meinem Aufschlag zu Beginn des vierten Satzes war ich so gefasst, wie man es sich unter solchen Umständen nur erhoffen durfte. Was allerdings nicht viel bedeutet, doch zumindest zitterten meine Beine nicht, und das Adrenalin behielt nach wie vor die Oberhand gegenüber meiner Nervosität. Den dritten Satz im Tiebreak zu verlieren war ein herber Schlag für mich, aber das war nun Geschichte. Mir war klar, dass er nicht bei jedem Aufschlag weiter Asse schlagen konnte, wie er es im dritten Satz getan hatte. Vor dem Match hatte ich meine Chancen bei 50:50 gesehen, und an dieser Einschätzung hatte sich auch jetzt nichts geändert.

Schließlich hatte es auch eine Zeit gegeben, in der ich mir gegen Federer so gut wie keine Chancen ausgerechnet und trotzdem gewonnen hatte. Es war im März 2004 bei unserer ersten Begegnung auf einem schnellen Bodenbelag in Miami. Ich war damals 17 Jahre alt, er 22 und gerade auf Platz zwei der Weltrangliste aufgestiegen, aber ich besiegte ihn in drei Sätzen. Ein Jahr später standen wir uns im Finale dieses Turniers wieder gegenüber, und dieses Mal siegte er, allerdings äußerst knapp. Die beiden ersten Sätze gewann ich, den dritten holte er im Tiebreak und entschied die beiden folgenden Sätze für sich. Es war zwar eine Niederlage, aber keine entmutigende Niederlage. Ich lag in der Weltrangliste dreißig Plätze hinter Federer, hatte aber bis zum Ende mit ihm mithalten können. Danach ging meine Karriere ab wie eine Rakete: Bei den French Open zweieinhalb Monate später war ich bereits die Nummer fünf der Weltrangliste.

Unmittelbar nach dieser Begegnung in Miami spielte ich in jenem Turnier in Monte Carlo, das den Beginn der Sandplatzsaison markiert. Ich mag sowohl Monte Carlo als auch dieses Turnier. Die Stadt liegt am Mittelmeer in der Nähe meiner Heimat. Die Tennisplätze befinden sich so hoch über dem Meer, sodass ich mir vorstellen kann, von dort aus Mallorca zu sehen. Und die Straßen sind ausgesprochen sauber. Mein bleibendster Eindruck von dieser Stadt ist, wie makellos ordentlich und adrett dort alles ist. Das Turnier ist eines meiner liebsten, nicht nur weil ich dort gut abschneide und es historisch für mich eine besondere Bedeutung besitzt, sondern weil es wie Wimbledon eine lange Tradition hat. Das Turnier gibt es seit über 100 Jahren, und zu den Siegern gehören große Namen wie Björn Borg, Ivan Lendl, Mats Wilander und Ilie Nastase sowie frühe Größen des spanischen Tennissports wie Manuel Santana und Andrés Gimeno. Und auch mein Freund Carlos Moyá.

Im Vorjahr konnte ich wegen meiner Fußverletzung nicht in Monte Carlo antreten, hatte aber jetzt das Gefühl, hier, auf dem Bodenbelag, mit dem ich aufgewachsen war, meinen ersten Sieg in einem großen ATP-Turnier zu erringen. Miami hatte ich mir nehmen lassen, aber nun war ich überzeugt, dass ich mir diese Chance nicht entgehen lassen würde. Nicht einmal, wenn ich wieder gegen Federer spielen müsste. Er schied jedoch im Viertelfinale aus, und so spielte ich im Finale gegen den Titelverteidiger, den Argentinier Guillermo Corsa.

Sandplätze sind gut geeignet für defensive Spieler. Außerdem kommen sie Spielern entgegen, die fit sind. Tennis erfordert die Schnelligkeit eines Sprinters und die Ausdauer eines Marathonläufers: losrennen, stoppen, losrennen, stoppen, und das über zwei, drei, vier, manchmal sogar bis zu fünf Stunden lang. Da der Ball auf Sandplätzen höher springt und länger in der Luft bleibt, sind die Ballwechsel und damit auch die Matchs länger; daher ist es schwieriger, Punkte zu erzielen und den eigenen Aufschlag durchzubringen. Der Ausdauerfaktor wirkt sich stärker auf das Ergebnis aus als bei anderen Belägen. Da die Winkel weiter sind, müssen die Spieler mehr laufen. Das Spiel ist geometrischer, wie mein Physiotherapeut Joan Forcades sagt. Man muss einen Ballwechsel allmählich aufbauen und länger als auf schnelleren Belägen warten, um den Gegner aus seiner Position zu drängen. Man muss also länger auf den Moment warten, an dem man realistisch daran denken kann, einen unspielbaren Winner zu versuchen. Außerdem braucht man eine Fertigkeit, die für ein Ballspiel eher ungewöhnlich ist: Ich nenne es Skaten. Beim Tennis lernt man, das Gewicht fest auf dem Boden auszubalancieren und Füße und Körper auf eine bestimmte Art zu positionieren, um einen Ball wirkungsvoll zu schlagen. Aber auf Sandplätzen verwandelt sich der weiche, körnige Sandbelag bei einem hohen Prozentsatz der Bälle in eine Rutschbahn, auf der man schliddert, um den Ball zu erreichen, und damit sind alle üblichen Regeln außer Kraft gesetzt. Wer nicht von klein auf an Sandplätze gewöhnt ist, tut sich mit dieser Fertigkeit schwer. Da ich vorwiegend auf Sand gelernt hatte, beherrschte ich sie, und weil ich schnell und fit war und nie einen Ball verloren gab, wusste ich, dass ich auf diesem Belag schwer zu schlagen bin, wenn ich erst einmal eine gewisse körperliche und mentale Reife erreicht hätte.

Mein erstes ATP-Turnier gewann ich in Monte Carlo: Ich besiegte Corsa im Finale. Es war ein merkwürdiges Match, das ich in vier Sätzen gewann – allerdings verlor ich den dritten Satz 6:0. Es folgte eine lange Siegesphase auf Sand in Barcelona und Rom. Nach dem Turnier in Rom standen die French Open im Roland-Garros-Stadion in Paris an. Es ist der Höhepunkt der Sandplatzsaison und das zweite Grand-Slam-Turnier des Jahres. Ich war noch nicht einmal 19 Jahre alt, stand auf Platz fünf der Weltrangliste und galt als Favorit.

Im Vorjahr hatte ich verletzungsbedingt nicht an diesem Turnier teilgenommen, war aber für zwei Tage nach Paris geflogen, um es mir anzusehen. Auf diese Idee waren Carlos Costa und mein Freund Tuts gekommen, mein Betreuer bei Nike, der die Reise organisiert hatte. Carlos fand es ratsam, dass ich die Umgebung kennenlernte und mich damit vertraut machte, denn er glaubte, dass ich dieses Turnier eines Tages gewinnen würde. Allerdings war für mich der Besuch in der großen Arena des französischen Tennissports weniger beeindruckend als frustrierend. Es war furchtbar für mich, nicht spielen zu können, und es machte mich geradezu krank, Matchs von Spielern anzuschauen, die ich durchaus hätte schlagen können. Carlos erinnert sich, dass ich sagte: »Nächstes Jahr gehört es mir.« Mein größter Traum war immer Wimbledon, aber mir war klar, dass Roland Garros ein Gipfel war, den ich zuerst bezwingen musste. Wenn ich in Frankreich nicht gewinnen konnte, würde ich es in England niemals schaffen.

