16

Um 10 Uhr morgens stand ich wieder vor der Jacht. Wenige Minuten nach mir trafen auch Jott und Aki ein. Das Wetter war wie am Vortag: silbergrau, kühl und trocken. Wir stiegen aufs Boot.

»Ich habe Frühstück mitgebracht«, sagte ich und breitete meine Einkäufe auf dem Deck aus.

»Was meinst du«, fragte Aki, an seinen Bruder gerichtet: »Könnten wir sie nicht fest engagieren?«

»Geht leider nicht«, erwiderte Jott. »Sobald sie sich vergessen hat, reist sie weiter.«

»Stimmt auch wieder«, bestätigte Aki und reichte mir die Hand: »Ich bin übrigens Aki.«

Auch Jott stellte sich erneut vor.

»Ihr seid Pfeifen«, sagte ich.

 

Nach dem Frühstück nahmen Jott und ich uns noch einmal die Kajüte vor. Wir wählten denselben Ablauf wie beim ersten Durchgang und wechselten auch diesmal kaum ein Wort. Aki schraubte weiter an der Spüle.

Am frühen Nachmittag war alles erledigt.

 

»Wenn du willst«, schlug Aki mir vor, als wir wieder beisammensaßen, »kannst du heute Abend mit uns essen.«

»Gern. Wo wollen wir hingehen?«, fragte ich und biss in ein Sandwich.

»Zu uns nach Hause«, sagte Jott.

»Es gibt Pfeifengulasch«, ergänzte Aki.

»Ausgezeichnet«, gab ich zur Antwort.

 

Ich ging ins Hotel, duschte und zog mich um. Um 18 Uhr trafen wir uns auf dem Parkplatz am Fischereihafen.

Wir bestiegen einen dunkelgrünen Ford, Aki setzte sich ans Steuer. Die Dachbespannung hing an einigen Stellen lose herunter, und der Motor jammerte bei jedem Brems- und Beschleunigungsvorgang.

Wir verließen die Stadt und fuhren in eine höher gelegene, verlassene Gegend.

Ich hätte mich auch fürchten können, allein mit den zwei Männern, aber ich fürchtete mich vor gar nichts mehr. Irgendwo zwischen dem Haus meines Vaters und Antofagasta waren mir nach und nach ein paar Dinge abhandengekommen. Vielleicht war das schon der Anfang des Vergessens.

Wie in der Bar redete Jott auch im Auto beinahe flüsternd auf seinen Bruder ein. Wie dort konnte ich auch jetzt nicht hören, worum es ging. Ich sah nur Akis gutmütiges Gesicht im Rückspiegel. Manchmal nickte er.

Nach 20 Minuten bogen wir von der asphaltierten Straße in einen schmalen sandigen Seitenpfad ein. Wir bretterten über eine Hügelkuppe.

»Von hier aus kannst du es sehen«, sagte Aki.

Am Ende des Pfades, ungefähr einen halben Kilometer entfernt, stand ein blau getünchtes, zweistöckiges Haus aus dem letzten Jahrhundert. Es war von Palmen und niedrigen Büschen umsäumt.

 

Wir parkten bei einem alten Brunnen. Erst aus der Nähe sah ich, dass an einigen Stellen die Farbe von der Hausfassade blätterte.

Es war kühl. Ich strich meine Sachen glatt und folgte den beiden Brüdern. Die Tür wurde geöffnet, vor uns stand eine Frau von etwa sechzig Jahren. Sie winkte ihre Söhne an sich vorbei, begrüßte mich förmlich und schob mich mit einer ungelenken Bewegung in den Eingang.

 

Im Esszimmer setzten sich die drei auf ihre, so schien es, angestammten Plätze.

»Bitte«, sagte die Señora und wies mir den Stuhl gegenüber Jott zu.

Im Haus war es noch kühler als draußen. Ich spürte, wie mir die Kälte von den Bodenkacheln langsam in die Waden kroch. Ich fröstelte. Niemand sagte ein Wort. Eine Weile lang wünschte ich, ich hätte die Einladung nicht angenommen.

Der Raum war nur spärlich beleuchtet, an den Wänden hingen zwei große Seestücke und ein paar Fotos.

Aki kam mir zur Hilfe, indem er erklärte: »Das sind unsere finnischen Großeltern, rechts die Eltern unseres Vaters, links die unserer Mutter.«

 

Ich nutzte die Gelegenheit, stand auf und stellte mich direkt vor die Bilder. So konnte ich mich ein wenig bewegen und die Kälte unauffällig abschütteln.

Als ich mich wieder setzte, bemerkte ich, dass mich die Señora mit leerem Blick fixierte. Es lagen weder Wohlwollen noch Ablehnung in ihrer Art, mich anzusehen.

»Ich werde das Essen bringen«, sagte sie und erhob sich.

»Kann ich helfen?«, fragte ich, aber sie reagierte nicht.

