»EIN

ANSTURM

REINSTER

FREUDE«

 

 

KAPITEL 6

Es gibt Matchs, in denen ich im letzten Satz immer noch Reserven habe und spüre, dass ich noch einen Gang zulegen kann. Dieses Mal war es nicht so. Nicht zu Beginn des fünften Satzes in Wimbledon. Ich spielte so gut ich nur konnte, hatte aber dennoch die beiden vorangegangenen Sätze im Tiebreak an Federer verloren. Nun bestand die Gefahr, dass ich mich davon entmutigen ließ und mein Selbstvertrauen verlor. Federer machte mit mir, was ich oft mit anderen Spielern tat. Er hatte sich aus einer äußerst heiklen Lage gerettet, sich unter Schwierigkeiten zurückgekämpft und die meisten entscheidenden Punkte geholt. Ich dagegen hatte gerade eine große Siegchance vertan. Erschwerend kam hinzu, dass der erste Aufschlag bei ihm lag. Im Entscheidungssatz war das ein Vorteil, weil ich jeden meiner Aufschläge durchbringen müsste, um im Match zu bleiben. Seit 25 Spielen war keinem von uns ein Break gelungen, und da wir beide unser bestes Tennis zeigten, war ein frühes Break von mir nicht sonderlich wahrscheinlich. Aber ich hatte einen klaren Kopf. Innerlich brannte ich, aber äußerlich war ich kühl. Als ich auf meinem Stuhl auf den Beginn des Satzes wartete, ärgerte ich mich nicht über den Verlust der vorangegangenen beiden Sätze und ließ mich auch nicht davon auffressen, dass ich meine 5:2 Führung im letzten Tiebreak nicht genutzt hatte. Der Doppelfehler war vergangen und vergessen. Ich dachte pragmatisch, wie es auch mein Vater unter Druck tut. Durchhalten bedeutet, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind, nicht wie man sie gern hätte, und dann nach vorn, statt zurückzuschauen. Und das heißt, sich klar zu machen, wo man steht, und einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich sagte mir: »Mach dir keine Gedanken darüber, im ersten Spiel ein Break gegen ihn zu schaffen, konzentriere dich darauf, im zweiten deinen Aufschlag durchzubringen.« Sollte ich bei meinem Aufschlag an der falschen Stelle auch nur einen einzigen Fehler machen, läge er 3:0 in Führung und ich würde mental in arge Bedrängnis geraten. Ein Sieg würde in weite Ferne rücken, selbst wenn ihm nur ein Break gelänge. Mein erstes Aufschlagspiel des Satzes und auch die beiden folgenden musste ich unbedingt durchbringen, das hatte absolute Priorität, denn Federer war gerade in einer überaus positiven Dynamik und hochgefährlich. Doch mir war klar, was ich zu tun hatte: Wenn es mir gelänge, meine ersten drei Aufschlagspiele durchzubringen, stünde es 3:3, und er wäre in seinem Lauf gebremst. Dann hätte er nichts mehr zuzulegen, und wir stünden wieder bei Null in dem mentalen Wettbewerb, den wir beide, von den Zuschauern unbemerkt, miteinander ausfochten. Der kleinste Fehler von ihm würde mich wieder in Reichweite des Sieges bringen, der kleinste Fehler von mir würde ihn dem möglichen Sieg näher bringen. Ich wollte sichergehen, dass ich meinen Aufschlag durchbrachte, bis das Match in eine Phase gelangte, in der alles offen wäre.

Ein Jahr zuvor in Wimbledon gegen Federer in fünf Sätzen zu verlieren, nachdem ich im letzten Satz vier Breakbälle verschenkt hatte, verfolgte mich lange, aber nun erwies sich diese Erfahrung als überaus wertvoll. Damals war ich einem Sieg sehr nahe. Ich wusste, dass ich hätte gewinnen können, aber letztlich nicht gewonnen hatte, weil bei zu vielen Ballwechseln meine Emotionen die Oberhand über die Vernunft bekamen. Ich war nicht ausreichend darauf vorbereitet, der unausweichlichen Nervosität und Anspannung die nötige mentale Ruhe entgegenzusetzen.

Diese Ruhe würde ich nun brauchen, denn der nächste Satz sollte das werden, was wir in Spanien einen »Herzanfallsatz« nennen. Ein flüchtiger Blick hinauf zu meiner Familie zeigte mir, dass sie wie erstarrt vor Sorge waren und an 2007 dachten. Auch ich erinnerte mich daran, aber nun auf konstruktive Art. Ich hatte meine Lektion gelernt und fühlte mich in der Lage, sie umzusetzen. Daher ging ich geschmeidig, locker und siegesgewiss in den fünften Satz. Meine verpatzte Chance im vierten Satz hatte mich stärker, nicht schwächer gemacht, denn ich würde nicht wieder so einknicken und beim Aufschlag einen ängstlichen Doppelfehler produzieren. Ich würde nicht daran denken, gleich das ganze Match, sondern nur den jeweiligen Ballwechsel zu gewinnen. Ich würde mich von meinem Instinkt leiten lassen und die Tausenden Stunden an Erfahrung ganz von selbst ins Spiel einfließen lassen.

Als ich Federer zwei Jahre zuvor bei den French Open besiegt und im ersten unserer drei Wimbledon-Finals gegen ihn verloren hatte, war es für mich wahrscheinlicher, dass er im Roland-Garros-Stadion seinen vierten Grand-Slam-Sieg erringen, als dass ich jemals hier auf dem Centre Court siegen würde. Seit 2006 war ich ihm in der Weltrangliste mit dem zweiten Platz auf den Fersen geblieben, aber nie dicht genug an ihn herangekommen. Diese Zeit war weniger von großen Sprüngen nach vorn geprägt als davon, mit ihm Schritt zu halten. In den Jahren 2007 und 2008 hatte ich auf Sand großartige Läufe erlebt, zum dritten und vierten Mal die French Open gewonnen und bei diesem Turnier meine Dominanz ebenso unter Beweis gestellt wie Federer in Wimbledon. Besonders erfreulich war ein Rekord, den ich in meiner zweiten Heimat, Monte Carlo, aufgestellt hatte, als ich dort das Turnier 2008 als erster Profitennisspieler zum vierten Mal in Folge gewann. Nachdem ich Federer im Finale 7:5, 7:5 geschlagen hatte, wollte ich unbedingt so schnell wie möglich nach Hause. So sehr ich Monte Carlo auch mochte, wollte ich nicht noch eine Nacht dort bleiben, sondern so rasch es ging nach Mallorca fliegen. Die einzige Möglichkeit war ein Billigflug nach Barcelona und ein Anschlussflug nach Palma. Ich erinnere mich noch gut an die verwunderten Blicke der anderen Passagiere am Flughafen in Nizza, als ich in den Wartebereich für die orangefarbene easyJet-Maschine kam. Sie waren überrascht, dass ich mich mit ihnen anstellte, um Essen und Getränke zu kaufen. Einer fragte mich, warum ich nicht mit einem Privatflugzeug flöge. Aber das liegt mir einfach nicht. Sicher könnte ich einen meiner Sponsoren dazu bewegen, mich durch die Welt zu fliegen, aber ich würde mich dabei nicht wohl fühlen. Es ist mir ein bisschen zu protzig, und außerdem möchte ich meine Beziehung zu den Sponsoren nicht ausnutzen. Als wir aber an Bord des Flugzeugs gingen und ich mich abmühte, den klobigen, breiten Monte-Carlo-Pokal in das Gepäckfach über meinem Sitz zu bugsieren, fragte ich mich doch für einen Moment, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Im Flieger herrschte lautes Gelächter und Beifall, während ich alles Mögliche probierte, meine Trophäe zu verstauen. Einer der Passagiere fragte mich, ob es außer Federer da draußen überhaupt ernstzunehmende Konkurrenten für mich gäbe. Ohne Zögern antwortete ich: »Novak Djokovic. Er wird uns in ein paar Jahren schwer zusetzen.«