Dennoch war es für mich überraschend, als die Sportpresse in mir den Favoriten für den Turniersieg 2005 sah. Ich hatte erst an zwei Grand-Slam-Turnieren teilgenommen – Wimbledon und US Open – und hatte es in keinem von beiden bis ins Viertelfinale geschafft. Sicher hegte ich gewisse Zweifel, ob ich unter dieser Konkurrenz bestehen würde. Außerdem war da noch Federer. Ihm fehlte nur noch Roland Garros, um seine Bilanz durch einen vierten Grand-Slam-Sieg abzurunden. Einerseits versuchte ich mir (mit dem Teil meines Kopfes, den Toni konditioniert hatte) klarzumachen, dass meine Favoritenrolle übertrieben und irrational sei, andererseits war ein Teil von mir (der wahnsinnig getriebene und ehrgeizige) wie vor einem Jahr davon überzeugt, dass ich das Turnier gewinnen konnte. Aber die Erwartungen, die ich geschürt hatte, belasteten mich und schufen eine zusätzliche mentale Bürde, die ich in den ersten Runden mühsam abschütteln musste. Ich hatte nicht das positive Gefühl, das ich brauche, um von meinen Siegchancen überzeugt zu sein, und war erheblich nervöser als sonst. Mein Körper war angespannter, als er hätte sein dürfen. Meine Beine waren schwer, meine Arme steif, und der Ball schnellte nicht so kraftvoll vom Schläger, wie er sollte. Wenn das passiert, bekommst du Angst, locker zu lassen, du lässt deinem natürlichen Spiel nicht freien Lauf, und alles wird erheblich komplizierter. Gegner, die du in den vorangegangenen Wochen problemlos geschlagen hast, werden plötzlich zu Giganten.

Meine Ernährung war auch nicht gerade hilfreich. Ich achtete nicht so sorgfältig wie heute darauf, meinen Appetit zu zügeln, und entwickelte in Paris plötzlich eine Vorliebe für Schokocroissants. Toni bemerkte das Problem, hatte aber seine eigene Art, damit umzugehen. Als Carlos Costa zu ihm sagte: »Lass ihn doch um Himmels Willen nicht dieses Zeug essen!«, antwortete er: »Nein, nein. Lass ihn ruhig das Schokogebäck essen. Nur so lernt er es, denn er bekommt Bauchschmerzen.« Wie üblich funktionierte seine Methode. Ich lernte schmerzhaft, während eines Wettkampfs nichts zu essen, was schwer verdaulich war.

Trotz meiner Nervosität und des selbst verschuldeten Schokoladenhandicaps überstand ich die ersten Runden der French Open. Francis Roig, mein Co-Trainer, behauptet, selbst mit 80 Prozent meiner Leistungsfähigkeit sei ich noch besser als die anderen, weil ich ihnen mental überlegen sei. Ich bin mir nicht sicher, ob das immer zutrifft, aber auf Sandplätzen mag es durchaus stimmen. In Bestform kann ich schnell von Defensive auf Angriff umschalten und meinen Gegner damit überraschen; sogar demoralisieren. Aber wenn die Gewinnschläge nicht kommen und du es bestenfalls schaffst, jeden Ball zu erreichen, um eine Art menschlicher Mauer zu bilden, ist ein Sandplatz genau das, was du dir wünschst.

Mit dieser Zermürbungstaktik schaffte ich es bis ins Halbfinale gegen Federer, gegen den ich nun erstmals auf Sand spielte. Das Match fand an meinem 19. Geburtstag statt, und ein Sieg bedeutete für mich das denkbar schönste Geburtstagsgeschenk meines Lebens. Ich gewann tatsächlich in vier Sätzen. Zeitweise nieselte es, und Federer, der darauf brannte, seinen vierten Grand-Slam-Sieg unter Dach und Fach zu bringen, versuchte den Schiedsrichter zu einer Spielunterbrechung zu bewegen. Das war ein gutes Zeichen. Obwohl er sagte, der Regen setze ihm zu, wusste ich, dass ihm auch mein Spiel zu schaffen machte. Der Schiedsrichter unterbrach das Match nicht, und ich gewann. Danach kam das Finale gegen den Argentinier Mariano Puerta. Die Argentinier sind wie die Spanier Sandplatzexperten. Über weite Teile des Matchs spielte Puerta besser als ich. Damals beherrschte ich die Technik noch nicht, mich von meiner Umgebung und meinen Ängsten abzuschotten. Vollständig gelingt das zwar nie, sonst wäre man kein Mensch. Aber damals musste ich noch daran arbeiten, die nötigen emotionalen Abwehrmechanismen aufzubauen, um konstant zu gewinnen, und die Nervosität behinderte mich mental stärker, als es später in meiner Karriere der Fall war. Allerdings fehlte es mir in diesem Finale nicht an Energie. Puerta spielte gut, gut genug, um den ersten Satz 7:5 zu gewinnen. Wenn ich heute an dieses Match zurückdenke, fällt mir vor allem das Gefühl ein, keinen Moment Atem geholt zu haben. Ich kämpfte und rannte, als ob ich zwei Tage ununterbrochen so weitermachen könnte. Der Gedanke an einen möglichen Sieg war für mich so erregend, dass ich keinen Moment Müdigkeit verspürte, was wiederum Puerta zermürbte. Ich hielt durch. Bei den wichtigen Punkten war ich beständiger und gewann nach dem ersten verlorenen Satz die folgenden drei Sätze 6:3, 6:1, 7:5.

Innerhalb von knapp sechs Monaten hatte ich drei Gipfel erklommen, einer höher als der andere: den Daviscup, mein erstes ATP-Turnier in Monte Carlo und nun die French Open, mein erstes Grand-Slam-Turnier, der berauschendste Sieg von allen. Meine Gefühle lassen sich nicht beschreiben. Im Augenblick des Sieges drehte ich mich um und sah meine Familie, die völlig durchdrehte. Meine Eltern lagen sich in den Armen, meine Onkel schrieen, und schlagartig begriff ich, dass dieser Sieg trotz aller harten Arbeit, die ich investiert hatte, nicht allein der meine war. Ohne nachzudenken stürmte ich, nachdem ich Puerta die Hand geschüttelt hatte, in die Menge, eilte die Stufen hinauf und umarmte die Familie, allen voran Toni. Meine Patentante Marilén war da und weinte. »Ich konnte es gar nicht fassen«, erzählte sie mir später über ihre Reaktion auf den entscheidenden Punktgewinn. »Ich schaute dich an, einen großen, erwachsenen Champion mit in die Luft gereckten Armen, und plötzlich sprang mein Geist zurück in die Vergangenheit und ich sah einen todernsten, mageren Siebenjährigen zu Hause auf einem Tennisplatz in Manacor vor mir.«

Mir gingen ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf. Ich hatte so hart und lange gekämpft, um dorthin zu kommen. Aber mir kamen auch Bilder von zu Hause und meiner Familie in den Sinn, und an jenem Tag begriff ich mehr denn je, dass du niemals allein aus eigener Kraft gewinnst, so sehr du dich auch engagieren magst. Die French Open waren mein Lohn, aber auch der Lohn für meine Familie.

Außerdem war ich erleichtert. Der Grand-Slam-Sieg hatte mir eine Last von den Schultern genommen. Alles, was das Leben von nun an noch bringen würde, wäre ein willkommener Bonus. Nicht etwa, dass ich in meinem Ehrgeiz nachlassen würde. Ich hatte einen Sieg auf höchster Ebene errungen, das hatte mir gefallen, und ich wollte mehr. Zudem hatte ich das Gefühl, nachdem ich einmal ein Turnier dieser Größenordnung gewonnen hatte, sei es weniger schwierig, es wieder zu schaffen. Nach diesem Sieg bei den French Open nahm in meinem Kopf die Idee Gestalt an, dass ich eines Tages Wimbledon gewinnen könnte.