 

Als sie draußen war, erklärte Aki: »Du darfst das nicht falsch verstehen. Wir bekommen so gut wie nie Besuch. Sie ist wohl etwas aus der Übung und weiß nicht, was sie sagen soll. Hier draußen ist man sehr allein.«

»Fährt sie denn nie in die Stadt?«, fragte ich.

»Nein. Was sie braucht, schreibt sie uns auf.«

»Was ist mit Kleidern?«, erkundigte ich mich. »Eure Mutter ist sehr gut angezogen.«

»Ja, darauf hat sie immer geachtet. Als unser Vater noch lebte, ging sie gern einkaufen. Ihre Schränke sind zum Bersten voll.«

»Apropos«, hakte ich ein. »Kann mir vielleicht einer von euch einen Pullover leihen?«

»Selbstverständlich«, sagte Jott. Er verließ den Raum und kehrte wenig später mit einem dunkelblauen Troyer zurück.

Ich streifte ihn über und spürte, wie das Frösteln nachließ. Die Ärmel waren etwas zu lang, sodass ich sie aufkrempeln musste, aber mir wurde sofort viel wohler. Der Pullover roch nach Meer.

Zum ersten Mal seit wir hier waren, brachte Jott ein Lächeln auf.

 

Die Señora kam zurück und trug das Essen auf.

Es war nicht gewürzt, und auf der Tafel fehlte Salz. Alles schmeckte fad. Dennoch behauptete ich, es sei hervorragend. Nach Akis Erklärungen war ich entschlossen, mit meinem Besuch nicht weiter zu hadern.

Wenn jemand sprach, so waren es Aki und ich.

Allmählich gewöhnte ich mich an den Abend.

 

Nach dem Dessert ging Jott in den Flur und brachte ein Päckchen Zigaretten.

Während wir drei rauchten, räumte die Señora das Geschirr ab. Dann setzte sie sich wieder zu uns.

»Schöner Pullover«, sagte sie unvermittelt.

»Ja, er ist von Jott«, entgegnete ich.

»Ach, ja … Er kam mir irgendwie bekannt vor«, sagte sie und verstummte wieder.

 

»Soll ich dich zurück ins Hotel bringen?«, fragte Aki. »Wir haben aber auch ein Gästezimmer. Und wenn du willst, stellen wir dir unsere Schwester vor.«

»Wenn ich darf«, wandte ich mich an die Señora, »würde ich gern über Nacht bleiben.«

Sie schaute nur auf den Pullover.

»Abgemacht«, sagte Aki und stand auf, um eine Flasche finnischen Wodka aus dem Schrank zu holen.

Aki, Jott und ich tranken aus großen Gläsern.

 

Dann führten die beiden mich durch den Flur in ein der Küche gegenüberliegendes Zimmer. Sie klopften an eine weitere Tür, warteten kurz und gingen voran.

In dem Raum: ein weißes Bett. In dem Bett: eine junge Frau.

An der Stirnseite des Zimmers gab ein Terrassenfenster den Blick auf zwei Palmen und die karge Hügellandschaft frei. Neben dem Bett stand ein Stuhl.

»Venia«, sagte Aki, während er ihr ein Glas auf den Nachttisch stellte.

Sie nahm den Blick vom Fenster und sah uns drei freundlich an.

 

Ihr Gesicht war nicht lieblich, aber klar wie Wasser. Ihre Haut spannte sich papierzart über die hohe Stirn, über Wangenknochen und Kinn. Das blonde Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden.

Wie sie mich ansah, fiel ich in die weichen Gräser meiner Kindheit.

 

Jott bot mir den Stuhl an. Ich setzte mich.

Irgendwann sagte Aki: »Ich gehe jetzt schlafen. Dein Zimmer ist das erste oben rechts.«

Ich stand auf und bedankte mich.

Jott lehnte im Türrahmen. Seine Augen waren schwarz. Ich sah mich in ihnen, ängstlich schwimmend, nachts in einem See.

»Schlaf gut«, sagte er.

»Schlaf gut«, sagte ich.

 

Ich blieb die ganze Nacht bei Venia. Zwischendurch nickte ich immer wieder ein.

Zweimal öffnete ich das Fenster und ließ etwas Luft ins Zimmer. Beide Male wachte sie auf, veränderte kurz ihre Lage und schlief weiter.

Früh am Morgen brachte mir die Señora einen Kaffee und berührte mich kurz an der Schulter.

Dann tauchte Aki auf. »Komm doch mal mit.«

Ich folgte ihm. Wir gingen nach draußen und lehnten uns an den Brunnen.