Schon damals machte er mir zu schaffen. 2007 hatte ich ihn in Indian Wells besiegt und mein erstes Turnier auf amerikanischem Boden gewonnen, aber beim nächsten Turnier, den Miami Masters, verlor ich gegen ihn. Im selben Jahr hatte ich ihn im Halbfinale der French Open und im Halbfinale in Wimbledon geschlagen, bei den Canadian Masters, die er letztlich gewann, aber gegen ihn verloren. Ein Jahr später, 2008, verlor ich in Indian Wells gegen ihn, besiegte ihn aber in Hamburg und bei den French Open. Im Januar 2008 hatte er allerdings mit 20 Jahren bereits ein Grand-Slam-Turnier, die Australian Open, gewonnen. Alle richteten ihren Blick nach wie vor auf Federer und mich, aber uns beiden war klar, dass Djokovic der aufstrebende Star war, der für unser beider Dominanz gefährlicher werden konnte als jeder andere Spieler. Beunruhigend war zudem, dass er jünger war als ich. Das war für mich etwas Neues. Bis dahin war ich es sowohl im Tennis als auch im mallorquinischen Juniorenfußball gewohnt, immer der junge Spund zu sein, der die Tollkühnheit besaß, es mit den Älteren aufzunehmen und sie zu schlagen. Nun besiegte dieser jüngere Bursche mich, und selbst wenn ich gewann, sorgte er dafür, dass es ein zähes Ringen war. Vermutlich würde Federer sich vor mir aus dem aktiven Tennissport zurückziehen, sofern ich nicht verletzungsbedingt aufgeben müsste. Aber Djokovic würde mir bis zum Ende meiner Tenniskarriere auf den Fersen bleiben und alles daransetzen, mich in der Weltrangliste zu verdrängen.

Auf Sand war ich ihm ebenso überlegen wie Federer und allen anderen. Aber auf Hartplätzen hatte ich gegen ihn wie auch gegen viele andere hart zu kämpfen. Auf diesen Bodenbelägen bereitete es mir die größten Mühen, mich anzupassen. Auf den schnelleren Bodenbelägen gelang mir der nötige Sprung nach vorn nicht, und so machte ich kaum Fortschritte in Australien und noch weniger in dem für mich schwierigsten Grand-Slam-Turnier, den US Open. Ich bin nie zufrieden, will immer mehr erreichen oder zumindest bis an die Grenze meiner Leistungsfähigkeit gehen.

Mittlerweile verdiente ich mehr Geld, als ich mir je hätte träumen lassen, aber es kam mir nie in den Sinn, mir eine Wohnung in Monte Carlo, Miami oder auch Mallorca zu kaufen. Ich war mehr als zufrieden, weiter im Haus meiner Eltern zu leben. Das hatte allerdings nichts mit Sparsamkeit zu tun. Ich träumte von einem eigenen Boot in Porto Cristo. Und gelegentlich dachte ich daran, mir einen schicken Wagen zu kaufen, eine Fantasie, die im Juni 2008 bei den French Open Gestalt annahm.

Als ich mit meinem Vater durch den Ort schlenderte, kamen wir an einer Autohandlung für Luxussportwagen vorbei. Ich schaute durchs Fenster, sah dieses herrliche Fahrzeug und sagte zu meinem Vater: »Weißt du was? Ich glaube, so einen würde ich mir gern kaufen.« Mein Vater schaute mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. Ich verstand seine Reaktion. Damit hatte ich gerechnet. Es stand zwar nirgendwo geschrieben, aber ich wusste ebenso gut wie er, dass der Rest meiner Familie und unsere Nachbarn in Manacor – und auch mein Vater – es vulgär und protzig finden würden, ein solches Auto zu besitzen. Ich kam mir ein bisschen dumm vor. Aber im tiefsten Inneren wollte ich dieses Gefährt trotzdem haben. Hätte mein Vater »nein, auf keinen Fall«, gesagt, wäre die Idee sofort für mich gestorben. Ohne seine Zustimmung hätte ich den Wagen nicht gekauft. Aber er schlug einen Kompromiss vor, den er für eine schlaue List hielt: »Hör zu, wenn du in diesem Jahr Wimbledon gewinnst, kannst du dir so einen Wagen zulegen. Was hältst du davon?« Ich antwortete: »Wie wäre es, wenn ich diese Woche hier in Paris die French Open gewinnen würde?« Grinsend sagte er: »Nein, nein. Gewinne Wimbledon, dann kannst du ihn kaufen.« Mir war völlig klar, dass seine verschlagene Antwort aus der Überzeugung entstand, Wimbledon sei in diesem Jahr für mich außer Reichweite. Er glaubte nicht, dass er diese Wette verlieren könnte. Einen Monat später, zu Anfang des letzten Satzes auf dem Centre Court in Wimbledon, war diese Abmachung für mich nur ein weiterer Anreiz, Federer zu schlagen und das Grand-Slam-Turnier zu gewinnen, das bei allen Spielern das höchste Ansehen genoss.

