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Nachdem die beiden Carabineros wieder abgezogen waren, verließen auch Merce, der Hund und ich den Laden. Auf der Straße stehend, versuchte Merce ein dankbares Lächeln.

»Machs gut«, sagte ich.

»Wir könnten …«, begann er.

Ich schüttelte den Kopf.

Er sah mich an, drehte sich zögernd um, vollführte eine weitere Schraube und stiefelte schließlich humpelnd davon. Der Hund folgte ihm.

 

Auf dem Weg zum Hotel setzte ich mich in ein Straßencafé, zog meine Landkarte aus der Tasche und studierte den nördlichen Verlauf der Ruta 05. Von Copiapó aus führte sie an der Küste entlang, vorbei an Caldera, und wand sich dann wieder landeinwärts. Etwa 70 Kilometer östlich von Taltal würde ich die Ruta verlassen, ein gutes Stück weiter in die Wüste fahren – und dann in einer Diagonalen Richtung Nordwesten laufen, bis ich wieder zur Straße gelangte. Eine Strecke von 60 Kilometern musste in drei Tagen zu schaffen sein.

 

Zurück im Hotel bat ich den Concierge, mir einen zuverlässigen Fahrer zu empfehlen. Ich skizzierte ihm die Strecke und mein Vorhaben. Während er eine Schublade öffnete und darin kramte, sagte er: »Sie können nicht alleine durch die Wüste laufen. Sie brauchen jemanden, der Sie führt.«

Ich reagierte nicht.

»Alleine ist das nicht zu machen.«

Ich reagierte nicht.

 

Er sichtete einige Prospekte und überreichte mir schließlich ein Faltblatt, auf dem ein braungebranntes Paar abgelichtet war, das sowohl Touren in die Weinberge als auch in die Wüste anbot. Das Programm war in spanischer und deutscher Sprache verfasst.

»Die zwei«, informierte mich der Concierge, »sind vor ein paar Jahren hierher ausgewandert. Es sind verlässliche Leute.«

 

Ich bedankte mich, nahm das Faltblatt mit in mein Zimmer und las.

Desierto y Vino bot verschiedene Ausflugspakete an, alle waren auf die Teilnahme von mindestens vier Personen ausgerichtet. Dennoch wollte ich einen Versuch unternehmen.

Ich wählte die auf dem Prospekt angegebene Telefonnummer und betrachtete, während es klingelte, das Foto der beiden. Sie lehnten lässig an einem gigantischen Jeep. Beide trugen Jeans und bunte Shirts, beide lachten und blickten direkt in die Kamera. Sie wirkten sportlich, selbstbewusst und alterslos.

Die Frau trug einen dunklen Pferdeschwanz. Ihr Gesicht war schmal und klar geschnitten. Der Mann überragte sie um eine Kopflänge. Alles an ihm vermittelte Verlässlichkeit und Ausdauer. Bilder von ausgezehrten Marathonläufern huschten mir durch den Kopf. Sein blonder Schopf leuchtete in der Mittagssonne, seine Arme waren sehnig und stark geädert.

 

»Buenos días. Desierto y Vino«, meldete sich eine Frauenstimme.

»Hallo«, sagte ich und stellte mich vor.

»Ich bin Laura«, antwortete sie. »Was kann ich für Sie tun?«

»Könnten wir das persönlich besprechen?«, bat ich. »Ich möchte ein paar Tage lang allein durch die Wüste gehen. Ungefähr 60 Kilometer. Ich suche jemanden, der mit mir die Vorbereitungen trifft.«

Sie schwieg einen Moment.

»Sie wissen, dass das keine gute Idee ist?«

»Ich weiß.«

»Lassen Sie uns das gemeinsam mit meinem Mann besprechen«, sagte sie dann. »Er ist gegen 18 Uhr zurück.«

»Ich komme zu Ihnen.«

Wir verabschiedeten uns und legten auf.

Ich suchte auf meinem Stadtplan nach der Adresse.

 

Punkt 18 Uhr stand ich vor einem weiß lackierten Gatter. Dahinter lagen ein sandfarbenes Haus, ein Geräteschuppen und ein selbstgezimmerter Carport, in dem drei unterschiedlich große Jeeps parkten.

Auf dem Platz vor dem Haus spielten zwei Hunde. Sie liefen auf mich zu.

Ich öffnete das Tor, ließ die Hunde an mir hochspringen und steuerte auf das Haus zu. An dessen rechter Seite gab es einen niedrigen Anbau, in dem ich das Büro vermutete. Der Eingang lag um die Ecke.

Durch die gläserne Tür sah ich Laura und ihren Mann. Beide beugten sich über eine auf dem Schreibtisch ausgebreitete Landkarte.

Ich klopfte.

Beide richteten sich gleichzeitig auf und winkten mich herein.

Beide hatten einen festen Händedruck. Lauras Hand fühlte sich an wie meine eigene.

 

Das Büro war karg eingerichtet. An den Wänden hingen hinter rahmenlosen Gläsern collagierte Fotos von Reisenden, die entweder einen Arm um Laura oder einen Arm um Nik oder beide Arme um die beiden gelegt hatten und glücklich aus ihrer Trekkingausrüstung in die Kamera strahlten.

An der Wandseite neben dem Schreibtisch stand ein Regal mit Ordnern, dahinter eine kleine Sitzecke mit vier in die Jahre gekommenen Sesseln und einem niedrigen Tisch, auf dem verschiedene Prospekte lagen.

 

Nik bat mich, dort Platz zu nehmen, und bot sich an, Eistee für uns drei zu holen.