 

»Ich will es kurz machen«, erklärte er. »Venia war ein Glückskind. Sie war gewinnend, fröhlich und ziemlich sorglos. Was sie auch anfing: Es gelang ihr. Sie studierte, las viel und sprach viel. Vor zwei Jahren jedoch wurde sie von Woche zu Woche stiller. Eines Abends kam sie von der Uni nach Hause, wirkte niedergeschlagen und matt. ‚Was ist mit dir?’, fragten wir immer wieder. ‚Nichts’, sagte sie und legte sich hin. ‚Nichts.’ Und dann: ‚Je mehr ich dazulerne, desto weniger …’ Sie hat ihren Satz nicht beendet und von da an kein Wort mehr gesprochen.

Eine von ihren Kommilitoninnen erzählte uns später, Venia sei an jenem Tag nach einer Vorlesung in die Bibliothek gekommen, habe ihre Schreibutensilien auf den Tisch gelegt und sei dann auf einen der Computer für die Katalogrecherche zugegangen. Auf halber Strecke sei sie stehengeblieben und habe sich in dem Lesesaal umgeschaut, einfach nur umgeschaut. Dann sei sie zurückgekommen, habe ihre Sachen gepackt und sei gegangen.

Seit zwei Jahren denken Jott und ich darüber nach, wie sie ihren Satz beenden wollte. Anfangs hat auch unsere Mutter mit uns spekuliert. Sie hielt Venias Veränderung zunächst für eine Laune, die sich bald wieder geben würde.

Wir haben viele Varianten erwogen, aber nur zwölf taugen wirklich etwas.«

 

»Und Jott?«, fragte ich.

»Jott war immer schweigsam. Als Kind hat er gestottert. Unsere Eltern haben ihn zu einer Logopädin gebracht, doch auch nach der Therapie fand er keinen Gefallen daran, sich mitzuteilen. Er und Venia standen sich sehr nahe. Seit sie nicht mehr spricht, erzählt Jott für zwei … wenn auch nur mir. Er redet noch immer nicht gern, aber er tuts.«

Aki lächelte müde. Dann richtete er sich auf und sagte: »Jott und ich müssen zum Hafen. Willst du mitkommen?«

»Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich heute noch hierbliebe?«

»Im Gegenteil.«

 

Zurück in Venias Zimmer setzte ich mich wieder auf meinen Stuhl.

Manchmal war sie weit entfernt. Manchmal traf mich ihr Blick wie ein Wasserfall.

Mittags brachte uns ihre Mutter etwas zu essen. Danach schlief ich ein. Als ich aufwachte, lag ich, den Oberkörper vornübergebeugt, mit dem Kopf auf Venias Bett.

 

Am frühen Abend kehrten Jott und Aki zurück. Wieder wurde beim Essen wenig gesprochen, wieder wurde geraucht und Wodka getrunken.

Ich äußerte den Wunsch, mir die Füße zu vertreten.

Jott begleitete mich. Wir strichen schweigend um Palmen und Büsche, unser Spaziergang endete am Brunnen.

»Hast du noch eine Zigarette?«, bat ich.

Er fingerte eine aus seiner Jackentasche und gab mir Feuer.

 

»Willst du wissen, welche zwölf Enden wahrscheinlich sind?«, fragte er.

»Nein. Ich möchte selber darüber nachdenken. Auch wenn ich annehme, dass keines von ihnen ermutigend ist.«

»Ja«, sagte Jott.

Wir gingen ins Haus und tranken noch einen Wodka.

 

Nachdem sich die anderen zurückgezogen hatten, nahm ich eine heiße Dusche und legte mich zu Bett. Ich schlief sofort ein.

Gegen 3 Uhr wachte ich wieder auf. Eine Stunde lang wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, verfluchte meine Unruhe und gab ihr schließlich nach. Ich zog mich an und ging die Treppe hinunter.

An der Küche vorbei auf die Haustüre zusteuernd, sah ich, dass die erste Tür zu Venias Zimmer offenstand und unter der zweiten ein schmaler Lichtstreifen in den Flur fiel. Ich wollte schon klopfen, überlegte es mir dann aber anders und schlich nach draußen. Nach ein paar Runden ums Haus lehnte ich mich mit Sicht auf die schwarzblaue Landschaft an eine Palme. Bei dem Gedanken an Venias Anblick, an ihre Untätigkeit und ihr Schweigen, das ihre Familie wie eine Glasglocke umschloss, überkamen mich plötzlich Überdruss, Ungeduld und Ärger.

Es fühlte sich an, wie wenn man ein Haar im Mund hat.

 

Wie bin ich hierhergekommen?

Da war eine Tür, die ich eintrat, nicht wahr?

Oder nein: Ich trat sie nicht ein. Es ging nicht.

Etwas in mir trat etwas ein.

Und ich erinnere mich an die Frau im Lodenmantel.

 

Jedenfalls ist da jetzt nichts mehr. Ich sehe und fühle nur noch, was mich unmittelbar umgibt: den Farn, die Verwurzelungen, die Fältelungen, das Flattern. Und das feine Singen meiner Knochen.