So ruhig ich auch, trotz der offenkundig vorhandenen Nervosität, zu sein glaubte, bekleckerte ich mich beim ersten Ballwechsel des Satzes, bei dem Federer Aufschlag hatte, nicht gerade mit Ruhm. Nach einem schnellen Ballwechsel zwang ich ihn zu einer verpatzten Rückhand, die vom Rand seines Schlägers abprallte und es knapp über das Netz schaffte. Statt einen Gewinnschlag zu versuchen, entschied ich mich für einen Stoppball. Dies macht man, wenn es keine Alternative gibt oder wenn man sieht, dass der Gegner weit hinten steht und kaum eine Chance hat, den Ball zu erreichen. Mitunter entscheidet man sich aber auch für einen Stoppball, weil man nervös ist, der Ball etwas zu schwierig erscheint, um ihn vernünftig zu handhaben, und man nicht wagt, ihn kraftvoll zu spielen. So war es bei mir. Hinter diesem Schlag stand ein bisschen Feigheit. Er erreichte den Ball gerade noch gut genug, um einen Lob auf meine Rückhandseite zu spielen. Ich reckte mich hoch, um ihn zu erreichen, und schlug ihn ins Aus. Ein schlechter Start.

Es war wichtig, Federer nicht in dem scheinbaren Eindruck zu bestärken, dass ich schwächelte und weiter die sich mir bietenden Chancen verpatzen würde. Ich dachte: »Du fühlst dich gut, obwohl du kurz die Nerven verloren hast. Bei der nächsten Chance, die du bekommst, bei der nächsten Halbchance wagst du einen harten Return.« Und genau das tat ich bei seinem zweiten Aufschlag. Ich drosch eine cross geschlagene Vorhand zurück, die für ihn unerreichbar war. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, so nah an die Linie zu spielen, konnte mich über das Ergebnis aber nicht beklagen.

Den nächsten Ballwechsel gewann er mit einem kraftvollen Aufschlag, verlor dann aber genauso die Nerven, wie es mir beim ersten Ballwechsel erging. Ihm gelang ein starker erster Aufschlag, den ich schwach returnierte, aber statt den Ball wegzudreschen, versuchte er einen Stoppball, der es nicht einmal übers Netz schaffte. Obwohl ich mir in diesem Stadium nur mehr vorgenommen hatte, meinen eigenen Aufschlag durchzubringen, sah ich plötzlich eine unerwartete Gelegenheit, ein 30:30 zu schaffen, aber ihm gelangen zwei starke erste Aufschläge und damit gehörte das Spiel ihm. Den ersten Ballwechsel meines Aufschlagspiels verlor ich mit einer Vorhand, die knapp ins Aus ging. Es ist nie gut, bei eigenem Aufschlag 0:15 in Rückstand zu geraten, und das galt hier umso mehr, als jeder einzelne Punkt entscheidend war. Ich kämpfte darum, meinen Aufschlag durchzubringen, und das war auch den Zuschauern klar, die umso mehr Energie aufbrachten, je länger das Match dauerte. Ich blieb gefasst und behielt mein Pokerface bei. Den nächsten Ballwechsel gewann ich, und nun ließ Federer erkennen, wie verunsichert er war, als er bei einer hohen Topspin-Vorhand von mir, die genau auf der Linie landete, Einspruch erhob. Unser Spiel war nicht mehr auf dem gleichen Niveau wie im vierten Satz. Beide loteten wir uns nervös gegenseitig aus. Der Unterschied war allerdings, dass meine ersten Aufschläge im Gegensatz zu seinen nicht im Feld landeten, aber nach Fehlern von uns beiden gewann ich das Spiel zu 30. Ich ballte die Rechte zur Faust und schaute zu meiner Schwester, meinen Onkeln und Tanten hinauf. Sie nickten mir ernst, aber ermutigend zu. Manche der Fans mochten lächeln, nicht meine Familie.

Es stand 1:1 und Federer hatte Aufschlag. Seine ersten Aufschläge landeten alle zuverlässig im Aufschlagfeld. Aber das war der einzige Teil seines Spiels, der gut lief. Sobald es mir gelang, auch nur ein bisschen die Initiative an mich zu reißen, verpatzte er einfache Bälle. Völlig unerwartet machte er einen Doppelfehler, und es war Einstand. Keiner von uns war in Bestform, aber ich spielte weniger schlecht. Offenbar hatte er den Schwung des vierten Satzes verloren. Stück für Stück verschob sich die Balance zu meinen Gunsten. Dann schlug ich ohne Not eine Vorhand zu lang und schüttelte den Kopf. Obwohl mir danach war, brüllte ich nicht vor Wut, ärgerte mich aber, weil ich ihm einen Punkt zu jenem Zeitpunkt geschenkt hatte, als der gesamte Druck auf ihm hätte lasten sollen. Beim nächsten Ballwechsel spielte ich erneut einen Stoppball, dieses Mal aber als Angriff, der selbst für Federer zu gut war, um auch nur den Versuch zu unternehmen, ihn zu erreichen. Doch dann gewann er die beiden nächsten Punkte und damit das Spiel.

Wieder einmal musste ich meinen Aufschlag durchbringen, um zu verhindern, dass er davonzog. Aber mein Selbstvertrauen nahm rapide zu, weil ich spürte, dass die enorme Anstrengung, zwei Sätze Rückstand aufzuholen, allmählich an seinen Kräften zehrte. Es blieb abzuwarten, ob er sein Niveau aus dem dritten und vierten Satz halten konnte, die er jeweils mit dem knappest möglichen Vorsprung gewonnen hatte. Vielleicht war das eine sehr optimistische Interpretation der damaligen Lage, aber die Alternative, mir negative Gedanken zu erlauben, wäre einem Selbstmord gleichgekommen.

Ich brachte meinen Aufschlag problemloser durch als er sein vorangegangenes Spiel, was teilweise einem gravierenden Fehler von ihm zu verdanken war. Wieder einmal schlug ich einen schlechten Stoppball – für den Bruchteil einer Sekunde fraß sich mein Kopf fest –, aber er vergab diese klare Chance auf einen Gewinnschlag und spielte den Ball viel zu lang, wie es eigentlich nur einem normalen Clubspieler passieren sollte. In dieser Phase des Matchs lief nicht alles rund, aber es stand 2:2, und ich hatte in diesem Satz bislang einige Punkte mehr geholt als er, was sich zwar nicht im Spielstand niederschlug, ihn aber mental stärker belastete als mich.

Der Wind frischte auf. Ich warf einen Blick zum Himmel. Er verdunkelte sich zusehends und machte den Linienrichtern ihre Arbeit schwer. Im fünften Spiel erhob jeder von uns einmal Einspruch bei seinem Aufschlag, der beide Male zu meinen Gunsten ausfiel. Es kam zum Einstand, und dann fing es an zu regnen. Federer signalisierte, dass er eine Unterbrechung wünschte, und der Schiedsrichter willigte ein. Auf den ersten Blick war das nicht gut für mich. Bei der ersten Regenpause hatte ich mit zwei Sätzen in Führung gelegen, aber danach hatte er zwei Sätze aufgeholt. Zu Beginn des fünften Satzes spielten wir beide schlechter als in jeder anderen Phase des Matchs, allerdings war er noch schlechter als ich, und sein Aufschlag erwies sich als seine beste, wenn auch nahezu einzige Waffe. Dennoch war nicht ich derjenige, der Mühe hatte, seinen Aufschlag durchzubringen, sondern er. Ich war, glaube ich, besser in Form, und unterm Strich wäre es für mich günstiger gewesen, das Spiel nicht zu unterbrechen. Er brauchte die Verschnaufpause dringender als ich.

