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Ein leises Klopfen weckte mich.

Ich bat das Zimmermädchen, mich für dieses Mal auf ihrem Rundgang auszusparen, legte mich wieder hin und schlief weiter.

Am Mittag bestellte ich mir eine Kanne Tee mit
Zitrone und ein Sandwich aufs Zimmer. Ich entfernte die Schilder aus meinen neuen Sachen, zog Hose und Shirt an und suchte die Rezeption auf. Auf meine Bitte wies man mir eine Internetkabine zu.

Ich verschickte eine Nachricht an Aaron und beantwortete zwei e-Mails von Freunden, die sich nach meinem Verbleib erkundigten. Dann schrieb ich an Robert, berichtete kurz von meinen Wüstentagen und teilte ihm meinen neuen Aufenthaltsort mit.

 

Vom Hotel aus lief ich zum Strand und über den von schwarzen Kränen gesäumten Pier. Außer mir war kein Mensch da.

Schwere, silbern gerandete Wolken bedeckten den Himmel, nur ab und an kam die Sonne durch und wanderte wie ein Bühnenlicht über die Stadt und das Meer.

Der Wind blies mir entgegen.

Ich genoss es, an diesem unwirtlichen Ort zu sein.

 

Im Hafen sah ich ein paar Fischern beim Ausladen ihrer Fänge zu. Einer von ihnen winkte mir mit einem Tintenfisch. Ich ging weiter zum Jachthafen, wo mir unter vielen protzigen Motorjachten ein elegantes Segelschiff aus Holz auffiel. Ich setzte mich auf einen Poller, um es in Ruhe zu bewundern: Es war ein Zweimaster von etwa 15 Metern Länge. »Sepia« stand in schlichten Lettern darauf.

Ich schloss die Augen, um den Windgeräuschen in der Takelage, dem Klirren und Klopfen und dem sanften Plätschern im Hafenbecken zuzuhören.

 

»Hola!«, sprach mich jemand an und tippte mir an die Schulter. Ich sprang auf.

Vor mir standen die beiden Männer von gestern Abend.

Der ältere trug einen Werkzeugkasten und zwei Pinsel mit sich, der andere ein Bündel Tücher und einen Metallkanister.

»Hola«, antwortete ich vorsichtig.

Der Ältere wies auf seinen Begleiter und sagte: »Jott«. Dann deutete er auf sich und sagte: »Aki«.

Ich gab ihnen die Hand und stellte mich ebenfalls vor.

Es entstand eine Pause.

»Ein schönes Boot, nicht?«, sagte Aki. »Wir müssen den Wasserzulauf zur Spüle reparieren und die Kajüte lackieren.«

»Kann ich vielleicht mitmachen?«, fragte ich.

»Ich nehme an, du meinst nicht die Spüle«, antwortete er, drückte mir einen breiten Pinsel in die Hand und sagte: »Du musst die Schuhe ausziehen.«

Ich tat es und folgte den beiden barfuß aufs Deck.

 

In der Kajüte füllte Aki den Bootslack in zwei Dosen, kramte aus einer am Boden liegenden Plastiktüte zwei Lackwannen hervor und schickte uns damit an die Arbeit.

Jott bestieg das flache Kajütdach, ich positionierte mich an einer Seitenwand.

»Du darfst nicht zögern«, sagte er. »Du musst den Pinsel möglichst gleichmäßig führen.«

Ich nickte, tauchte die Borsten ein, streifte sie ab und setzte an. Dann zog ich den Pinsel in einer fließenden Bewegung von links nach rechts, nahm neuen Lack auf und verstrich den Ansatz. Für die kürzeren Bahnen zwischen den Fenstern reichte eine einzige gerade Bewegung.

Das Holz sog den klaren Lack an und begann zu leuchten.

»Es wird noch einen Anstrich brauchen«, stellte Jott fest.

Ich stimmte ihm zu.

Erneut tauchte ich den Pinsel in den Topf, streifte ihn ab und setzte zur nächsten Bahn an, weiter und weiter, von links nach rechts und wieder auf Anfang. Nur ein einziges Mal warf Jott einen kurzen Kontrollblick.

Ich zog meine Bahnen und verschwand mit dem Anstrich im Holz.

 

Nachdem Jott mit dem Dach und ich mit meiner Seite fertig war, nahm er sich die zweite Seitenwand vor, während ich mich dem Eingang zur Kajüte widmete. Wir strichen schweigend aufeinander zu und voneinander weg. Wir hatten dasselbe Tempo.

Schon als Kind hat es mich angezogen, Menschen, die etwas von ihrem Handwerk verstehen, bei der Arbeit zu erleben. Die beruhigende Wirkung einer routinierten Bewegung, die Sicherheit, mit der einer sein Werkzeug ansetzt, einen Fisch filettiert, Kacheln verlegt, einen Schuh neu besohlt oder mit wenigen Strichen eine Skizze anfertigt, berührt mich immer.

Dass Jott und ich, ohne einander zu kennen, so still, konzentriert und einhellig nebeneinander arbeiten konnten, empfand ich als Geschenk. Gern hätte ich noch lange so weitergemacht, aber nach dem ersten Anstrich musste der Lack für einige Stunden trocknen.

