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Tatsache war, dass Merce und ich bis zu unserer Ankunft in Copiapó gar nicht mehr miteinander sprachen. Nachdem das Mädchen abgezogen war, wechselten er und ich nur einen kurzen Blick, in dem wir unser beiderseitiges Erstaunen über meine Antwort teilten.

 

Ich schloss die Augen und sah unseren Gedanken dabei zu, wie sie auf derselben Kreisbahn Rollschuh liefen. Schnell, zunächst. Nach ein paar Runden entschleunigten sie sich und fuhren auseinander.

Ich verließ die Bahn und fiel in eine Schlucht aus grobkantigen Steinen und weiten Tönen. Jazz oder so.

Ich träumte.

Ich blickte an mir herunter und folgte dem Verlauf einer Narbe, die meinen Oberkörper senkrecht teilte und nur mit groben Stichen zusammengehalten wurde.

Auf einem op-Tisch vor mir lag mein Herz. Es wirkte geschwollen, ungesund und finster. Neben mir stand ein Chirurg, der mir in nüchternen Worten erörterte, welche Eingriffe er vornehmen würde, um es wieder funktionstüchtig zu machen.

Ich betrachtete das schwartige Ding auf dem Tisch.

Als ich einen Teil davon anhob, biss es mich fest in die Hand.

 

In Copiapó stellte ich fest, dass Merce mich als seine Schutzbefohlene betrachtete. Während der folgenden Tage begleitete er mich überall hin. Nur nachmittags zog er sich für wenige Stunden zurück.

Zunächst nahm ich an, dass er irgendeiner Hilfsarbeit nachzugehen hätte, doch ich irrte. Auf einem meiner Streifzüge durch das Umland sah ich ihn zufällig: Er trug eine zusammengerollte Luftmatratze mit sich und humpelte auf die Uferböschung des Rio Copiapó zu. Mit seiner Krücke stocherte er im Gebüsch, offenkundig auf der Suche nach irgendetwas. Schließlich zog er einen Blasebalg daraus hervor, verband ihn mit der vor ihm auf dem Boden liegenden Matratze und setzte zu einer regelmäßigen Pumpbewegung an.

Etwas später sah ich ihm dabei zu, wie er den Blasebalg ins Gestrüpp zurückwarf, die Matratze umständlich aufs Wasser bugsierte, sich in seinem Anzug darauflegte und mit seinem Gehstock vom Ufer abstieß. Dann, eine lange Weile, trieb er auf dem Fluss. Als er die nächste Biegung erreichte, verlor ich ihn aus dem Blickfeld.

 

Die Frage, ob ich Merce mochte, war anfangs nicht eindeutig zu beantworten.

Seit unserer Ankunft ließ mein Begleiter kaum eine Gelegenheit aus, Missmut und Streit zu provozieren, auch wenn er mich dabei verschonte. Sein Gezänk aber hatte mich schon mehrfach in unangenehme Situationen gebracht und unter anderem dazu geführt, dass ich mein erstes Hotelzimmer nach nur zwei Übernachtungen freiwillig räumte, weil Merce den Wirt wegen einer Kleinigkeit, die ihn zudem gar nichts anging, bedroht hatte. Auch im zweiten Hotel hockte er, wann immer ich mein Zimmer verließ und die Lobby betrat, in einem Sessel und bedachte jeden, der passierte, mit einer abfälligen Bemerkung.

 

Nach dem Zwischenfall im Hotel nahm ich mir vor, Merce eine Lektion in Sachen Höflichkeit zu erteilen. Jetzt, im Rückblick, kommt mir dieses Vorhaben nicht nur aussichtslos, sondern auch reichlich vermessen vor.

Damals aber (»damals«, eigentlich lächerlich – es ist kaum ein Vierteljahr her) verstand ich noch nicht, dass seine Angriffslust der einzige Weg für ihn war, den Kontakt zu anderen Menschen herzustellen und sich gleichzeitig seiner Einsamkeit in der Welt zu versichern. Diese Einsamkeit galt es mit allen Mitteln zu verteidigen, denn über die Jahre hatte sie sich als das Einzige erwiesen, das Merce an sich zuverlässig wiedererkannte. Im Nachhinein rührt mich, dass er mir gegenüber eine Ausnahme machte.

 

Seinen schlimmsten Anfall hatte Merce in einem Supermarkt.

Wir standen in der Kassenschlange. Mit einem Fuß schob ich einen Sechserpack Wasserflaschen vor mir her. Hinter uns wartete eine alte Frau mit einem Gehwagen. Jedesmal, wenn sich die Schlange um ein paar Zentimeter nach vorne bewegte, rückte sie mit ihrem Wagen etwas zu weit nach, mir in die Fersen.