Es bedarf keiner Erwähnung, dass Toni diese Vorstellung nicht teilte oder es mir zumindest nicht zeigen wollte. In seiner üblichen unverblümten Art erklärte er mir, Puerta habe seiner Ansicht nach besser gespielt als ich, mich wesentlich mehr laufen lassen als ich ihn und ich hätte Glück gehabt, die entscheidenden Punkt zu erzielen. Heute behauptet er – obwohl ich mich wirklich nicht daran erinnern kann –, dass er, bevor er sich am nächsten Tag noch vor uns anderen auf den Heimweg gemacht habe, er mir eine handgeschriebene Liste mit allen Aspekten meines Spiels hingelegt hätte, die ich verbessern müsse, wenn ich eine Chance haben wollte, noch einmal ein so bedeutendes Turnier zu gewinnen.

Was die beiden verbleibenden Grand-Slam-Turniere jenes Jahres anging, sollte er Recht behalten. In Wimbledon schied ich in der zweiten Runde aus, bei den US Open in der dritten. Diese Niederlagen holten mich zurück auf den Boden und machten mir klar, wie viel Arbeit noch vor mir lag, wenn ich nicht nur als weiterer Name in die historische Liste der One-Grand-Slam-Wonder eingehen oder zu den spanischen Spielern gehören wollte, die sich nicht erfolgreich an andere Bodenbeläge als Sand anzupassen vermochten. Nach meinem French-Open-Sieg waren die meisten Experten der Meinung, ich könne vielleicht dieses Turnier ein weiteres Mal gewinnen, aber niemals eines der anderen drei Grand-Slam-Turniere, Wimbledon, US Open und Australian Open. Die Geschichte bestätigte bislang ihre Einschätzung. Ein spanischer Champion nach dem anderen hatte in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwar im RolandGarrosStadion gesiegt, aber nie bei den anderen großen Turnieren. Diesen Trend hatte ich 2005 fortgesetzt und damit das Vorurteil bestätigt.

Aber ich war erst 19 und erlebte ein fantastisches Jahr, ganz gleich, was die Zukunft bringen mochte. Ich gewann ein wichtiges Turnier in Kanada, das Montreal Masters, bei dem ich André Agassi im Finale in drei Sätzen besiegte, und gewann Ende des Jahres bei dem Madrid Masters, eine echte Herausforderung auf einem schnellen Bodenbelag, der mir überhaupt nicht lag: Hartplatz in der Halle. Madrid bedeutete in dieser Hinsicht einen Wendepunkt, ein ungemein ermutigendes Zeichen, dass es durchaus in mir steckte, mein Spiel allen Gegebenheiten anzupassen. Im Finale holte ich einen Rückstand von zwei Sätzen auf und gewann gegen einen Rivalen mit starkem Aufschlag, Ivan Ljubicic aus Kroatien, dessen Spielweise so gut zur Halle passte wie meine zum Sandplatz.

Alles in allem gewann ich 2005 elf Turniere, ebenso viele wie Federer in diesem Jahr, und gelangte auf Platz zwei der Weltrangliste. Allmählich wurde ich über Spanien hinaus bekannt und schien auf dem Sprung, mein Spiel auf ein höheres Niveau zu heben. Das Jahr 2006 lag strahlend vor mir. Das dachte ich zumindest. Denn nach Madrid kam das Pech. Derselbe Fußknochen, der mich im Vorjahr gezwungen hatte, die gesamte Sandplatzsaison auszulassen, machte mir wieder zu schaffen. Aber dieses Mal war die Verletzung weitaus ernster und erwies sich als die beängstigendste Episode meiner Profikarriere.

Den ersten stechenden Schmerz verspürte ich am 17. Oktober während des Spiels gegen Ljubicic in Madrid. Damals nahm ich ihn nicht sonderlich ernst, da ich Schmerzen bei Wettkämpfen gewöhnt war, und spielte weiter. Abends wurden die Schmerzen immer stärker, was mich aber immer noch nicht beunruhigte. Ich hielt es für eine unausweichliche Folge des harten Fünf-Satz-Matchs. Das würde sich am nächsten Tag wieder legen. Am folgenden Morgen stellte ich beim Aufwachen fest, dass der Fuß stärker geschwollen war als am Abend zuvor. Ich stand auf, konnte aber den Fuß nicht mit meinem ganzen Körpergewicht belasten. Stark humpelnd sagte ich meine Teilnahme am nächsten Turnier in der Schweiz ab und flog nach Hause, um meinen Arzt, Ángel Cotorro, aufzusuchen. Er konnte nichts Ernsthaftes feststellen und vermutete, dass es lediglich eine Frage der Zeit sei, bis der Knochen völlig verheilt sein würde. Nach einigen Tagen humpelte ich nicht mehr und flog nach Shanghai, um an dem großen Masters-Turnier teilzunehmen. Aber kaum hatte ich mit dem Training begonnen, kehrten die Schmerzen so stark zurück, dass ich das Turnier aufgeben musste, noch bevor es angefangen hatte. Ich flog wieder nach Hause und ruhte mich zwei Wochen lang aus, ohne trainieren zu können. Schließlich nahm ich das Training wieder auf, aber schon am zweiten Tag meldete sich der stechende Schmerz wieder, und verzweifelt merkte ich, dass ich nicht weitermachen konnte.

Dr. Cotorro vertraue ich mein Leben an. Er war damals mein Arzt, ist es heute und wird es, wenn es nach mir geht, bis zu meinem Rückzug vom aktiven Sport bleiben. Aber er konnte nichts feststellen und mir nichts anderes als Ruhe verordnen. Also ruhte ich mich weitere zwei Wochen lang aus. Die Zwangspause erstreckte sich von November bis in den Dezember. Allmählich wurde ich nervös, weil der Arzt alles versuchte, aber nicht herausfand, was mir eigentlich fehlte. Der Fuß blieb geschwollen und schmerzte nicht weniger, sondern mehr. Auf Empfehlung meines Onkels Miguel Ángel wandten wir uns an einen Fußspezialisten, den er aus seiner Zeit als Profifußballer in Barcelona kannte. Der Spezialist machte einige Magnetresonanztomographien, musste aber zugeben, dass die Verletzung trotz seiner ganzen Erfahrung sein Fachwissen überstieg. Meine letzte Hoffnung war seiner Ansicht nach ein Spezialist in Madrid, der eine Doktorarbeit über eben jenen Fußknochen geschrieben hatte, der mir Probleme bereitete. Also fuhr ich mit meinem Vater, Toni, Joan Forcades und meinem früheren Physiotherapeuten Juan Antonio Martorell nach Madrid. Meine von Sorge erfüllte Welt und auch die meiner Familie drehte sich mittlerweile nur noch um meinen linken Fuß, vielmehr um den kleinen Knochen, an dem die Schwellung saß.

Mitte Dezember, zwei Monate nach meinem letzten Wettkampf, saßen wir voller Unruhe im Sprechzimmer des Madrider Arztes, der das Problem endlich ergründete. Es hätte eine Erleichterung sein können, war es aber nicht. Die Prognose war so trist, dass ich in das tiefste, schwärzeste Loch meines Lebens fiel.

Es handelte sich um eine seltene Erbkrankheit, die bei Männern noch seltener vorkommt als bei Frauen und für die dieser Arzt weltweit als Spezialist galt. Er hatte darüber seine Doktorarbeit geschrieben. Der betreffende Fußwurzelknochen, Kahnbein genannt, sitzt auf der Großzehseite im Spann des Fußes. Wenn das Kahnbein in der frühen Kindheit nicht so verknöchert oder verhärtet, wie es sollte, hat das beim Erwachsenen schmerzhafte Folgen, umso mehr wenn der Fuß wiederholten Belastungen ausgesetzt ist, wie sie bei einem Profitennisspieler unvermeidlich sind. Die Gefahr ist umso größer, je stärker der Fuß in frühen Jahren, in denen die Knochenbildung noch nicht abgeschlossen ist, ungewöhnlich intensiven Belastungen ausgesetzt ist, wie es bei mir eindeutig der Fall war. Die Folge kann eine leichte Deformation dieses Knochens sein, der größer wird, als er sein sollte, und leichter bricht, was bei mir im Vorjahr passiert war. Davon hatte ich mich zwar erholt, aber da ich von dem Grundübel nichts wusste, hatte ich dem Problem keine weitere Beachtung geschenkt, was nun zu erheblichen Komplikationen geführt hatte.

