12
Ich setzte mich neben mein Gepäck und sah zu, wie das einzige Auto weit und breit immer kleiner wurde, immer kleiner und kleiner, und sich allmählich in einer Wolke aus Sand auflöste.
»Auf!«, dachte ich. Mir war, als stünde Robert neben mir.
Ich stand auf, packte mein Zeug und lief los.
Der Rucksack hing bleischwer an mir. Anfangs war ich oft davor, ihn einfach abzuwerfen.
Irgendwann fand ich einen Rhythmus, der meine Schritte mit den Schwüngen des Gepäcks synchronisierte.
Ich lief. Ich folgte der Richtung, die mir das gps vorschrieb und versuchte, nichts zu denken.
»Alles ist nichts«, flüsterte es in mir.
Gehend wiederholte ich den Satz. Ich wiederholte ihn wieder und wieder, ich wiederholte ihn unfreiwillig und wurde seiner überdrüssig.
Bei Einbruch der Nacht gönnte ich mir eine längere Pause. Ich aß etwas. Ich trank aus dem gurgelnden Wassersack.
Vermutlich schlief ich ein.
Als ich die Augen wieder aufmachte, war es halb eins.
Ich lief weiter. Der Sand wurde flacher und der Untergrund härter.
Dann lief ich auf Pappe.
Ich schnürte meine Schuhe auf und nahm sie in die Hand. Später schien es mir, als erzeugte mein Tritt einen Hall. Schöner Größenwahn. Ich marschierte im Nichts auf Karton und lauschte.
Irgendwann sah ich im fahlen Licht, dass ich auf einen niedrigen Gegenstand zusteuerte.
Es war ein Farbeimer. Daneben lag ein breiter Pinsel.
Die Farbe ließ sich nicht bestimmen.
Rot, vielleicht.
Blau, vielleicht.
Schwarz, möglicherweise.
Ich schob meine Schuhe in den Rucksack, griff mit einer Hand den Eimer, mit der anderen den Pinsel und setzte meinen Weg fort.
Alle zehn Schritte tauchte ich die Borsten in die Farbe und holte zu einer weiten Bewegung aus. Manchmal vollführte ich eine Pirouette. Wie meine Schritte verursachten auch die niederprasselnden Farbspritzer einen Hall.
So ging ich lang.
Ich hörte noch, wie ich fiel.
Unter mir: mein Laken.
Um mich: meine Bücher.
Als ich aufwachte, fand ich den Schlafsack neben mir. Für einen Moment sah er aus wie ein Mensch. Ich drehte mich hinein und fühlte, wie mein Bibbern nachließ. Das war so gegen vier.
Kurz vor Sonnenaufgang hörte ich etwas. Es klang wie ein Fluchen.
Ich richtete mich auf, sah mich um und erschrak: Nur wenige Meter von mir entfernt lief ein Mädchen von etwa zehn oder elf Jahren durch die Dünen. Sie schleppte ein schlafendes Kind vor sich her, ebenfalls ein Mädchen, es mochte wohl vier oder fünf sein. Das Kind hing der Länge nach in ihrer Umklammerung, seine Füße baumelten nur knapp über dem weichen Grund und stießen ihr bei jedem Schritt gegen die Schienbeine. Immer wieder drohte sie ins Stolpern zu geraten, fing sich aber jedesmal.
Ich sprang auf und eilte den beiden entgegen.
Das Mädchen beachtete mich nicht.
Erst als ich mich vor sie stellte, blieb sie, ohne mich anzuschauen, stehen.
»Was …«, ich beugte mich zu ihr herunter, um ihren Blick einzufangen. »Wie kommst du hierher?«, fragte ich. »Ist mit deiner Schwester alles in Ordnung?«
»Das ist nicht meine Schwester«, antwortete sie tonlos und hob den Kopf.
Ihre Augen waren meine. Sie sah aus, wie ich in ihrem Alter ausgesehen hatte. Selbst der kleine Leberfleck auf der Wange war da.
»Und wer …«. Ich brachte meine Frage nicht zu Ende. Auch das zweite Mädchen war ich.
Ich trat einen Schritt zurück.
Sofort machte die Größere Anstalten, weiterzulaufen. Ich griff nach ihrem Arm und hielt sie fest. Ihr Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an.
»Hör mal«, riss ich mich zusammen. »Was in aller Welt habt ihr hier verloren?«
»Und du?«, fragte sie spöttisch.
»Wollt ihr nicht …«, hob ich noch an.
»Nein«, blaffte das Mädchen.
Sie riss sich fort und stapfte weiter.
In meinen Träumen schiebe ich mich jetzt jede Nacht durch Menschenmengen. Ich sehe bekannte Gesichter und erinnere die Namen nicht mehr. Ich denke Namen und erinnere die Gesichter nicht mehr. Dann beschleunige ich, streife Körper und Hecken, lese laufend Steine auf und versenke sie in den Hosentaschen, bis meine Beine den Dienst versagen und einknicken.