»Nein, lass nur«, sagte Laura, während sie auf die Tür zusteuerte. »Fangt bitte schon an, ich bin gleich wieder da.«

 

Nik ließ sich auf dem Sessel mir gegenüber nieder. Seine Bewegungen waren sicher und ruhig.

»Darf ich dich fragen, wie du auf uns gekommen bist?«, fragte er.

Ich berichtete ihm von der Empfehlung des Concierge.

»Schön«, sagte Nik. »Die Anmeldungen übers Internet …«, er deutete beiläufig auf den Computer auf seinem Schreibtisch – der Bildschirmschoner zeigte eine Folge von einander überblendenden Wüstenbildern – »… da weißt du nie, wer die Leute wirklich sind. Das zeigt sich erst auf den Touren.«

Er hielt einen Moment inne und sah mich aufmerksam an. »Laura hat mir kurz erzählt, worum es geht. Von wo nach wo willst du laufen?«

Laura erschien in der Tür und brachte ein Tablett mit drei Gläsern. In hellgrüner Flüssigkeit schwammen Kräuter und Eiswürfel.

 

Ich erörterte den beiden, was mir vorschwebte. Sie hörten mir zu, bis ich zu Ende geredet hatte.

Dann ergriff Laura das Wort: »Warum willst du das? Alleine durch die Wüste laufen? «

»Ich muss nachdenken«, antwortete ich der Einfachheit halber und hoffte, dass die zwei es dabei bewenden lassen würden.

»Was machst du, wenn du nicht auf Reisen bist?«, fragte Nik.

Ich berichtete von Wandgemälden, Deckenfriesen, Skulpturen und Farbproben, von Gerüsten, auf denen man nur im Liegen arbeiten kann, von Stukkateuren und anderen Gewerken.

 

Sie warfen einander einen kurzen Blick zu. Ich wusste, dass sie sich einig waren.

»Du brauchst eine exakt festgelegte Route, du brauchst gps, ein Satellitentelefon und mehrere Wassersäcke«, erklärte Nik. »Wir stellen dir zusammen, was nötig ist. Wir bringen dich hin, und wir holen dich ab. Du klingelst einmal täglich zu einer festen Zeit durch. Der Rest liegt bei dir.«

 

Wir verabredeten uns für den nächsten Tag und vereinbarten, dass meine Reise schon am übernächsten losgehen könnte.

 

Als Jugendliche habe ich den Versuch unternommen, mir selbst einen Brief zu schreiben. Er sollte sich an die richten, die ich zwei Jahrzehnte später wäre. Unzählige Male legte ich ein leeres Blatt Papier vor mich hin und setzte an, scheiterte aber schon bei der Anrede.

 

Ich hatte mir von den Tagen und Nächten in der nur von mir genutzten Werkstatt beim Haus meiner Eltern berichten wollen. Von den Tagen und Nächten, in denen ich an einem mich um einen halben Meter überragenden Block aus Ytong arbeitete. Ich hatte meinem späteren Ich die Frage stellen wollen, ob es sich ebenfalls für handwerkliche Arbeit interessierte. Ich hatte ihm mein Vorhaben schildern wollen, ein Porträt von uns beiden in einer Person anzufertigen.

Mein Brief sollte auch beinhalten, welche Bücher ich gern las, und er sollte fragen, ob ich sie noch immer mochte. Warum – und warum nicht. Ich wollte meinem späteren Ich eine Liste meiner Lieblingslieder beifügen, doch ich fand nicht einmal die Worte, um mich vorzustellen.

 

Je öfter ich vor einem leeren Bogen saß und um eine angemessene Anrede rang, je häufiger ich verzagte, desto wütender wurde ich auf die Person, der alles galt. Ich unterstellte ihr alles Mögliche, unter anderem verdächtigte ich sie der Mittelmäßigkeit und Willfährigkeit.

 

Nur vor dem Betonblock kehrte die Neugier zurück.

Ich meißelte mit großer Vorsicht, tastete mich Zentimeter um Zentimeter durch den porösen Stein in das vor, was Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden könnte.

Irgendwann erkannte ich schemenhaft eine stehende Figur.

Sie war nur wenig größer als ich.

Ihre linke Hand ruhte auf dem in Schrittstellung nach vorn geschobenen Oberschenkel. Mit der Rechten griff sie sich an die Hüfte, als wollte sie eine Waffe ziehen. Ihre Haltung, ihre Arme, ihr Oberkörper und der leicht gereckte Nacken waren gespannt.

Wieder und wieder, den Meißel in der Hand, umkreiste ich sie.

Wieder und wieder setzte ich mich an den Schreibtisch und versuchte, die richtigen Worte zu finden.

Aber nein. Wir hatten uns nichts zu sagen, so wie ich auch meinen Eltern und allen anderen nichts zu sagen hatte.

 

Ich stellte fest, dass am untersten Grund meines Nachdenkens Totenstille herrscht.

Dort beschloss ich mich einzurichten.

Ich trug ein paar Bücher hinein, spannte mein Laken und legte mich hin.

Ich knetete meine Stummheit mit geschlossenen Augen und vergaß Buch für Buch.

 

Eines Nachts stand ich auf, schlafwandelte durch das Haus der Eltern, öffnete Türen, öffnete eine Gartenpforte, öffnete die Werkstatt, ging hinein und trat die Figur um.

Sie zerbrach in wenige Teile.

Ich kehrte zurück, legte mich schlafen und empfand auch am nächsten Tag keine Reue.

 

Es war wohl mein letzter Versuch, selbst eine Form zu finden.