Dieses geschädigte Kahnbein, von dessen Existenz ich bis dahin nicht einmal gewusst hatte, erwies sich als meine persönliche Variante der Achillesferse: als anfälligster, potenziell destruktiver Teil meines Körpers. Nachdem der Spezialist das Problem diagnostiziert hatte, fällte er sein Urteil. Er erklärte, es sei möglich, dass ich nie wieder an Tenniswettkämpfen teilnehmen könnte. Möglicherweise müsste ich im Alter von 19 Jahren den Sport aufgeben, in den ich meine Lebensträume investiert hatte. Ich brach zusammen und weinte; wir alle weinten. Mein Vater fand seine Fassung als Erster wieder und versuchte, die Lage in den Griff zu bekommen. Während wir anderen hilflos zu Boden starrten, überlegte er sich einen Plan. Mein Vater ist ein praktisch veranlagter Mensch und besitzt die Gabe von Führungskräften, umso ruhiger und gefasster zu werden, je schwieriger die Lage wird. Sein heiteres Naturell sorgt bei ihm für eine Einstellung, die kein Problem für unüberwindlich hält. Er ist zwar kein Sportler, hat aber die Mentalität eines Siegers. Daher behaupten die anderen Familienmitglieder, als Wettkämpfer sei ich ihm sehr ähnlich. Das mag schon sein, aber an jenem Tag, als ich von meinem Gefühl her weiter denn je von einem Tennisplatz entfernt war, war bei mir keine Spur von Heiterkeit oder praktischem Denken zu spüren. Ich war am Boden zerstört. Alles, worauf ich mein Leben lang hingearbeitet hatte, stürzte vor meinen Augen zusammen.

In diese trostlose Stimmung brachte mein Vater einen winzigen Hoffnungsschimmer. Er sagte zwei Dinge: Er sei zuversichtlich, dass wir eine Lösung finden würden – er erinnerte uns, dass der Arzt gesagt hatte, die Verletzung »könnte« meine Karriere gefährden –, und wenn alle Stricke rissen, könne ich mich erfolgreich meiner neuen, wachsenden Leidenschaft, dem Golfspielen, widmen. »Bei deinem Talent und deinem Mumm sehe ich keinen Grund, warum du es nicht zu einem Profigolfer bringen solltest«, erklärte er.

Diese recht vage Möglichkeit sollte vorerst und hoffentlich für immer warten. Die unmittelbare Frage an den Arzt war die nach einer Lösung. Und falls es sie geben sollt, welche? Abgesehen von einer Operation mit ungewissem Ausgang gab es seiner Ansicht nach nur eine Möglichkeit. Eine recht banale, nicht eigentlich medizinische Abhilfe. Man könnte probieren, die Sohlen meiner Tennisschuhe in millimetergenauen Versuchen anzupassen und sehen, ob sich eine Form findet, die dem Knochen die nötige Polsterung verschafft, um die Belastung für das Kahnbein zu verringern. Sollte dies funktionieren, gäbe es allerdings ein weiteres Risiko, warnte er: Die subtile Verlagerung des Körpergewichts durch die veränderten Sohlen könnte sich nachteilig auf andere Körperteile wie Knie oder Rücken auswirken.

Die Stimmung meines Vaters hellte sich auf. Er erklärte, mit diesem Problem würden wir uns befassen, wenn es soweit wäre, und machte sofort einen Plan für das weitere Vorgehen. Wir sollten uns umgehend mit dem Fußspezialisten in Barcelona in Verbindung setzen, den wir bereits konsultiert hatten, und von ihm und Dr. Cotorro die neuen Sohlen entwickeln lassen. Nachdem er das gesagt hatte, verschwand mein Vater bester Laune zu einem für diesen Abend angesetzten Geschäftsessen und ließ uns in einer Mischung aus vager Hoffnung und Begräbnisstimmung zurück. Nach den Enttäuschungen der vergangenen beiden Monate, in denen die Heilung meines Knochens keinerlei Fortschritte gemacht hatte, sah ich wenig Grund zu der Annahme, dass die ins Auge gefassten Schuhsohlen eine Lösung bringen würden. Der Fuß schmerzte unvermindert, und nach meiner Einschätzung gab es allenfalls eine geringe Chance, dass der Plan funktionieren könnte. Allerdings war sie nicht groß genug, um zu verhindern, dass ich völlig niedergeschlagen nach Hause fuhr und mich auf das traurigste Weihnachtsfest meines bisherigen Lebens einstellte.

Ich hatte das Gefühl, mein Leben sei ruiniert. Rückblickend findet meine Familie, dass ich in dieser Zeit völlig verändert und nicht wiederzuerkennen war. Normalerweise war ich zu Hause gut gelaunt, lachte und scherzte viel, vor allem mit meiner Schwester. Nun war ich gereizt, abweisend und finster. Ich konnte es nicht ertragen, mit meiner Freundin María Francisca darüber zu sprechen, die über meine Veränderung zunehmend verwundert und beunruhigt war. Wir waren erst seit einigen Monaten zusammen, und nun war ich Tag und Nacht ein Häufchen Elend und wohl kaum attraktiv für eine 17Jährige, die das Leben genießen wollte. Sonst eher hyperaktiv, konnte ich nun kaum mit dem Fuß auftreten, geschweige denn Tennis spielen, lag stundenlang auf dem Sofa und starrte in die Luft oder saß im Bad oder auf der Treppe und weinte. Ich lachte nicht, ich lächelte nicht, ich wollte nicht reden. Ich verlor meine Lebensfreude.

Meine Eltern reagierten, Gott sei Dank, genau richtig. Sie machten deutlich, dass sie da waren, wenn ich sie brauchte, überschütteten mich aber nicht mit Aufmerksamkeit. Sie versuchten nicht, mich aus meiner trübseligen Stimmung zu holen, bombardierten mich nicht mit Fragen, versuchten nicht, mich zum Reden zu bringen, wenn ich nicht wollte. Sie fuhren mich mit der klaglosen Gelassenheit zum Arzt und sonst wohin, wie mein Vater es schon früher als mein unermüdlicher Chauffeur auf ganz Mallorca getan hatte. Sie waren einfühlsam, liebevoll und zeigten deutlich, dass sie zu mir halten würden, ganz gleich, ob ich je wieder Tennis spielen würde oder mit meinem Leben etwas anderes anfangen müsste.

Auch Toni trug seinen Teil dazu bei. Er rüttelte mich auf und sagte mir, ich solle mich nicht in Selbstmitleid ergehen. »Komm schon«, erklärte er, »lass uns rausgehen und trainieren.« Es klang verrückt, aber er hatte einen Plan, auch wenn er nicht unbedingt taugte, Wimbledon oder auch nur die U12Balearenmeisterschaft zu gewinnen. Auf seine Anweisung hin humpelte ich auf Krücken auf den Tennisplatz, setzte mich auf einen Stuhl (einen ganz normalen Stuhl, keine Sonderanfertigung), nahm den Schläger und drosch auf Bälle ein. Damit ich nicht aus der Übung käme, erklärte Toni. Es war vor allem eine psychologische Übung. Eine Möglichkeit, mir die Zeit zu vertreiben, mich aus meinen trübsinnigen Grübeleien herauszuholen und mir ein bisschen Hoffnung zu machen. Toni spielte mir Bälle zu, anfangs aus kurzer Entfernung, später, als ich den Dreh heraus hatte, von der anderen Seite des Netzes. Sitzend spielte ich die Bälle mit Volleys, Rückhand oder Vorhand zurück. Wir variierten die Übungen so gut es unter diesen Umständen ging, was nicht sonderlich vielfältig war. Aber wie erhofft, hob es meine Stimmung, auch wenn es mein Spiel nicht verbesserte und auch meinen Armen nicht gerade gut tat. Dieses seltsame Training, das uns verblüffte Blicke von Zuschauern eintrug, machten wir über drei Wochen täglich 45 Minuten, und jedes Mal waren meine Unterarme anschließend steif und taten weh. Außerdem schwamm ich, die einzige sportliche Betätigung, bei der ich meine Beine einsetzen konnte. Da ich aber kein guter Schwimmer bin, war dieser Zeitvertreib für mich kein sonderlicher Spaß, obwohl es gut war, sich etwas Bewegung zu verschaffen.

