MALLORQUINER

 

 

Es war keineswegs überraschend, dass Sebastián Nadal und seine Frau Ana María das scheinbar verlockende Angebot eines Tennisstipendiums für ihren halbwüchsigen Sohn in Barcelona ablehnten. Ebenso wenig verwunderlich ist es, dass Rafa über die Entscheidung seiner Eltern sehr froh war. Die Insel übt eine starke Anziehungskraft auf Rafa Nadal aus: Wenn er an internationalen Turnieren teilnimmt, vermisst er seine Heimat sehr und fährt immer auf dem schnellstmöglichen Weg nach Hause.

Es sagt viel über seine Wettkampfeinstellung und manches über die Kluft zwischen dem Sportler und dem Privatmenschen aus, dass er sich nur zu Hause ganz als er selbst fühlt. Der Tennisspieler Nadal feiert auf den Tennisplätzen der ganzen Welt Triumphe, der Mensch Nadal fühlt sich außerhalb von Mallorca wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Einerseits hängt das mit dem ausgeprägten Gefühl der Inselbewohner für ihre lokale Identität zusammen, andererseits aber auch mit der Tatsache, dass Mallorca der einzige Ort auf der Welt ist, wo Rafa sich als normaler Mensch fühlen kann, weil es für die Einheimischen selbstverständlich ist, sich ihm gegenüber so zu verhalten, wie es Menschen seiner Ansicht nach tun sollten: nämlich ihn nicht an seinen Erfolgen messen, sondern nach seinem Wesen beurteilen.

Die Nadals sind stolz auf ihre Überzeugung, dass sie die mallorquinische Kultur prägen und von ihr geprägt sind. Dies wird nirgendwo deutlicher als in ihren unverbrüchlichen Familienbanden, aus denen Rafas Antrieb und mentale Kraft erwachsen. Die Stärke der familiären Bindungen auf Mallorca ist selbst in einem Land ungewöhnlich, das so fest in der katholischen Tradition verwurzelt ist wie Spanien. Ein weiteres typisch spanisches Merkmal ist die Loyalität und das Zugehörigkeitsgefühl zum Herkunftsort der eigenen Vorfahren. Aber auch in dieser Hinsicht gehen Mallorquiner noch einen Schritt weiter, und das gilt in besonderem Maße für die Nadals, deren engste Beziehungen sich innerhalb ihrer Heimatstadt Manacor, der drittgrößten Stadt der Insel, bündeln.

Sebastián und Ana María, ihre Eltern und auch ihre Großeltern sind hier geboren und aufgewachsen, ebenso Rafa und seine Freundin María Francisca, mit der er seit über fünf Jahren zusammen ist. Rafa identifiziert sich so stark mit seinem Geburtsort, dass eine Beziehung mit einer Frau von auswärts schlichtweg unvorstellbar wäre. Seine natürliche Umgebung ist Manacor, und eine Liebesbeziehung zwischen ihm und einer Frau aus Miami oder Monte Carlo würde so unnatürlich wirken wie eine Kreuzung zwischen zwei verschiedenen Spezies.

Rafas Verwandtschaft lebt seit über drei Generationen in Manacor oder in dem Küstenvorort Porto Cristo. Auch Rafas engste Freunde stammen nahezu ausnahmslos aus Manacor, nicht zuletzt sein Physiotherapeut Rafael Maymó. Zwei seiner engen Vertrauten von außerhalb, Carlos Moyá und sein Fitnesstrainer Joan Forcades, kamen in Palma, der Hauptstadt Mallorcas, zur Welt.

Auch für die beiden Katalanen in Nadals Profiteam, Carlos Costa und Jordi Robert, gibt es eine Erklärung. Für Mallorquiner gibt es zwei Kategorien von »Fremden«: Katalanen und alle übrigen. Durch die sprachliche und geographische Nähe (die katalanische Hauptstadt Barcelona ist nur eine halbe Flugstunde entfernt) empfinden Mallorquiner die Katalanen als Vettern ersten Grades. Benito Pérez Barbadillo, ein Spanier aus Andalusien, ist in Nadals Team zwar sehr geschätzt und beliebt, allerdings gelten für ihn andere Regeln: Er ist – wie es Andalusier häufig sind – extrovertierter und wird von den anderen mit einer amüsierten, leicht verdutzten Distanz ein wenig als Außenseiter angesehen.

Der Impuls der Mallorquiner zusammenzuhalten, führte bei Besuchern aus anderen Teilen Spaniens zu dem Eindruck, die Inselbewohner seien zutiefst »misstrauisch«. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Insel mag zur Erklärung beitragen. Mallorca, dieser winzige Fleck auf der Landkarte Europas, war seit mindestens 2000 Jahren immer wieder fremden Invasoren und Besatzern ausgesetzt. Zuerst kamen die Römer, dann die Vandalen, die Mauren, die Spanier und mit dem Tourismusboom, der vor 50 Jahren einsetzte, die Briten und Deutschen – »Barbaren aus dem Norden«, wie der Volksmund sie nennt –, von denen viele geblieben sind und die malerischeren Inselregionen kolonisiert haben. (Mallorca hat etwa 800 000 Einwohner, alljährlich schaffen aber 12 Millionen Touristen vorübergehend eine Parallelwelt.)

