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Am 14. Juli, knapp drei Wochen nach meiner Rückkehr, war ich abends mit Aaron zu einem Konzertbesuch verabredet. Nach der Arbeit fuhr ich heim und zog mich um. Kurz bevor ich die Wohnung verlassen wollte, überprüfte ich im Stehen meine Mails.

Der Posteingang enthielt eine Nachricht. Ich sah den Nachnamen des Absenders und glaubte, Robert hätte mir geschrieben. Mit klopfendem Herzen setzte ich mich an den Tisch und las, verstand aber nicht. Ich las noch einmal.

Die e-Mail stammte nicht von Robert. Sein Bruder hatte sie verfasst.

 

Als der Inhalt seines Schreibens zu mir durchdrang, fühlte es sich an, wie wenn man im warmen Meer einen Stein umklammert und spürt, dass eine kalte Strömung einen langsam davontreiben wird. Vielleicht ruft man um Hilfe, vielleicht bleibt man stumm vor Entsetzen.

Egal wie, die Kräfte lassen unweigerlich nach, und die Einsicht, Land zu verlieren, kommt schleichend. Bis sie mit einem Mal Gewissheit ist.

 

In derselben Nacht, in der ich mit Jott und Aki in Antofagasta um die Häuser gezogen war, hatten auch Robert und Matías – nach einer Veranstaltung im Institut – einige Kneipen durchstreift. Einem Polizeibericht zufolge hatten die beiden ein Lokal verlassen, nachdem sie dort von drei betrunkenen Männern angepöbelt worden waren. Was danach geschehen war, stand im Einzelnen nicht fest, aber am frühen Morgen waren Roberts und Matías’ Leichen in einer Einfahrt aufgefunden worden. Jemand hatte die beiden ausgeraubt und mit einem Kopfschuss getötet.

 

Roberts Beerdigung sollte am kommenden Samstag in Wiesbaden stattfinden.

 

Ich trieb auf offener See. Die Inseln, die ich sah, waren palmenlos und ohne Trost.

Tagelang dachte ich nur einen einzigen Satz: Jemand hat Robert in den Kopf geschossen. Jemand hat Robert in den Kopf geschossen.

Jemand hat Robert in den Kopf geschossen.

 

Aaron bat mich, in seine Wohnung einzuziehen. Ich lehnte ab.

Ich hörte seine Stimme, als läge ich unter Wasser.

 

Roberts Beerdigung.

Ein Menschenmeer, das hohe Wellen schlug und ratlos verebbte. Mittendrin erkannte ich Roberts Freundin Fanny, ihr Anblick war bestürzend.

Den Kreis der engsten Angehörigen umschritt ich weiträumig, aber ich elendete vor mich hin.

 

Der Pfarrer behauptete, wir seien nun reicher um das, was wir verloren hätten.

Gern wäre ich aufgestanden und hätte ihn aufgefordert, die Wahrheit zu sagen: Nie wart ihr, nie waren wir ärmer und erbärmlicher als jetzt!

Ich tat es nicht.

 

In den Tagen nach der Beisetzung trank und trank und trank ich mich in die Nähe von Nichts, bis die Adern an meinen Armen schmerzhaft anschwollen.

Etwas darin wurde stillgelegt.

Es krepierte und verdarb.

 

Was bleibt, ist eine unbestimmte Furcht.

Was bleibt, ist eine sickernde Mulde, in der alles, was gut ist, den Atem verliert.

Was bleibt, ist die Unfähigkeit, frohen Mutes zu sein.

 

Natürlich, natürlich: Die Hoffnung verlässt einen nie.

Hoffnung ist gedächtnislos.

Darin ähnelt sie dem Zufall.