Ruhe, völlige Ruhe war gut für meinen Fuß. Der Schmerz ließ nach. Der Kahnbeinspezialist in Madrid, dessen Diagnose anfangs wie ein Schock auf mich gewirkt hatte, erwies sich als meine Rettung. Nach vielem Experimentieren hatten wir passende Sohlen für meine Schuhe so weit entwickelt, dass ich damit zurechtkam. Es war keine Ideallösung für meinen Körper als Ganzes (uns war klar, dass sie Nebenwirkungen nach sich ziehen würde), aber sie milderte das Kahnbeinproblem. Die Hauptlast des Körpergewichts verteilte sich nun auf die anderen Fußknochen, was das lädierte Kahnbein entlastete. Nike entwickelte für mich einen breiteren und höheren Schuh, als ich ihn früher getragen hatte. Ich brauchte einen größeren Schuh, weil die Sohle nun erheblich dicker und höher gewölbt war, vor allem in dem Bereich, der als Polster für das Kahnbein diente. Anfangs war es unangenehm, sich an die neue Sohle zu gewöhnen, weil der Schuh das Gewicht auf eine andere Region als üblich verlagerte und damit meine Balance beeinträchtigte. Wie der Spezialist vorhergesagt hatte, wurden meine Muskeln an Stellen strapaziert, die mir vorher nie Probleme bereitet hatten, im Rücken und an den Hüften.

Wir taten, was wir konnten, aber als ich mit den neuen Schuhen zu trainieren begann, stellten sich ständig neue Schwierigkeiten ein und zwangen uns zu winzigen, aber entscheidenden Veränderungen der Sohlen. Das ist bis heute so geblieben. Es ist eine Dauerbaustelle. Bislang haben wir die Anpassung noch immer nicht absolut richtig hinbekommen. Vielleicht gibt es keine perfekte Lösung. Tatsache ist, dass seitdem Jahre vergangen sind, mein Kahnbein nach wie vor schmerzt und mich zuweilen zwingt, das Training zu verkürzen. Auf diesen Körperteil verwendet Titín bei der Massage die meiste Zeit. Wir haben das Problem gerade so unter Kontrolle, dürfen es aber nie aus den Augen lassen.

Die fabelhafte Nachricht war, dass ich im Februar wieder uneingeschränkt trainieren konnte. Noch im selben Monat nahm ich in Marseille an meinem ersten Turnier nach einer Zwangspause von nahezu vier Monaten teil. Auf den Platz zu gehen, aus den Lautsprechern meinen Namen zu hören, die Zuschauer zu sehen und zu hören, hinauszugehen und mich vor einem Match einzuschlagen: Davon hatte ich geträumt, oder besser, kaum noch zu träumen gewagt, und nun war ich wieder da. Noch hatte ich nichts gewonnen, aber allein schon auf den Platz zu gehen machte mich fast so euphorisch wie ein Sieg. Ich hatte das Leben wiedergewonnen, das ich verloren glaubte. Noch nie war mir so bewusst, wie wertvoll das war, was ich besaß, welches unermessliche Glück ich hatte, ein Profitennisspieler zu sein. Gleichzeitig begriff ich jedoch deutlicher denn je, dass eine Sportlerkarriere kurz ist und jeden Augenblick vorzeitig enden kann. Es galt, keine Zeit zu verschwenden. Von nun an würde ich jede Gelegenheit, die sich mir bot, mit beiden Händen ergreifen. Denn von diesem Zeitpunkt an war mir klar, dass ich nie sicher sein konnte, ob das Match, das ich gerade spielte, nicht mein letztes wäre. Aus dieser Einsicht gab es für mich nur eine Schlussfolgerung: Ich musste mich auf jedes Match im Training so vorbereiten und es so spielen, als ob es mein letztes wäre. Ich war dem Tennistod nahe gewesen, hatte dem Ende meiner Karriere ins Auge gesehen, und diese Erfahrung, so furchtbar sie war, hatte mich mental stärker gemacht und mir vermittelt, dass das Leben – jedes Leben – ein Wettlauf gegen die Zeit ist.

Ich war schneller wieder in Form, als ich für möglich gehalten hatte, schaffte es in Marseille bis ins Halbfinale und gewann mein nächstes Turnier in Dubai. Dort schlug ich Federer im Finale auf einem Hartplatz, also auf dem Belag, der meinen Fuß am stärksten strapaziert. Für mein Selbstvertrauen bedeutete es einen enormen Schub, denn ich wusste nun, dass ich wieder da war. Eine merkwürdige und ermutigende Feststellung war, dass mein Fuß im Training erheblich mehr schmerzte als während eines Turniers. Titín, auf dessen Urteil ich in praktisch allen Dingen vertraue, hatte eine Erklärung dafür. Nach seiner Ansicht lag es einerseits am Adrenalin und den Endorphinen, die der Körper während eines Matchs ausschüttete und die als natürliche Schmerzmittel wirkten, andererseits aber auch an meiner völligen Konzentration während des Matchs, die mich so weit von der physischen Welt entrückte, dass ich Unangenehmes weniger wahrnahm, auch wenn es vorhanden war.

Eine Veränderung, die wir nach meiner Verletzungspause vornahmen, war, das Training zu reduzieren. Mein Fitnesstrainer, Joan Forcades, war nie ein Verfechter von Langstreckenläufen, wie andere Tennisspieler sie meines Wissens machen. Wenn wir liefen, dann nie länger als eine halbe Stunde. Nun verzichteten wir ganz auf das Laufen. In Anbetracht der Tatsache, dass ich normalerweise etwa 90 Matchs im Jahr bestritt, genügte das an sich schon als Aerobictraining. Als unmittelbare Reaktion auf meinen anfälligen Fuß reduzierten wir zudem meine gesamten Trainingszeiten auf dem Tennisplatz wie auch im Fitnessstudio. Vor meiner Verletzung hatte ich bis zum Alter von 18 Jahren täglich fünf Stunden und länger trainiert; heute sind es dreieinhalb Stunden, die ich zudem weniger intensiv gestalte als früher. Ich trainiere nicht mehr über zwei Stunden bei voller Leistung, sondern spiele 45 Minuten hundertprozentig und arbeite an speziellen Aspekten wie Volley oder Aufschlag.

Ich werde nie aufhören, als Spieler um jeden Ball zu kämpfen. Defensive und Konter prägen weiterhin meinen Stil. Aber wenn ich mir etwa Videos meines Matchs im Daviscup-Finale von 2004 gegen Andy Roddick ansehe, fällt mir eine kämpferische Dynamik auf, die in meinem Spiel heute nicht mehr so häufig zu finden ist. Ich bin gemäßigter, sparsamer in meinen Bewegungen und habe an der Verbesserung meines Aufschlags gearbeitet. Er ist noch immer nicht meine Stärke und bleibt deutlich schwächer als der von Federer und vieler anderer Spieler. Aber ich habe vor meiner Rückkehr in den Tennisbetrieb im Februar 2006 gezielt daran gearbeitet und die Geschwindigkeit erheblich erhöht, wie Toni mir bestätigt. Vor meiner Verletzung hatten meine Aufschläge eine Geschwindigkeit von 160 Stundenkilometern, in Marseille erreichten sie regelmäßig über 200 Stundenkilometer.