Zudem plünderten Piraten regelmäßig Mallorcas Küsten. Das mag erklären, warum es bis Mitte des vorigen Jahrhunderts durchaus nichts Ungewöhnliches war, auf Mallorquiner aus dem Inselinneren zu treffen, die im Traum nicht daran dachten, sich je in Küstennähe zu begeben, die das Meer noch nie gesehen hatten oder fragten: »Was ist größer, Mallorca oder das, was jenseits von Mallorca liegt?« Ihre traditionelle Reaktion auf das unvermeidliche Zusammenleben mit fremden Besatzern bestand in einer ruhigen, vorsichtigen Passivität.

Sebastián Nadal, der diesen Eindruck nicht bestreitet, empfiehlt Außenstehenden, die die Kultur seiner Heimat verstehen möchten, ein Büchlein, das bei Einheimischen und Besuchern gleichermaßen beliebt ist: Dear Mallorcans. Es bestätigt allenfalls die Vorstellungen, die andere Spanier über die Inselbewohner hegen, und beschreibt sie als »phlegmatisch« und »immer bereit zuzuhören, aber nicht immer, zu reden«. Das entspricht durchaus dem Charakter Sebastián Nadals und seines Sohnes, passt aber nicht zum gesprächigen Toni, was vielleicht erklärt, weshalb er in seiner Familie ein bisschen als Außenseiter gilt.

Wenn Rafa Nadal die Tenniswelt erobert und sich weltweit einen Namen gemacht hat, so liegt es daran, dass er wie Toni in einigen wesentlichen Aspekten nicht dem Klischee der Inselbewohner entspricht. In Dear Mallorcans heißt es: »Auf Mallorca streben die Menschen eher in der Freude am Leben als in der Arbeit nach Erfolg und haben einen Zeitbegriff, der stärker an Freuden des Nichtstuns als an die materiellen Ergebnisse von Leistung geknüpft ist.« Mit seiner ungewöhnlichen protestantischen Ethik hat Rafa Nadal mehr mit den deutschen Kolonisten der jüngsten Zeit gemeinsam als mit den alteingesessenen Mallorquinern. Carlos Moyá, der ebenfalls von Mallorca stammt und Tennis-Champion war, aber nach eigenem Bekunden erheblich weniger Ehrgeiz besitzt als Nadal, erklärt, dass Rafas und Tonis Siegeshunger nichts mit dem mallorquinischen Charakter zu tun hat, den er als »entspannt, fast karibisch« bezeichnet.

Jenseits vom Tennis besitzt jedoch auch Rafa Nadal die seltsam lässige Einstellung zur Zeit, die die Mallorquiner laut dieser Mallorca-Bibel auszeichnet. Er ist eigentlich nicht pünktlich, und wenn er sich in seiner Heimat mit seinen Freunden amüsiert, hat er keinerlei Probleme damit, bis fünf Uhr morgens in Clubs zu feiern. Im Unterschied zu seinen Freunden steht er jedoch entgegen allen Gepflogenheiten der Inselbewohner vier Stunden später wieder auf und geht zum Training auf den Tennisplatz. Wenn der Sport ruft, dem er sein Leben gewidmet hat, hört er auf, ein hedonistischer Sohn des Mittelmeers zu sein und wird zu einem Vorbild an disziplinierter Selbstverleugnung.

Seine mallorquinischen Landsleute achten ihn für den besonderen Weg, den er eingeschlagen hat, und für den Erfolg, der auch auf die Insel zurückfällt, aber sie weigern sich, beeindruckt zu sein. »Mallorca ist kein Ort, der allzu viele Helden hervorbringt«, heißt es in Dear Mallorcans, »und diejenigen, die die Insel hervorbringt, werden nicht im Geringsten gefeiert.« Eben diese Tatsache macht Manacor zum einzigen Ort auf der Welt, an dem Rafa Nadal am helllichten Tag über die Straße schlendern oder in dem sicheren Wissen in ein Geschäft gehen kann, dass niemand ihn um ein Autogramm oder ein Foto bitten wird und sich auf der Straße keine Fremden um ihn scharen. Sich in irgendeiner Form aufzuspielen stößt auf Stirnrunzeln (»Was glaubt er denn, wer er ist?«, wäre die Reaktion, wenn Rafas Erfolg ihn dazu gebracht hätte, sein Auftreten zu verändern), und aus demselben Grund gilt es als geschmacklos, jemanden mit Lob zu überschütten, so verdient es auch sein mag. Noch einmal Dear Mallorcans: »Jedem, der den Kopf über den Rest zu erheben versucht, wird er umgehend abgeschlagen.« Wenn Nadal nicht Tennis spielt, hat er keinerlei Verlangen, sich über den Rest zu erheben – ganz im Gegenteil. Deshalb ist Mallorca der einzige Ort, an dem er völlig abschalten kann, wie seine Mutter Ana María erklärt: »Wenn er nach den Turnieren nicht immer wieder zurückkommen könnte, würde er verrückt werden.« Für Rafa Nadal mit seinem hektischen Leben als Tennisprofi bedeutet die Heimkehr nach Mallorca Ruhe und Frieden.