Dieser Ansicht war, seinem Aussehen nach zu urteilen, offenbar auch Toni, als er und Titín zu mir in die Umkleidekabine kamen. Als ich mich später mit meiner Familie über das Match unterhielt, erfuhr ich, dass sie ebenso dachten und den Eindruck hatten, sämtliche Mächte des Schicksals hätten sich gegen mich verschworen. Wie mein Vater erklärte, waren die beiden Regenpausen, vor allem aber die zweite, für ihn die reinste Folter. Die Logik sagte ihm, dass es mir mehr entsprochen hätte, weiterzuspielen, weil es mir nach seinem Eindruck schwerer fiel als Federer, den eigenen Rhythmus wiederzufinden. »Nach meiner Einschätzung bedeutete der Regen, dass du verlieren würdest«, gestand er mir später. Meine Mutter sah, dass ich in dieser Phase besser spielte als Federer, und sie war sicher, dass der Regen meinen Schwung bremsen und sich zu Federers Gunsten auswirken würde. Meine übrigen Verwandten im Stadion sahen es ebenso. Sie fragten sich, was sie in ihrem Leben wohl falsch gemacht haben mochten, dass sie solche Folterqualen erleiden mussten, und konnten es kaum aushalten, weiter zuzuschauen. Sie alle dachten: »Wenn ich mich schon so fühle, wie muss es Rafa dann erst gehen?«

Tonis Miene war die Anspannung anzusehen, als er in die Umkleidekabine kam. Titín, der mit ihm hereinkam, zeigte eine undurchdringliche Miene, die von seiner inneren Befindlichkeit nichts verriet, und überließ es mir, die Stimmung vorzugeben. Später erzählte er mir, dass er ein nervliches Wrack war und seine Gefühle hinter der Maske seiner professionellen Pflichten verbarg, als er meine Bandagen wechselte und sich meinen anfälligen linken Fuß anschaute, der zum Glück ohne Schmerzen war und mir keine Probleme bereitete. Mit gesenktem Kopf erledigte Titín schweigend seine Arbeit. Wie immer war es Tonis Aufgabe, in dieser Situation die richtigen Worte zu finden. Aber dieses Mal hatte er Mühe. Als im fünften Satz der Regen einsetzte, fand er sich schon damit ab, dass ich verlieren würde, wie er später zugab. Er bemühte sich, eine tapfere Miene aufzusetzen, seine wahren Gefühle zu verbergen und mir eine kleine Predigt zu halten, die ich schon öfter von ihm gehört hatte. Aber ich merkte, dass er nicht voll hinter dem stand, was er gerade sagte. Ich saß auf der Bank, er stand vor mir und sagte. »Hör zu, so gering die Möglichkeit eines Sieges auch sein mag, kämpfe bis zum Ende. Der Lohn ist zu hoch, um es nicht zu versuchen. Viel zu oft kämpfen Spieler aus Verärgerung oder Erschöpfung nicht so, wie die Umstände es verlangen, aber solange es eine Chance, auch nur eine einzige Chance gibt, musst du weiterkämpfen, bis alles verloren ist. Wenn du es bis zum 4:4 schaffst, gewinnt nicht der beste Spieler, sondern derjenige, der seine Nerven besser im Griff hat.«

Offensichtlich war Toni in der Annahme in die Umkleidekabine gekommen, ich sei über die im dritten und vierten Satz verpassten Chancen am Boden zerstört, rede mir ein, sie würden sich nie wieder bieten, und er stünde nun vor der unmöglichen Aufgabe, mich in meiner völlig niedergeschlagenen Stimmung aufzurichten. Aber er täuschte sich in mir. Ihn verfolgte wohl ebenso wie meine übrige Familie die Erinnerung an meinen Zustand nach der Niederlage im Vorjahr, und er nahm an, dass es dieses Mal nach dem gleichen Muster ablaufen würde. Bei mir lief es aber anders. Meine Antwort überraschte ihn: »Entspann dich. Keine Sorge. Ich bin ganz ruhig. Ich kann es schaffen. Ich werde nicht verlieren.« Toni war verdutzt und wusste nicht, was er sagen sollte. »Na gut«, erklärte ich, »vielleicht gewinnt er letzten Endes, aber ich werde nicht so verlieren wie im vergangenen Jahr.« Das meinte ich durchaus ernst. Was auch passieren mochte, ich würde ihm den Sieg nicht auf einem Silbertablett servieren. Ich würde in meiner Aufmerksamkeit nicht nachlassen und mich nicht wieder selbst enttäuschen. Er sollte ebenfalls um jedes winzige Stück des Weges kämpfen müssen, und ich würde kein Stück Boden preisgeben. Anders als in der ersten Regenpause war es Federer, der dieses Mal in der Umkleidekabine still blieb, während ich plauderte. Sobald Toni sich von der Verblüffung erholt hatte, dass er mich nicht aufzurichten brauchte, unterhielten wir uns sachlicher über das Spiel. Ich sprach über einige Fehler, die ich im vierten Satz gemacht hatte. Damit wollte ich mich aber nicht aufbauen, sondern sicherstellen, dass ich sie nicht vergaß und auch nicht wiederholte. Meine Fehler im Tiebreak des vierten Satzes, als ich 5:2 in Führung gelegen und zwei Matchbälle vergeben hatte, sah ich nicht wie Toni als verpasste Chancen, sondern als Beleg dafür, wie nah ich einem Sieg gekommen war, wie sehr ich Federer in die Enge getrieben hatte. Ich wusste, dass ich nicht versagen würde, wenn sich solche Chancen erneut bieten sollten. Außerdem erinnerte ich Toni daran, dass ich kein einziges Mal meinen Aufschlag verloren hatte, Federer aber schon zweimal, obwohl er bislang etwa fünfmal so viele Asse geschlagen hatte als ich. Und da ich schon zwei Sätze gewonnen hatte, wieso sollte ich nicht noch einen dritten gewinnen können?

Mein Vater, meine Mutter und alle anderen gaben später zu, wie verwundert sie waren, als Toni aus der Umkleidekabine kam und ihnen von meiner gelassenen Stimmung erzählte. Einige von ihnen fragten sich, ob ich diese Entspanntheit nicht nur vortäuschte, um mir selbst etwas vorzumachen oder sie zu beruhigen. Toni erklärte ihnen, dass er sich das auch schon gefragt hätte, aber an meinem Tonfall und Blick erkannte, dass es mir ernst sei. Es war mir ernst. Ich wusste, dass dies mein Augenblick war.

