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Ich lief, prüfte die Daten auf dem gps, lief, prüfte, lief, rief kurz bei Nik und Laura an und bat sie, am nächsten Tag meine Reisetasche zu unserem Treffpunkt mitzubringen. Sie erklärten sich bereit, mich von dort aus nach Antofagasta zu fahren.

Ich lief, sah fast nichts, lief, dachte nichts, lief und prüfte, sah sonst nichts, dachte sonst nichts. Nur manchmal den Satz: »Man muss sich einfach verlassen.«

 

Ich fühlte, wie der Rucksackgurt an meinen Hüften scheuerte. Auch meine Fußknöchel taten mir weh, aber es war nur ein leichter Schmerz, wie ein Muskelkater.

Ich steuerte durch ein von mir selbst vorgegebenes Koordinatensystem und erinnerte mich kaum mehr an das, was vorher gewesen war. Von den schmerzhaften Stellen an meinem Körper abgesehen, ging ich über in die Landschaft, die mich umgab.

Keines der von Laura angekündigten Autos kreuzte meinen Weg. Ich war allein. Nichts hielt mich davon ab, über mich selber nachzudenken, und nichts regte mich dazu an.

 

Am dritten Morgen stand ich auf, schaltete das gps ein und prüfte meine Strecke.

In den vergangenen Tagen und Nächten war ich so weit gewandert, dass mich nur noch 10 Kilometer von dem vereinbarten Treffpunkt mit Nik und Laura trennten.

 

Ich rollte meinen Schlafsack zusammen, zog den letzten vollen Wasserbeutel aus dem Rucksack und warf ihn über mein Gepäck.

Ich öffnete den Verschluss und hielt beide Hände unter das nachtkühle Wasser, um mich zu waschen.

Dann sagte ich etwas.

Vielleicht sagte und sang ich etwas, mich meiner Stimme versichernd.

Vielleicht sagte und sang ich so etwas wie »ja gut« und »danke.«

Genau weiß ich es nicht mehr.

Dann lief ich weiter in die festgelegte Richtung, als befolgte ich ein Horoskop, an das ich nicht glaubte.

 

Ich sah Nik und Laura schon aus der Ferne. Wie auf ihrem Prospekt standen sie an ihren Jeep gelehnt.

Laura entdeckte mich als Erste. Sie zupfte an Niks
t-Shirt, wies in meine Richtung und winkte mir. Sie kamen mir entgegen und begrüßten mich. Nacheinander nahmen sie mich in die Arme.

Eingeübte Vertraulichkeiten wie diese sind mir immer unangenehm, also machte ich es kurz. Ersatzweise versuchte ich, ihr offenes Strahlen zu erwidern. – Was mir missglückte und mehr zu einem schiefen Lächeln geriet (komisches Gefühl, wenn die obere Gesichtshälfte nicht mittut). Nik wandte sich an Laura und witzelte: »Hast du nicht auch den Eindruck, dass sich da jemand maßlos freut, uns wiederzusehen?«

»Entschuldigt«, sagte ich. Mit einer Bemerkung, die die Worte »müde« und »hungrig« enthielt, überspielte ich meinen Impuls, erneut das Weite zu suchen.

 

Wir luden meinen Rucksack in den Kofferraum.

Ich nahm hinten Platz.

»Antofagasta?«, fragte Nik in den Rückspiegel.

»Antofagasta«, bestätigte ich.

 

»Jetzt erzähl schon«, ermunterte mich Laura, während sie mir eine Flasche Eistee und ein mit Huhn belegtes Brot reichte.

Nun bedauerte ich, dass ich den beiden so kühl begegnet war. Von unserem ersten Treffen an hatten sie meinen Wüstenplan uneingeschränkt unterstützt und mir keine unangenehmen Fragen gestellt. Sie hatten nicht lang gefackelt, waren fürsorglich und zuverlässig. Auch wenn sie mit dieser Fürsorge ihr Geld verdienten, stand ich in ihrer Schuld.