Der schnellere Aufschlag hätte mir in zwei wichtigen Turnieren helfen sollen, an denen ich regelmäßig Anfang des Jahres in den USA teilnehme, Indian Wells und Miami, aber wieder einmal schied ich bei beiden aus. In Miami scheiterte ich schon in der ersten Runde an meinem alten Freund Carlos Moyá. Gefälligkeiten gab es keine, doch umgekehrt war ich bei unserer Begegnung drei Jahre zuvor in Hamburg mit ihm auch nicht gerade sanft umgegangen.

Anschließend ging es wieder ans Mittelmeer. In diesem Jahr wieder nach Monte Carlo zu kommen war wie eine Heimkehr. Ich spielte wieder auf Sand und an dem Ort, an dem ich mein erstes ATP-Turnier gewonnen hatte. Wieder traf ich im Endspiel auf Federer und gewann erneut. Als Nächstes traf ich im Finale von Rom auf ihn. Es war ein Killermatch, ein echter Test, ob ich mich von meiner Verletzung erholt hatte. Ich hatte mich erholt. Das Match ging über fünf Sätze und dauerte fünf Stunden. Ich wehrte zwei Matchbälle ab und gewann. Schließlich kam das Roland-Garros-Turnier und mit ihm eine Chance, an die ich vier Monate zuvor niemals geglaubt hätte: die Chance, meinen French-Open-Titel zu verteidigen. Mir bedeutete es mehr, hier wieder anzutreten, als mir die Teilnahme im Vorjahr bedeutet hatte, obwohl es damals mein erster Auftritt in Paris war. Dieses Turnier zu gewinnen würde für mich und meine Familie bedeuten, dass der Albtraum, den wir durchgemacht hatten, zwar nicht vergessen, aber doch überwunden war und wir klar und zuversichtlich den Weg zum Erfolg weiterverfolgen könnten, der beinahe ein endgültiges Ende genommen hatte. Außerdem musste ich etwas beweisen: Ich wollte zeigen, dass mein Sieg 2005 kein Ausreißer war, sondern dass ich auf Dauer in die Grand-Slam-Liga gehörte.

Ich schaffte es auf einem mühsamen Weg ins Finale, indem ich einige der damaligen Spitzenspieler besiegte, darunter den Schweden Robin Soderling, den Australier Lleyton Hewitt und im Viertelfinale Noval Djokovic. Djokovic war ein Jahr jünger als ich, ein verteufelt guter Spieler, temperamentvoll und ungemein talentiert. Toni und ich hatten uns über ihn unterhalten, und ich hatte ihn nun schon seit einer Weile im Auge behalten und festgestellt, dass er mir stetig näher rückte. Er war die Rangliste hinaufgestürmt, und ich hatte den Eindruck, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis er mich eingeholt hätte und nicht mehr nur ich, sondern wir beide es mit Federer aufnehmen würden. Djokovic hatte einen starken Aufschlag, war schnell, drahtig und sowohl bei der Vorhand als auch bei der Rückhand – oft schwindelerregend – stark. Vor allem aber spürte ich, dass er große Ambitionen hatte und eine Siegermentalität besaß. Obwohl er eher ein Hartplatz- als ein Sandplatzspieler ist, besaß er genügend Kampfgeist, um mir im Roland-Garros-Stadion das Leben schwer zu machen. Die ersten beiden Sätze gewann ich 6:4,

6:4 und stellte mich auf ein langwieriges Match ein, als er wegen einer Verletzung aufgeben musste – Pech für ihn, Glück für mich.

Im Finale stand ich dann erneut Federer gegenüber. Den ersten Satz verlor ich 6:1, gewann aber die folgenden drei Sätze, den letzten im Tiebreak. Als ich mir später die Videoaufzeichnung anschaute, fand ich, dass Federer insgesamt besser gespielt hatte, aber in einer höchst angespannten Atmosphäre (er brannte auf seinen vierten Grand-Slam-Titel in Folge, ich wollte unbedingt die Geister meiner Auszeit bannen) hatte ich mich durchgesetzt.

Carlos Moyá meinte, Federer sei nicht ganz er selbst, wenn er gegen mich spielte. Seiner Ansicht nach hatte ich ihn durch Zermürbung besiegt, indem ich ihn in Fehler getrieben hatte, die für einen Mann seines Formats untypisch waren. Diese Taktik hatte ich mir zwar zurechtgelegt, aber ich glaube, ich gewann auch, weil mein Sieg im Vorjahr mir ein Selbstvertrauen verlieh, das mir ansonsten gefehlt hätte, besonders gegen Federer. Wie auch immer, ich hatte meinen zweiten Grand-Slam-Sieg errungen.

Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war das ein unglaublich emotionaler Moment für mich. Wie im Vorjahr stürmte ich auf die Tribüne, suchte aber dieses Mal meinen Vater. Wir fielen uns in die Arme und weinten beide. »Danke, Papa, für alles!«, sagte ich. Er zeigt nicht gern seine Gefühle. Während meiner Verletzungspause hatte er gemeint, stark und gefasst wirken zu müssen, und so begriff ich erst jetzt, wie mühsam er gegen einen Zusammenbruch angekämpft hatte. Anschließend umarmte ich meine Mutter, die ebenfalls in Tränen aufgelöst war. In diesem Moment des Sieges erfüllte mich vor allem der Gedanke, dass ich diese schwierige Zeit nur dank ihrer Unterstützung durchgestanden hatte. Der Sieg bei den French Open 2006 bedeutete, dass wir das Schlimmste überstanden hatten und stärker daraus hervorgegangen waren. Ich weiß, dass es für meinen Vater der freudigste Augenblick meiner gesamten Karriere war. Wenn mein Fuß gegen den Allerbesten durchgehalten hatte, würde er seiner Ansicht nach noch eine ganze Weile weiter durchhalten. Für ihn, der am besten von allen wusste, was ich durchgemacht hatte, bedeutete dieser Sieg eine Rückkehr ins Leben.

Nun konnte ich ernsthaft daran denken, meinen Lebenstraum zu verwirklichen: Wimbledon zu gewinnen. Carlos Costa erinnert sich noch an die Reaktion auf meinen ersten French-Open-Sieg von 2005: »Gut, und jetzt Wimbledon.« Später gab er zu, dass er damals fand, dass ich zu hoch hinauswolle. Er glaubte nicht, dass es in mir steckte, dort zu gewinnen. Aber als ich nach meinem Sieg im Roland-Garros-Stadion 2006 erneut bekräftigte, ich wolle Wimbledon gewinnen, sagte er mir, er habe seine Meinung inzwischen geändert. Das lag zum Teil an der Tatsache, dass Rasen für meinen Fuß der schonendste Belag ist, vor allem aber war er inzwischen überzeugt, dass ich die nötige Mentalität besaß, um auf einer solch großen Bühne zu gewinnen. Carlos, der als ehemaliger Spitzentennisspieler großen Respekt vor den Grand-Slam-Turnieren hat, glaubte allerdings nicht, dass die beiden anderen großen Turniere, die US Open und die Australian Open, für mich erreichbar wären. Wimbledon schon. Also schloss er sich meiner Überzeugung an, dass ich eines Tages die goldene Trophäe hochhalten würde.

Trotz des Selbstvertrauens, das ich nach außen zur Schau stellte, fehlte mir in Wahrheit der nötige Glaube an mich selbst, das Turnier zu gewinnen, als sich mir einen Monat später die Chance bot. Ich schaffte es zwar ins Wimbledon-Finale, aber Federer besiegte mich müheloser, als das Ergebnis von 6:0, 7:6, 6:7, 6:3 vermuten lässt.