Titín wusste es ebenfalls. Seither haben wir einige Male über diesen Moment gesprochen. Er hatte ebenso wie Toni etwas anderes erwartet, aber nun gesehen, dass ich in der Endphase des Matchs selbstbewusster und gelassener wirkte als tags zuvor beim Abendessen, beim Dartspielen, beim Training am Vormittag oder beim Mittagessen. Als der Regen nach einer halben Stunde aufhörte, verließ Titín die Umkleidekabine mit derselben Überzeugung wie ich, dass meine Zeit für den Wimbledon-Sieg endlich gekommen sei.

Es stand 2:2 und Einstand bei Federers Aufschlag. Er schlug zwei Asse und gewann das Spiel. Dagegen konnte ich nichts machen. Asse sind wie Regen. Man akzeptiert sie und macht weiter. Ich antwortete mit einem großartigen Vorhand-Winner zu Beginn meines Aufschlagspiels, das ich zu 15 gewann. Seinen nächsten Aufschlag brachte er mühelos zu null durch und beendete das Spiel mit einem weiteren Ass. Im nächsten Spiel bekam er beim Stand von 4:3 bei meinem Aufschlag seine Chance. Den ersten Punkt holte er, als ich eine Vorhand knapp ins Aus schlug. Ich erhob Einspruch, allerdings mehr aus vager Hoffnung als aus realistischer Erwartung. 0:15. Beim Stand von 30 beide schlug er unvermittelt einen perfekten Vorhand-Winner an der Linie, erwischte mich auf dem falschen Fuß, weil ich den Ball auf meiner Rückhand erwartet hatte, und ich geriet 30:40 in Rückstand. Es war der erste Breakball des Satzes und einer der größten Ballwechsel meines Lebens. Ich dachte nicht an die Konsequenzen. Ich dachte nicht daran, dass er 5:3 in Führung gehen würde, falls ich diesen einen Punkt verlöre und das Match dann sicher ihm gehörte. Ich dachte nur: »Konzentriere dich mit deiner gesamten Energie und mit jeder Hirnzelle und allem, was du je in deinem Leben gemacht hast, darauf, diesen nächsten Punkt zu halten.« Damals hatte ich den Eindruck, dass er mit einem harten Schlag einen schnellen Gewinnball versuchen würde und ich verhindern musste, dass er eine Gelegenheit dazu bekam. Und der beste Weg, das zu verhindern, war, als Erster in die Offensive zu gehen. Der Moment war gekommen, meine Spieltaktik zu ändern, ihn zu überraschen und etwas Unerwartetes zu tun. Statt den ersten Aufschlag weit auf seine Rückhand zu spielen, wie ich es bei 90 Prozent meiner Aufschläge getan hatte, zielte ich geradewegs auf seinen Körper und zwang ihn zu einem linkischen Vorhand-Return, der in der Feldmitte landete. Mir war klar, dass er mit einem hohen Drive auf seine Rückhand rechnete, aber wieder überraschte ich ihn. Es war nicht der Zeitpunkt für Halbheiten. Ich hatte meine Ängste überwunden, und da nun der richtige Moment für die Offensive war, wagte ich einen kraftvollen Vorhand-Drive tief in seine Vorhandecke. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu recken und einen Lob zu spielen, der in den Himmel flog, aber dicht am Netz landete. Mit einem Ball, der hart auf den Rasen prallte und hoch in die Zuschauerränge des Centre Court flog, beendete ich den Ballwechsel und ballte die Faust. Noch nie hatte ich einen Ballwechsel so druckvoll, mutig, intelligent und gut gespielt. Auch den nächsten Punkt holte ich und gewann dann das Spiel, indem ich ihn mit einem sauberen Vorhand-Winner in seine Rückhandecke auf dem falschen Fuß erwischte.

Nun stand es 4:4. Damit war ich genau da, wo ich sein wollte, und es war Zeit zu kämpfen, aggressiv zu spielen, bei jedem Ballwechsel aufs Ganze zu gehen und auf meine Chance zu warten. Wenn man es bis in den fünften Satz eines solchen Matchs geschafft hat, bedeutet das, man spielt gut genug, um den Angriff wagen zu können. Außerdem gab es jetzt gar keine andere Möglichkeit mehr. Toni hatte gesagt, wenn wir es zu einem Stand von 4:4 schafften, würde der Spieler gewinnen, der seine Nerven besser im Griff hätte. Ich hatte das Gefühl, meine Nerven im Griff zu haben. Zudem hatte ich den Eindruck, dass die Zuschauer sich auf meine Seite schlugen. Im vorangegangenen Satz hatten sie Federer stärker angefeuert, weil sie einen fünften Satz in diesem Match sehen wollten. Aber nun hörte ich mehr Rufe: »Rafa! Rafa!« als »Roger! Roger!« Selbstverständlich habe ich die Zuschauer gern hinter mir, aber nach dem Match, oder später beim Anschauen der Videoaufzeichnung, genieße ich es mehr als während des Spiels. Solange ich spiele, darf ich mich von nichts ablenken lassen, nicht einmal von der Unterstützung der Fans.

Vielleicht standen sie auf meiner Seite, weil sie fanden, dass ich besser spielte und den Sieg eher verdiente. Dieses Gefühl hatte ich jedenfalls in der Endphase des Matchs. Er schlug die Bälle nicht so sauber wie ich und verschlug sogar einige Male die Vorhand, die sonst seine Stärke ist. Ich spürte, dass ich den Nervenkrieg gewinnen würde und er müder war als ich. Aber weiterhin verfügte er über eine Waffe, die mir fehlte: den großartigen Aufschlag. Damit machte er sich von Schwierigkeiten frei, gewann das nächste Spiel und ging 5:4 in Führung. Bei meinem Aufschlag musste ich nun nicht nur ein Break verhindern, sondern auch das Match retten.