Diese Schuld, so schien mir, war nur durch Begeisterung abzutragen. Also klaubte ich, anfangs etwas stockend, dann immer müheloser, alles zusammen, was mir zur Einmaligkeit der Wüstenlandschaft und dem Gefühl, in ihr ganz allein zu sein, einfiel. Ich pries – natürlich! – den klaren Sternenhimmel und das Erlebnis absoluter Stille. Nirgends werde einem so bewusst – naja, vielleicht noch auf dem Meer –, wie mikroskopisch klein das eigene Leben sei und dass die Erde sich ganz unbeeindruckt weiterdrehen würde, einfach weiter, auch wenn man irgendwann darin begraben läge. Ich hätte diesen Gedanken nur in der ersten Nacht als beängstigend empfunden, dann aber als tröstlich. Überhaupt sei ich in den drei Tagen ganz ruhig geworden und hätte mich nur noch aufs Gehen konzentriert.

Laura und Nik schienen äußerst zufrieden.

 

Vielleicht hatte ich das alles tatsächlich so empfunden, vielleicht entsprang mein Bericht aber auch nur den Vorstellungen, die ich mir vorher von der Wüste gemacht hatte. Möglicherweise waren es auch Ideen, die ich jetzt erst, im Reden darüber, entwickelte.

 

Es fällt mir manchmal schwer, Erlebtes und Gedachtes, Gesehenes und die Bilder in meinem Kopf nachträglich voneinander zu unterscheiden. Immerhin gebe ich gerne zu, dass ich gelegentlich etwas durcheinanderbringe.

Erinnerungen überschreiben sich fortlaufend selbst. Sie verbinden sich mit den Momenten, in denen man sie hervorholt. Es sind Amalgame aus verschiedenen Zeiten und verschiedenen Empfindungen. Wenn man von sich erzählt, schrammt man beinahe zwangsläufig an der Wahrheit vorbei. Weil Verstand und Körper permanent von solchen Rückkoppelungen beeinflusst sind, gibt es gute Gründe dafür, die Fähigkeit zur Wahrheitsfindung in eigener Sache in Frage zu stellen.

Hebt man die Mundwinkel, auch wenn einem gar nicht zum Lachen zumute ist, schüttet der Körper Endorphine aus. Er gibt das Signal »Freude!«, und das Gehirn ist dermaßen auf Ausgleich programmiert, dass es ihm die dafür notwendigen Stoffe nachträglich serviert.

Damit, dass vieles zwar im Kopf und dennoch jenseits der Ratio entschieden wird, kann sich jeder anfreunden, der die Vernunft wirklich liebt. Wer annimmt, der in der Mikrophysik überall nachweisbare Zufall hätte im eigenen Kopf keine Chance, ist ein verdeckter Esoteriker. Ich selbst übe mich jedenfalls lieber in Skepsis, wenn es um meine Wahrnehmungen, Erinnerungen und meinen Verstand geht oder darum, mich im Nachhinein zu irgendetwas zu erklären.

 

Mein enthusiastischer Bericht über die Tage in der Wüste wischte die dumpfe Ahnung, dass ich dort etwas Wichtiges zurückgelassen hatte, beiseite und ließ mich jetzt gut gelaunt im Fond sitzen.

»Wie bist du eigentlich mit dem schweren Rucksack zurechtgekommen?«, erkundigte sich Laura.

»Welcher Rucksack?«, konterte ich.

»Angeberin«, kommentierte Nik. »Gib zu: Dir tun die Knöchel weh, und der Gurt hat deine Hüfte aufgescheuert.«

»Ach was«, setzte ich meine Nummer fort. »Aber nur so interessehalber: Habt ihr zufällig Wundsalbe? – Nicht für mich. Für einen Freund von mir.«

Beide lachten.

 

»In der Wüste hatten wir mal einen dabei«, begann Nik zu erzählen, »der hieß Fred.« Laura stöhnte: »Fred, oh ja. Fred aus Solingen.«

»Schon zur Vorbesprechung kam er im Safari-Outfit. Er hat sich alle Mühe gegeben, wie Hemingway auszusehen. Er prahlte unentwegt damit, was für ein toller Hecht er sei und was er schon alles gesehen habe. Unsere Tour sah auch eine Fahrt zum Llullaillaco vor, einem fast 7 000 Meter hohen Vulkan etwas weiter im Westen.