Mittlerweile waren zwei Jahre vergangen, wir standen im Finale von 2008, ich lag mit 2:1 Sätzen in Führung und hatte Aufschlag. Von der spielerischen Qualität her war der vierte Satz vielleicht der beste dieses Finales. Wir waren beide auf der Höhe unseres Spiels, beendeten lange Ballwechsel mit einem Winner nach dem anderen und machten nur wenige Fehler. Ich lag immer ein Spiel in Führung, weil ich den ersten Aufschlag hatte und Federer jeweils seinen Aufschlag durchbringen musste, um überhaupt im Match zu bleiben. Aber das gelang ihm jedes Mal. Man behaupte nie, Federer sei kein Kämpfer.

Der Satz ging ins Tiebreak, und ich hatte den ersten Aufschlag. Die Zuschauer hatten mittlerweile jegliche Zurückhaltung aufgegeben, die eine Hälfte brüllte: »Roger! Roger!«, die andere Hälfte brüllte: »Rafa! Rafa!« Beim ersten Ballwechsel ging ich ausnahmsweise ans Netz und wurde sofort daran erinnert, weshalb ich das so selten tue. Federer antwortete mit einem mühelosen Passierschlag auf der Vorhandseite. Ein schlechter Start. Aber dann hatte ich einen erstaunlichen Lauf. Selbstbewusst und als Herr meines Spiels holte ich beide Punkte bei seinem Aufschlag. Anschließend schlug ich Federer mit seinen eigenen Waffen, servierte ein Ass, gefolgt von einem guten ersten Aufschlag, den er nicht returnieren konnte. Damit lag ich 4:1 in Führung. Wenn ich jetzt meine restlichen Aufschläge durchbrächte, wäre ich Wimbledon-Sieger. Noch wagte ich mir den Sieg nicht vorzustellen, obwohl meine Bälle durchweg gut kamen. Aber ich ballte nicht die Fäuste, wie ich es unter ähnlichen Umständen sonst tat. Ganz bewusst bemühte ich mich, so cool und fokussiert zu bleiben, wie ich nur konnte, den Eindruck zu erwecken, als hätte ich keine Nerven. Ich versuchte mich ständig zu ermahnen, dass ich es mit Federer zu tun hatte, einem Tennisspieler, der es besser als jeder andere verstand, aus dem Nichts noch etwas hervorzuzaubern.

Er hatte Aufschlag, und ich war entspannter, als ich es bei meinem nächsten Aufschlag sein würde, da mir bereits zwei Mini-Breaks gelungen waren und ich in Führung lag. Wenn ich ihm bei seinem Aufschlag noch einen Punkt abjagen könnte, wäre das ein unerwartetes Geschenk, auf das ich jedoch nicht angewiesen war. Ich stand nicht unter demselben Druck wie er, die nächsten beiden Punkte zu holen, und das verschaffte mir eine kurze Verschnaufpause bis zu meinem nächsten Aufschlag. Ich sagte mir: »Bleib bei deiner Spieltaktik, schlage weiter hohe Topspins auf seine Rückhand.« Aber beim nächsten Ballwechsel umlief er die Rückhand und holte den Punkt mit einer kraftvollen Vorhand entlang der Seitenlinie.

Beim Seitenwechsel lag ich 4:2 in Führung. Ich trank wie üblich je einen Schluck aus meinen beiden Wasserflaschen; er ging wieder auf den Platz. Ich sprang nach ihm auf und lief, um den Ball anzunehmen. Der nächste Ballwechsel war nervenaufreibend und lang, fünfzehn Schläge, die wir beide vorsichtig spielten, wobei ich den potenziell selbstmörderischen Drang unterdrückte, das Spiel mit einem Drive zu beenden. Schließlich verlor er als Erster die Nerven und schlug eine Rückhand weit ins Aus. Ich erlaubte mir einen kurzen Jubel: einen diskreten, beherrschten Punch in Zeitlupe. Nichts allzu Überschwängliches, nichts, was die Zuschauer auf dem Centre Court sehen konnten, aber innerlich kam ich nicht gegen das Gefühl an, dass ich ganz, ganz kurz vor dem Ziel war. Als ich mit einer Führung von 5:2 Aufschlag hatte, meinte ich, meinen Lebenstraum in Reichweite zu haben. Doch das sollte mein Untergang sein.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Adrenalin die Oberhand über meine Nervosität behalten; plötzlich aber übertrumpfte die Nervosität alles. Ich fühlte mich, als ob ich am Rand eines Abgrunds stünde. Als ich den Ball vor meinem ersten Aufschlag vom Boden hochschnellen ließ, dachte ich: »Wohin soll ich ihn schlagen? Soll ich mutig sein und auf seinen Körper zielen, ihn versuchen zu überraschen, obwohl ich mit dieser Eröffnung vor zwei Sätzen gescheitert war?« Ich hätte nicht so viel darüber nachdenken sollen. Ich hätte den Aufschlag weit auf seine Rückhand spielen sollen, wie ich es die ganze Zeit getan hatte. Aber ich schlug den Ball gerade, hart und zu weit. Jetzt war ich erst recht nervös. Ich hatte mich auf unbekanntes Terrain mit Gefühlen begeben, die ich so noch nie erlebt hatte. Als ich den Ball in die Luft warf, dachte ich: »Doppelfehlergefahr: vermassele es nicht.« Aber ich wusste, dass ich es vermasseln würde. Ich war so nah dran. Und prompt schlug ich den zweiten Aufschlag ins Netz. Meine Nervosität fraß mich auf. Aber sie erwuchs nicht aus der Angst zu verlieren, sondern aus der Angst heraus zu gewinnen. Ich wollte den Wimbledon-Sieg unbedingt, wünschte mir nichts sehnlicher, als dieses Match zu gewinnen, ein Moment, auf den ich fast mein ganzes Leben lang hingefiebert hatte: Das war die tiefere Wahrheit, die ich die ganze Zeit über geistig von mir wegschob, indem ich versuchte, mich in diesem Match auf einen Punkt nach dem anderen zu konzentrieren und weder zurück noch nach vorn zu schauen. Aber die Versuchung, nach vorn zu schauen, war zu groß; meine Aufregung knapp vor dem Sieg war so etwas wie Verrat für mich.

Die Angst zu gewinnen bedeutet, dass du zwar weißt, wie du zu spielen hast, dass aber Beine und Kopf nicht reagieren. Die Nerven ergreifen von ihnen Besitz, und du kannst nicht durchhalten. Angst vor einer Niederlage war es nicht, denn in keiner Phase des Matchs hatte ich das Gefühl, nicht gewinnen zu können. Ich verlor nie den Mut. Von Anfang bis Ende hatte ich vielmehr das Gefühl, eine Niederlage nicht zu verdienen, alles richtig zu machen und mich vor dem Match bestmöglich vorbereitet zu haben.

Aber als ich beim Stand von 5:3 zum nächsten Aufschlag ansetzte, war diese Überzeugung verschwunden. Ich verlor den Mut. Denn statt weiterzuspielen und den Rückschlag durch meinen Doppelfehler sofort aus meinem Kopf zu verbannen, ließ ich mich beim nächsten Aufschlag davon beirren. Ich dachte: »Ganz gleich, was du machst, sieh zu, dass der erste Aufschlag sitzt. Riskiere ja keinen zweiten Doppelfehler. Bring den ersten Aufschlag irgendwie rein.« Und das tat ich, aber es war ein schwacher Aufschlag, ein vorsichtiger zweiter Aufschlag, der sich als erster Aufschlag ausgab, ein feiger Aufschlag. Ja, das ist genau das richtige Wort. Es war ein Moment der Feigheit. Und er erlaubte Federer sofort, zum Angriff überzugehen. Sein Return kam tief, ich reagierte mit einem kurzen Schlag, er schlug wieder tief und ich versagte – kläglich – bei meiner Rückhand und schlug den Ball lahm ins Netz. Es war durchaus kein Ball, der unmöglich zu schaffen war; neun von zehn Mal hätte ich keinerlei Probleme damit. Ich hätte ihn vielleicht sogar in einen Winner verwandeln können. Aber mein Arm war verspannt, ich war aus dem Rhythmus geraten, mein Körper war nicht in Position. Statt mich voller Überzeugung in den Schlag zu stürzen, hatten sich meine Beine vor lauter Nervosität verhaspelt.