Was den kraftvollen Aufschlag anging, konnte ich nicht mit ihm mithalten, so musste ich versuchen, ihn zu überlisten. Und genau das tat ich mit einem Ass, nachdem ich beim ersten Ballwechsel mit 15:0 in Führung gegangen war. Dieses Ass gelang mir nicht durch einen kraftvollen Ball, sondern weil er erwartete, dass ich auf seine Rückhand zielte, ich aber im weiten Bogen auf seine Rechte spielte. Ich hatte genügend Selbstvertrauen und ließ es ihn spüren. Mein Aufschlagspiel gewann ich recht problemlos zu 30. Und dann steckte er mit einem Mal in echten Schwierigkeiten. Bei seinem Aufschlag ging ich 40:15 in Führung, nachdem ich tief aus der linken Grundlinienecke eine wirbelnde Vorhand an der Seitenlinie entlangschlug. Zwei Breakbälle, und ich schwebte förmlich, aber dann, bang! Ein Ass. Und ein weiterer großartiger Aufschlag. Er gewann das Spiel und lag mit 6:5 vorn. Mein einziger Trost war das Wissen, dass es nicht mein Fehler war, anders als im dritten Satz, als ich beim Stand von 40:0 eine Breakchance gegen ihn vergeben hatte. Aber nun musste ich einen mentalen Kampf ganz anderer Art bestehen, nämlich gegen meine wachsende Frustration über die unglaublich selbstverständliche Effektivität seines Aufschlags. Mir war völlig klar, dass ich die Oberhand gewann, sobald ein Ballwechsel in Gang kam, aber er gab mir nicht den Hauch einer Chance, in mein Spiel zu kommen.

Wieder musste ich meinen Aufschlag durchbringen, um im Match zu bleiben, und schaffte es relativ locker zu 15. Federer hatte meinem offensiven Spiel wenig entgegenzusetzen, sobald es zu einem Ballwechsel kam. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es mein Vater damals ebenso sah. Nachdem ich das Spiel gewonnen hatte und es 6:6 stand, schaute ich flüchtig zu ihm hinauf und sah, dass er wie wild aufsprang, klatschte und mich mit vor Aufregung verzerrtem Gesicht anfeuerte, so wie ich es noch nie erlebt hatte. Wild zu werden kam für mich in diesem Moment nicht infrage. Ich hatte das Gefühl, dass der Sieg mir gehörte, wenn ich nur einen kühlen Kopf bewahren würde. Federers Grundschläge gingen daneben. Beim ersten Ballwechsel und bei einem Stand von 6:6 – im letzten Satz gab es kein Tiebreak – verpatzte er eine einfache Vorhand völlig. Den nächsten Punkt holte ich im ersten langen Ballwechsel bei seinem Aufschlag. Darauf folgten drei weitere donnernde Aufschläge, durch die er 40:30 in Führung ging. Mittlerweile war ich mir sicher, dass er müder und unsicherer in seinen Schlägen war als ich selbst. Daher frustrierte mich die unfehlbare Konstanz seines Aufschlags zunehmend. Doch es war sein einziger Ausweg. Ich dachte: »Ich spiele eindeutig besser, aber was kann ich jetzt noch machen?«

Ich schaffte den Einstand und sah meine Chance, als er endlich einmal seinen ersten Aufschlag verpatzte. Aber nein: Seinen zweiten Aufschlag returnierte ich mit einem harten, langen Schlag. Einen halben Meter zu lang. Das mochte nach einem schlimmen Fehler aussehen, was es aber in gewisser Weise nicht war. Denn er bedeutete, dass ich weiter offensiv blieb und Alles-oder-nichts-Tennis spielte. Hätte ich den Punkt verloren, weil ich den Ball zu kurz, also ins Netz gespielt hätte, wäre das ein Zeichen für meine nachlassende mentale Stärke gewesen. Aber ich hatte den Schlag voller Selbstvertrauen ausgeführt. Patzer gehören zum Spiel, aber manchmal ist es produktiver, einen Punkt durch einen eigenen Fehler als durch einen Winner des Gegners zu verlieren.

Alle Punkte sind wichtig, manche jedoch entscheidender als andere. Nun war jeder einzelne Punkt Gold wert. Mein Onkel Rafael, der auf der Zuschauertribüne saß, sagte mir später, er an meiner Stelle hätte den Druck nicht ausgehalten, ihm hätten die Beine versagt, er wäre einfach weggerannt, mit dem nächstbesten Flugzeug weit weg geflogen und nie wiedergekommen. Der Unterschied zwischen mir und ihm und anderen Zuschauern, die vielleicht ähnlich dachten, war, dass ich mein Leben lang auf diesen Moment hin trainiert hatte, nicht nur spieltechnisch, sondern auch mental. Tonis strenges Regime – mich als Kind mit Bällen zu bewerfen, um meine Aufmerksamkeit wach zu halten, mir keine Ausreden und keine Selbstgefälligkeiten durchgehen zu lassen – trug nun Früchte. Zudem besitze ich eine – ich weiß nicht, ob angeborene oder erlernte – Eigenschaft, die Champions einfach brauchen: Druck spornt mich an. Natürlich, manchmal knicke auch ich ein, aber häufiger befördert Druck mein Spiel.

Das gesamte bisherige Match war für mich eine Geschichte verpasster Gelegenheiten: Im dritten Satz hatte ich die Breakchance beim Stand von 40:0 verpasst, im vierten zwei Matchbälle vergeben und nun im fünften beim Stand von 5:5 und 6:6 kein Break geschafft, obwohl ich jeweils mit 40:15 beziehungsweise 30:0 in Führung gelegen hatte. Nun lag er 7:6 vorn, und wieder musste ich meinen Aufschlag durchbringen, um mich im Match zu halten. Aber ich fand es nicht besonders beängstigend, sondern eher erregend. Ich hatte zwar Chancen vergeben, aber es waren meine Chancen – eher ein Grund zur Freude als zur Klage. Und früher oder später würde ich meine Chance nutzen – zu dieser Einstellung versuchte ich mich zu zwingen.

Allerdings holte er den ersten Punkt mit einem guten, langen Aufschlagreturn und einem unerreichbaren Winner. Da konnte ich nichts machen. Er hatte großartig gespielt. Auf zum nächsten Ballwechsel. Ich erholte mich rasch. Er schlug eine Vorhand zu lang; mir gelang ein erster Aufschlag auf seinen Körper, gegen den er machtlos war. Es folgte ein langer Ballwechsel, bei dem ich jeden seiner Bälle mit Zins und Zinseszins zurückbrachte und er letztlich den Ball zahm ins Netz schlug. Er hatte seine Beine für den Schlag nicht richtig positionieren können; offensichtlich war er müder als ich. Das zu sehen gab mir Kraft, aber kein überzogenes Selbstvertrauen. Ich hätte nun durchaus denken können: »Jetzt habe ich ihn«, aber das tat ich nicht. Vielmehr ging mir durch den Kopf: »Ich bin immer noch im Spiel, ich kann gewinnen.« Allerdings war mir klar, wenn ich den nächsten Ballwechsel verlöre, wäre er nur noch zwei Punkte vom Wimbledon-Sieg entfernt. Tatsächlich verlor ich den nächsten Punkt durch einen glücklichen Netzroller von Federer.