 

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Jetzt essen wir«, erklärte Jott und steckte seinen Kopf in die Kajüte, um Aki zu holen.

Wir setzten uns aufs Vorderdeck.

Aki brachte Brot, etwas Schinken und drei Flaschen Bier.

»Wem gehört die Jacht?«, fragte ich.

»Wir kennen den Eigner nicht. Die Hafenverwaltung hat uns beauftragt«, sagte Jott.

 

Von Aki erfuhr ich, dass Jott und er Brüder waren. Aufgewachsen im finnischen Turku, waren sie als Kinder mit ihren Eltern und ihrer kleineren Schwester nach Chile gekommen. Der Vater hatte einen Posten als leitender Angestellter in einem Unternehmen angenommen, das mit Salpeter handelte. Er starb jedoch schon wenige Monate nach ihrer Ankunft in Antofagasta an einem Hirnschlag. Seiner Familie hinterließ er ein kleines Haus am Rand der Stadt und gerade so viel Geld, dass seine Frau und seine Tochter bis heute ein knappes, aber sicheres Auskommen hatten.

 

»Nach der Schule gingen Jott und ich immer in den Hafen und sahen uns die Boote und Jachten an«, erzählte Aki. »Später durften wir für den einen oder anderen Skipper Hilfsarbeiten erledigen. Dann lernten wir den Chef der Jachthafenverwaltung kennen. Er verschaffte uns bald regelmäßig Jobs. Alles, was wir verdienten, haben wir für ein eigenes Boot gespart. Im letzten Herbst haben wir einen Kutter gekauft. Wir bieten Angel- und Ausflugsfahrten für Touristen an, sind aber immer noch oft hier.«

»Was ist mit eurer Schwester?«, fragte ich die beiden. »Was macht sie?«

Jotts Augen nahmen eine andere Farbe an. Es sah aus, als liefe ihm von innen Tinte in die Iris.

»Ja, unsere Schwester …«, hob Aki an. Er stellte seine Bierflasche ab. »Unsere Schwester Venia ist – wie soll ich das erklären? Sie ist gesund und ist es doch nicht. Sie ist jetzt 26. Wie Jott. Die beiden sind Zwillinge.«

Nach Jotts Reaktion wagte ich es nicht, weitere Fragen zu stellen.

Dieser Ausdruck in seinem Gesicht, der mich schon in der Bar kurz touchiert hatte, war von solcher Intensität, dass jede Leichtigkeit darin versickerte. Noch verstand ich nicht, wie das mit seiner Plauderlaune am Vorabend zusammenging.

Inzwischen weiß ich es, und die Erinnerung fühlt sich an wie ein freiliegender Nerv.

 

»Danke für deine Hilfe«, sagte Aki.

»Gern geschehen. Heute war der erste Tag seit langem, an dem ich mich entspannen konnte«, erklärte ich.

Jott fragte: »Machst du nicht Ferien?«

»Nicht ganz«, erwiderte ich. »Ich versuche, mich zu vergessen. Erst erinnern, dann vergessen.«

»Wenn dir das Lackieren dabei hilft«, flachste Aki, »kannst du gerne morgen damit weitermachen.«

»Einverstanden«, entschied ich. »Wann soll ich hier sein?«

Wir reinigten die Pinsel. Aki verstaute das Werkzeug in einem der Kajütschränke.

Unten am Anleger stieg ich in meine Schuhe und lief noch ein Stück mit den beiden. Dann wünschten wir einander einen guten Abend und trennten uns.

 

Im Hotel prüfte ich erneut meine Mails. – Die Restaurierung würde ihren Gang nehmen. Robert hatte geschrieben und ein paar Fotos von seinen Grabungen geschickt: Robert mit Stirnlampe, Robert verdreckt in einem Erdloch, Robert und Matías mit ein paar Scherben, einer Karte und zwei Flaschen Bier vor sich.

Ich sah mir die Bilder lange an.

 

Auf meinem Zimmer rief ich kurz bei Aaron an. Ich berichtete ihm von meinem Tag und er mir von seinem.

Dann ging ich leichten Herzens zu Bett.

 

Heute hat es den ganzen Tag lang geregnet. Schon am Morgen war der Himmel regenschwer.

Ich stellte die knapp zwanzig Büchsen und Flaschen auf, die ich in den letzten Wochen gefunden habe, setzte mich auf meinen Stein und vertrieb mir das Warten damit, den richtigen Namen für die Farbe des Himmels zu suchen.

 

Als der Regen losbrach, ging ich ins Zelt und zog meine Sachen aus. Dann stellte ich mich ins Freie und wartete, bis mir das Wasser die Haare durchweicht hatte und mir den Körper hinablief, sodass ich mich waschen konnte.

Das Gefühl, wieder sauber zu sein, erschien mir weit weniger befriedigend als erhofft.

Ich suchte Heimat in meinem Anzug.

 

Immerhin: Für trinkbares Wasser ist erstmal gesorgt.

Und ich spekuliere auf den einen oder anderen Steinpilz in den nächsten Tagen.