Damit stand es 5:4, und er hatte Aufschlag. Nun lag die Initiative bei Federer. Er spielte einen hervorragenden ersten Aufschlag weit auf meine Vorhand. Ich drosch den Ball kurz zurück, und er landete einen Winner. Ich dachte: »Ich habe es vermasselt. Aber es steht 5:5, ich bin immer noch im Tiebreak. Wenn ich einen Punkt mache, diesen Punkt, habe ich einen Matchball, um Wimbledon-Champion zu werden. Ich denke zwar: ›Was für ein Schlamassel, aber diesen Punkt werde ich versuchen‹.« Aber er drosch einen weiteren großartigen Aufschlag, und ich war beinahe erledigt. Jetzt hatte er einen Satzball und ich Aufschlag. Plötzlich war ich nicht mehr so nervös wie vorher; nicht mehr so ängstlich, einen Doppelfehler zu machen. Ich war vom Abgrund weggerückt. Die Angst zu gewinnen war verschwunden, und ich fand mich in einer Lage wieder, die zwar weniger komfortabel war, an die ich aber gewöhnt war: Ich musste um den Satz kämpfen. Mein erster Aufschlag ging ins Netz, aber nun dachte ich nicht mehr an einen Doppelfehler. Ich brachte einen ordentlichen zweiten Aufschlag zustande, und es entspann sich ein langer Ballwechsel, bei dem ich ständig auf seine Rückhand hielt. Als ich den Ball weit auf seine Vorhand, aber ein bisschen zu kurz spielte, bekam er seine Chance. Er versuchte einen Drive als Winner, der aber zu lang geriet.

Wieder wechselten wir die Seiten. Wie immer nahm Federer seinen Platz noch vor mir ein. Ich musste mich mit dem Handtuch abreiben und meine zwei Schlucke aus den Wasserflaschen trinken. Erst dann trottete ich an meinen Platz, um aufzuschlagen. Endlich schaffte ich einen guten ersten Aufschlag als Auftakt zu einem langen Ballwechsel, bei dem wir beide die Bälle hart und weit spielten – in seinem Fall schließlich ein wenig zu weit. Der Ball wurde als zu lang gewertet, aber er zweifelte die Entscheidung an. Die Aufzeichnung zeigte, dass der Linienrichter richtig entschieden hatte. Es war ein Moment der Verzweiflung bei Federer, aber ich verstand ihn. In einem so entscheidenden Augenblick hätte ich mich ebenso verhalten. Nun hatte ich einen Matchball bei seinem Aufschlag. Aber er reagierte wie der große Champion, der er nun mal ist, und drosch einen seiner unhaltbaren Aufschläge ins Feld.

Mehr aus Hoffnung als aus Erwartung schaute ich zum Schiedsrichter und legte für alle Fälle Widerspruch ein. Die Entscheidung fiel zu seinen Gunsten aus. Der Ball war genau auf der Linie gelandet. Es stand 7:7, und es folgte ein unglaublicher Punkt. Für mich. Nach einem langen zweiten Aufschlag von ihm spielten wir einige Bälle hin und her, bis er eine Vorhand weit und lang auf meine Vorhand schlug. Ich rannte hinter die Grundlinie, er lief ans Netz, und ich drosch einen niedrigen, geraden Passierschlag longline an ihm vorbei. Ein erstaunlicher Schlag.

Wieder hatte ich einen Matchball und hatte meine Nerven nun im Griff. Ich fand, dass ich es verdient hatte und unmittelbar vor meinem Wimbledon-Sieg stand. Dumm. Wirklich dumm. Es war einer der äußerst seltenen Momente meiner Karriere, in denen ich meinte, gewonnen zu haben, bevor ich tatsächlich gewonnen hatte. Meine Gefühle gingen mit mir durch, und ich vergaß die goldene Tennisregel, dass ein Match erst vorbei ist, wenn es vorbei ist.

Es stand 8:7, und ich hatte einen Matchball bei eigenem Aufschlag. Ich tat genau das, was ich zu tun hatte, und platzierte den Aufschlag weit auf seine Rückhand. Er returnierte mit einem kurzen Ball in die Platzmitte, und eben in diesem Moment, als ich zum Schlag ansetzte, erfüllte mich, noch bevor ich den Ball getroffen hatte, zum ersten Mal in meinem Leben die euphorische Freude, den Sieg in der Tasche zu haben. Ich drosch eine Vorhand in seine Rückhandecke und lief ans Netz in der Überzeugung, dass er den Ball nicht erreichen oder allenfalls einen schwachen Schlag schaffen würde, den ich leicht verwandeln könnte. Das tat er jedoch nicht. Stattdessen spielte er eine sensationelle Rückhand an der Seitenlinie entlang, und ich kam nicht einmal mehr in die Nähe des Balls. Diesen Ballwechsel habe ich im Geiste immer wieder durchgespielt. Er hat sich mir wie eine Videoaufzeichnung eingebrannt.

Was hätte ich anders machen können? Ich hätte den Ball härter und länger oder aber auf seine Vorhandseite spielen können. Allerdings glaube ich bis heute nicht, dass es richtig gewesen wäre, seine Vorhand anzuspielen. Denn wenn ich es getan und er mit einem Passierschlag geantwortet hätte oder den Ball returniert und ich ihn verpasst hätte, wäre ich am Boden zerstört gewesen, weil ich von meinem Plan abgegangen wäre, immer auf seine Rückhand zu spielen. Ich hätte sofort gewusst, dass dies die falsche Entscheidung gewesen war. Und das hätte mental verheerende Auswirkungen für mich gehabt. Wie die Dinge lagen, hatte ich mich richtig entschieden, auch wenn die Ausführung nicht so effektiv war, wie sie hätte sein können. Aber es war auch kein schlechter Schlag. Oft genug hatte er den Schlag darauf verpatzt. Um aber gerecht zu sein, muss ich zugeben, dass es wirklich ein fantastischer Schlag von ihm war, und das in einem Moment, in dem er unter unglaublichem Druck stand. Beim vorhergehenden Ballwechsel hatte ich meinen besten Schlag des Matchs gespielt, und er hatte umgehend mit seinem besten Schlag geantwortet. Erst später, als alles vorbei war, konnte ich darüber nachdenken, dass gerade solche Momente höchster Dramatik dieses Wimbledon-Finale zu etwas Besonderem gemacht hatten.

Dieser Gewinnschlag versetzte ihn in Hochstimmung. Beim nächsten Ballwechsel machte er mich fertig, spielte mit wütendem Selbstvertrauen und holte den Punkt mit einer cross geschlagenen Vorhand, die für mich unerreichbar war. Beim Stand von 9:8 im Tiebreak hatte er nun bei eigenem Aufschlag einen Satzball, aber sein erster Aufschlag war zu lang und löste bei weiten Teilen des Publikums ein äußerst ungewöhnliches, enttäuschtes »Aaah!« aus. Die Zuschauer wollten nicht, dass das Match schon endete. Sie wollten einen fünften Satz sehen. Und den bekamen sie. Mein Return auf seinen zweiten Aufschlag geriet zu lang, und nun standen wir tatsächlich wieder am Anfang: Mit 2:2 Sätzen war der Ausgang des Matchs praktisch wieder offen.