Beim Stand von 40:30 entspann sich einer der besten Ballwechsel des Matchs. Ich spielte meinen Aufschlag weit auf seine Rückhand, er returnierte tief und gut auf meine Vorhand. Ich trieb ihn zurück, aber er schlug einen starken Rückhand-Cross, den ich mit einer ebenso starken Longline-Vorhand beantwortete. Er erreichte den Ball gerade noch, hatte aber keine andere Wahl, als einen unbeholfenen Vorhand-Slice zu spielen, der knapp übers Netz ging. Meinen flachen Topspin weit auf seine Rückhand konnte er nur mit einem Lob beantworten, den ich eigentlich mit einem Schmetterball in einen Punkt hätte verwandeln müssen, aber irgendwie erreichte er ihn noch und spielte einen hohen, langsamen, aber besseren Lob, der mich zwang, zurückzuweichen und einen weniger durchschlagenden Schmetterball zu spielen, einen kontrollierten mit Schnitt nach dem Aufprall – wie bei einem zweiten Aufschlag. Auch diesen Ball erreichte er und antwortete mit einem Rückhand-Slice in die Feldmitte. Ich lief zum Ball und verwandelte ihn mit der geballten Kraft der Vorhand und dem gesamten Topspin, den ich ihm mitgeben konnte, in einen unerreichbaren Winner tief in seine Vorhandecke: 7:7. Es war für mich der bis dahin euphorischste Moment des Matchs. Ich hob mein linkes Knie, reckte die Faust in die Luft und brüllte triumphierend. Ein Schub an Energie und neuem Selbstvertrauen erfüllte mich, und ich dachte: »Los jetzt!«

Das Match war wieder völlig offen. Aber noch hatte ich keine Siegesvision. Noch immer nahm ich einen Punkt nach dem anderen in Angriff. »Mein Rhythmus ist gut, meine Beweglichkeit ist gut, und ich spiele mit Überzeugung«: genauso fühlte ich mich. Und beim Stand von 7:7 hatte ich den Eindruck, dass nun wirklich der Zeitpunkt für einen Vorstoß gekommen war, das Match zu holen. Der Enthusiasmus war auf meiner Seite, und ich sollte meine Chance nutzen. Dieses Spiel musste ich gewinnen.

Beim ersten Ballwechsel, bei dem Federer Aufschlag hatte, machte ich da weiter, wo ich bei meinem Aufschlagspiel aufgehört hatte, und holte den Punkt mit einem Vorhand-Cross-Winner, bei dem er nur in die Luft dreschen konnte. Anschließend schlug er eine Vorhand ins Netz, und ich lag 30:0 vorn. Wieder eine große Chance. Aber ich bin keine Maschine, keine Lokomotive. Und beim nächsten Ballwechsel beging ich einen dummen Fehler. Ich entschied mich für einen Rückhand-Slice, als ich einen Drive hätte spielen sollen. Ausgerechnet in diesem Sekundenbruchteil regten sich in meinem Kopf leise Zweifel, und prompt verlor ich den Punkt. Die Angst vor dem Sieg. Allerdings nicht so schlimm wie beim letzten Mal. Meine Beine zitterten nicht, sondern fühlten sich kräftig an.

Seinen nächsten Aufschlag returnierte ich tief und holte den Punkt mit einem kraftvollen Rückhand-Cross-Winner. Ich drehte meine Handgelenke, steuerte den Ball mit der rechten Hand und verlieh ihm mit dem linken Arm Schwung – ein Schlag, den ich praktisch zeitlebens trainiert hatte und im Augenblick der Wahrheit perfekter denn je ausführte. Nun hatte ich zwei Breakbälle, und meine größte Befürchtung war nicht etwa, dass ich versagen könnte, sondern dass er noch mehr von seinen großartigen Aufschlägen aus dem Hut zaubern würde. Genau das tat er. Ein Ass, danach noch ein toller Aufschlag. Ich rutschte auf dem Gras aus, verlor meine Koordination, und wieder waren wir beim Einstand.

Das hatte ich vorher schon erlebt. Immer wieder. Dieses Spiel entwickelte sich zu einer Miniaturausgabe des gesamten Matchs. Ich ging in Führung, er kämpfte sich immer wieder zurück und weigerte sich, unterzugehen. Aber noch immer machte er mehr Fehler als ich, so auch beim nächsten Ballwechsel, bei dem ihm eine Vorhand viel zu lang geriet, sodass ich nun Vorteil hatte. Wir waren beide am Rande unseres Durchhaltevermögens, aber körperlich und mental war er ausgelaugter als ich. Allerdings hatte er nach wie vor seinen Aufschlag, und prompt kam ein weiterer unhaltbarer Ball, den ich nur mit der Schlägerkante erwischte. Aber sobald ich einen ordentlichen Aufschlagreturn schaffte und ein Ballwechsel in Gang kam, gewann ich die Oberhand. Als Nächstes vergab er zwei Punkte an mich durch zwei vermeidbare Fehler, eine zu kurze und eine zu lange Vorhand.

Und endlich hatte ich das Break. Es stand 8:7 und ich hatte Aufschlag zum Matchgewinn. Mittlerweile war es nach 21 Uhr und wurde rasch dunkel. Sollte dieses Spiel wieder mit einem Gleichstand enden, könnte der Schiedsrichter die Entscheidung durchaus auf den folgenden Tag verschieben. Eine solche Unterbrechung nach vierdreiviertel Stunden konnte nur Federer nützen. Bei der Regenunterbrechung war mir das nicht so klar geworden, aber nun stand außer Zweifel, dass er dringender als ich eine Verschnaufpause brauchte. Ich dachte: »Ich muss dieses Spiel mit allen Mitteln gewinnen.«

Ich lief an meine Grundlinienposition, Federer ging an seine. Ich schlug von der Seite des Platzes auf, an der meine Eltern saßen, und sie standen beide auf, um mich mit erhobenem Daumen anzufeuern. Aber ich verlor den ersten Punkt durch eine unnötig lange Vorhand. Schon als ich mich auf den Schlag einstellte, war mir klar, dass ich ihn verpatzen würde, weil die Nervosität meinen Kopf vernebelte. Ich musste auf der Stelle meine Nerven in den Griff bekommen, und der richtige Weg dazu bestand darin, die Aggressivität zu erhöhen. Bevor ich Federer besiegen konnte, musste ich mit mir selbst ins Reine kommen. Zum ersten Mal im gesamten Match ging ich nach meinem Aufschlag sofort ans Netz, und es funktionierte. Mit einem kraftvollen Schlag verwandelte ich seinen Return in einen Winner. Vor diesem Aufschlag hatte ich dieses Vorgehen nicht geplant, aber die Entscheidung aus dem Bauch heraus erwies sich als richtig. Hätte ich den Ball vor meinem Schlag auf den Boden aufprallen lassen, wäre der Ballwechsel offen geblieben. So stand es 15 beide.