Wir unternahmen nur eine kleine Wanderung, aber schon auf den ersten Metern stellte sich heraus, dass Fred eine Mordshöhenangst hatte. Er wurde mit jedem Schritt nach oben kleinlauter. Wenn wir ihn fragten, ob alles in Ordnung sei, pfiff er uns an: ‚Nicht ansprechen! Nicht ansprechen!’ Zurück in Copiapó aber führte er sich auf, als habe er den Berggipfel gestürmt und uns danach durch die Wüste nach Hause geführt.«

»Fred aus Solingen?«, rief ich erstaunt. »Leute! Die Welt ist ja so klein! Das ist er: der Freund, für den ich die Wundsalbe auftreiben soll!«

 

Bis Antofagasta waren es rund 150 Kilometer.

 

Ungefähr auf halber Strecke sagte Nik: »Wir müssen dir unbedingt etwas zeigen. Du machst doch Kunst, oder?«

»Nein«, korrigierte ich. »Ich restauriere Kunst, die andere gemacht haben.«

»Jedenfalls bist du irgendwie künstlerisch unterwegs«, fegte Nik meinen Einwand beiseite. (Wie oft mir dieses Missverständnis schon begegnet ist, lässt sich kaum mehr zählen.)

»Auf einer Anhöhe hier in der Gegend«, fuhr Nik fort, »steht ein tolles Kunstwerk: La Mano del Desierto. Normalerweise kann ich mit Kunst ja überhaupt nichts anfangen, schon gar nicht mit moderner, aber dieses Ding ist echt beeindruckend.«

Obwohl mir nach diesem letzten Satz nichts Gutes schwante, willigte ich ein, den kleinen Abstecher zu unternehmen.

 

Die Mano del Desierto war eine ausgestreckte Zementhand, die – von der Mittelhand aufwärts – elf Meter hoch aus dem Sand ragte.

Wie wir davorstanden, schaute mich Laura erwartungsvoll an: »Und, was sagst du?«

Für meine Begriffe war das Ding nichts anderes als Kitsch.

»Glaubt ihr«, versuchte ich es vorsichtig, »dass am anderen Ende ein Fuß aus der Erde sticht? Irgendwo in China? Ich meine: Wennschon, dennschon!«

Laura lehnte sich mit dem Rücken an Nik. Er legte eine Hand auf ihre Schulter.

 

Die Stimmung zwischen uns nahm eine leichte Kurve nach unten.

Sie wurde auch nicht besser, als ich im Auto einen Versuch unternahm, ernsthaft auf Lauras Frage zu antworten. »Ich glaube, dass diese Plastik vor allem deshalb beeindruckt, weil sie so groß ist. Mir persönlich ist das zu wenig. Außerdem weckt sie doch bei allen dieselbe Assoziation: Dort liegt ein riesenhaftes Wesen im Sand begraben. Vielleicht denkt man dabei ans Versinken und Verzweifeln, ja gut. Und dann?«

Ich merkte, wie mein Tonfall mit jedem Wort ein wenig schärfer wurde. Dass ich im Begriff war, mich für das Ausbleiben von Euphorie zu rechtfertigen, erschien mir plötzlich ganz krumm.

Nik brachte die Sache zu einem abrupten Ende, indem er feststellte: »Was solls. Über Geschmack lässt sich eben nicht streiten.«

 

Endlich ist mir nicht mehr übel. Mein Magen hat sich offenbar an die neue Kost gewöhnt. Wahrscheinlich war es vor allem das Wasser aus dem kleinen Tümpel, das mich für einige Tage lahmgelegt und mir auch das Zeitgefühl genommen hat. Nehme doch an, es war Fieber.

 

Es ist Ende August, aber welches Datum genau?

 

Langsam sollte ich mir Gedanken darüber machen, wie es weitergeht, ich kann schließlich nicht ewig hierbleiben. Die Tage werden kürzer und die Nächte merklich kühler. Außerdem ist kaum mehr Benzin in meinem Feuerzeug.

 

Noch bin ich keinem anderen Menschen begegnet, aber manchmal höre ich in der Ferne Flugzeuglärm. Daran, dass das Leben außerhalb meines kleinen Reviers normal weitergeht, habe ich nicht den geringsten Zweifel. Ich müsste nur in irgendeine Richtung aufbrechen.

Die Sache ist bloß die: Nach allem, was passiert ist, treibt es mich nirgendwo hin.

Ich wüsste auch niemandem etwas zu sagen.