Auch den nächsten Punkt holte ich am Netz, als ich den Ballwechsel problemlos mit einem kopfhohen Vorhand-Volley abschloss, nachdem ich Federer zu einer weiten, tiefen Rückhand gezwungen hatte. Wieder war ich spontan ans Netz gegangen, Resultat meiner Entschlossenheit, das Spiel zu beherrschen, statt mich davon beherrschen zu lassen. Es stand 30:15, aber noch sah ich die Ziellinie nicht vor mir. Nur der nächste Punkt existierte. Im abnehmenden Dämmerlicht war es ein kalkuliertes Risiko, ans Netz zu gehen, aber dieses Mal verrechnete ich mich. Und zwar so stark, dass ich meinen Schläger einer Vorhand von Federer entgegenreckte, die ansonsten ins Aus gegangen wäre und mir zwei Matchbälle beschert hätte. Aber ich hatte den Punkt durch mutigen Einsatz verloren, und das war besser, als ihn durch einen Doppelfehler oder einen zögerlichen Rückhand-Slice zu vergeben.

30 beide. »Ich bin noch im Spiel«, dachte ich. Beim nächsten Ballwechsel kehrte ich wieder zu meiner Spieltaktik zurück und griff seine Rückhand an. Vielleicht lag es am Licht, an seiner Erschöpfung oder an seinen Nerven, jedenfalls verschlug er einen Cross, der ins Aus ging.

Bei 40:30 hatte ich einen Matchball, meinen dritten in diesem Match. Ich blieb bei der sicheren, bewährten Option, einem weiten ersten Aufschlag auf seine Rückhand, den er erstaunlich brillant und mutig mit einem donnernden Cross returnierte. So sehr ich mich auch anstrengte, ich erreichte den Ball nicht. Das war Roger Federer, der größte Tennisspieler aller Zeiten. Und eben deshalb durfte ich nicht einmal jetzt auch nur einen Gedanken an den Sieg verschwenden und mir keinen Anflug von Selbstgefälligkeit gestatten. Wieder waren wir beim Einstand.

Nun kam ich auf die – rückblickend wirklich äußerst – brillante Idee, meinen ersten Aufschlag auf seine Vorhand zu spielen, während er damit rechnen musste, dass ich in einem so entscheidenden Moment bei der Rückhandvariante bleiben würde, die ich praktisch über das gesamte Match hin bevorzugt hatte. Endlich gelang mir das, was er während des ganzen Matchs mit mir gemacht hatte: ein unreturnierbarer erster Aufschlag. Es war zwar kein richtiges Ass, da Federer den Ball mit der Schlägerkante berührte, aber eben doch so gut wie. Damit hatte ich meinen vierten Matchball.

Beim Aufschlag zögerte ich. Ich hätte wieder in seine Rückhandecke spielen sollen, aber ich hatte noch seinen erstaunlichen Rückhandschlag bei meinem letzten Matchball im Hinterkopf und zielte deshalb auf seinen Körper. Letztlich war der Aufschlag nichts Halbes und nichts Ganzes, und er hätte ihn durchaus in einen Winner, diesmal auf die Vorhand, verwandeln oder mich zumindest stark unter Druck setzen können. Aber er tat weder das eine noch das andere, sondern returnierte ohne Biss mit einer simplen Vorhand, die ich mit weniger Selbstvertrauen erwiderte, als ich es hätte tun sollen. Er kam zum Ball, der sanft in der Feldmitte aufkam, und verwandelte ihn nicht in einen Winner, sondern schlug ihn schlecht, linkisch und mit der falschen Fußposition mitten ins Netz.

Ich ließ mich mit ausgestreckten Armen und geballten Fäusten mit dem Rücken flach auf den Wimbeldon-Rasen fallen und brüllte triumphierend. Die Stille des Centre Court wich einem Höllenlärm, und endlich ließ ich mich von der Euphorie der Zuschauer mitreißen und befreite mich aus dem mentalen Gefängnis, in dem ich von Anfang bis Ende des Matchs, den ganzen Tag, den Vorabend und die zwei Wochen des größten Tennisturniers der Welt zugebracht hatte. Im dritten Anlauf hatte ich es endlich geschafft und damit das Ziel aller Mühen, Opfer und Träume meines Lebens erreicht. Die Angst vor der Niederlage, die Angst vor dem Sieg, die Frustrationen, Enttäuschungen, Fehlentscheidungen, Momente der Feigheit, die Befürchtung, wieder weinend in der Dusche der Umkleidekabine zu hocken: Das alles war weg. Was ich empfand war nicht Erleichterung, darüber war ich hinaus. Es war eine Woge der Energie und Euphorie, ein Entfesseln von Gefühlen, die ich in den angespanntesten vier Stunden und 48 Minuten meines Lebens beherrscht hatte, ein Ansturm reinster Freude.

Irgendwie musste ich mich zusammenreißen. Ich musste ans Netz gehen und Roger die Hand reichen, den ich nach vier Jahren Wartezeit als Nummer eins der Weltrangliste ablösen würde. Außerdem wartete die förmlichsteife Zeremonie der Siegerehrung. Aber mir flossen die Tränen, ohne dass ich dagegen ankam. Und noch etwas musste ich vor der Siegerehrung tun, nämlich ein emotionales Ventil öffnen, was unbedingt nötig war, bevor ich auch nur im Ansatz zu jenem zurückhaltenden Auftreten fähig war, das die Tradition von Wimbledon verlangte. Ich lief in die Ecke, in der meine Eltern, Toni, Titín, Carlos Costa, Tuts und Dr. Cotorro nun standen, und kletterte über die Sitzreihen und eine Mauer zu ihnen hinauf. Ich weinte ebenso wie mein Vater, der mich als Erster begrüßte. Wir umarmten uns, dann fiel ich meiner Mutter und Toni um den Hals und wir drei hielten uns in einer großen Umarmung fest.

War das der größte Moment meiner Karriere? Jedes Match ist wichtig. Ich spiele jedes einzelne, als wäre es mein letztes. Aber dieses Match in diesem Rahmen mit dieser Geschichte, diese Erwartungen, diese Spannung, die Regenpausen, die Dämmerung, die Nummer eins gegen die Nummer zwei, und wir beide spielten unser Spitzentennis, Federers Comeback, mein Widerstand dagegen, mein Stolz auf meine Einstellung zum Match, der größer war denn je, weil mich die Erinnerung an die Niederlage von 2007 verfolgte, ich aber meinen inneren Nervenkrieg führte und gewann … ja, wenn man das alles zusammennimmt, ist kaum ein anderes Match vorstellbar, das so viel Dramatik und Emotionen hätte erzeugen und mir und den Menschen, die mir am nächsten stehen, so enorme Befriedigung und Freude hätte verschaffen können.