Ich drehte mich zu ihr um und bat sie höflich, etwas Abstand zu halten. Sie entschuldigte sich, doch Merce flippte aus.

»Spasmaten!«, krakeelte er. »Immer schön blöd und blind ab durch die Mitte! Wenn du nicht vernünftig laufen kannst, bleib zu Hause!« Er fuchtelte mit seiner Krücke vor dem entsetzten Gesicht der Frau herum, bis ich ihm das Ding aus der Hand riss und ihn anherrschte, ruhig zu sein.

»Was denkst du dir eigentlich?«, zischte ich. »Soweit ich weiß, bist du selbst nicht ganz auf der Höhe.«

Sein Blick glich dem eines beleidigten Kindes, doch dann lachte er mich höhnisch an, entwand mir seinen Stock und schlug ihn auf den Boden. »Ach, das ist dir aufgefallen? Da bin ich aber froh! Dann wirst du sicher auch bemerkt haben, dass ich damit niemandem im Weg stehe!«

»Doch. Mir!«, schrie ich zurück, zahlte und stürzte zum Ausgang.

 

Merce. Ich war entschlossen, mich fortan von ihm fernzuhalten.

Er humpelte hinter mir her, bis wir mein Hotel erreichten. »Lass mich in Ruhe!«, blaffte ich. »Hau ab! Verschwinde!«

 

In meinem Zimmer verriegelte ich die Tür, setzte mich aufs Bett, stand wieder auf, ging umher, setzte mich erneut. Ich war fassungslos. Was mich aber am meisten beunruhigte, war der leise Verdacht, dass es zwischen Merce und mir gewisse Ähnlichkeiten gab.

 

Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Merce stand noch vor dem Hotel.

Es dämmerte bereits. Er schaute zu mir hoch und sah, dass ich ihn sah. Eine Weile lang verharrten wir in gegenseitiger Beobachtung.

Dann bückte er sich, legte, mich weiterhin fixierend, die Krücke beiseite – und lief los. Er umrundete den menschenleeren Platz mit immer weiter ausholenden Schritten. Seine Bewegungen wurden mit jedem Satz geschmeidiger. Der riesige Pfefferbaum in der Mitte des Platzes versperrte mir kurzfristig die Sicht, doch dann sah ich ihn wieder: Nach einer Umrundung berührte er kaum mehr den Boden.

Ich sah alles wie in Zeitlupe.

Nach der dritten Runde landete er bei seiner Krücke, hob sie auf und humpelte, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, in die nächste Gasse.

 

Erst als sich die Laternen auf dem Platz einschalteten und alles in Theaterlicht tauchten, fand ich wieder zu mir.

 

Der einzige Ort, an dem Merce keinen Ärger verursachte, war eine Bar an der Plaza Prat. Jeden Abend um Punkt 22 Uhr steuerte er den kleinen holzgetäfelten Raum mit den immer gleichen Statisten an. Er hatte sie mir als seine Freunde vorgestellt, doch mein Eindruck war eher, dass sie ihn duldeten, wie man anstrengende Verwandte duldet.

Dort musste ich hin.

 

Er saß auf einem Hocker am Tresen und wippte im Takt der Musik, die aus zwei Lautsprechern an der Decke dröhnte.

»Merce«, sprach ich ihn an. Er reagierte nicht.

»Merce«, wiederholte ich fester.

»Was gibt’s denn?«, fragte er, als sei nichts gewesen. »Setz dich. Bestell dir was. Willst du einen Pisco?«

»Merce. Bitte rede mit mir. Was ist da eben passiert?«

»Was denn?«

»Du bist …«, ich kam mir lächerlich vor und suchte nach den richtigen Worten. »Du bist so etwas ähnliches wie geflogen«, sagte ich.

Merce lachte auf und drehte sich zu mir. »Geflogen?«

Sein Erstaunen wirkte nicht gespielt.

»Du brauchst wirklich Ferien«, sagte er und legte eine Hand um meinen Nacken.

Ich schlingerte in einen Kuss, der nach Alkohol schmeckte, bitter und abgestanden.

Ich nahm etwas Abstand.

 

An diesem Abend betranken wir uns, als wäre jedes Glas ein Tritt gegen die Saloontür zur Freiheit. Sie schwang auf und fiel wieder zu, schwang auf und fiel zu, schwang auf und fiel zu.

Merce zeigte sich von seiner liebenswürdigen Seite. Er erwies sich, wenn er wollte, als ziemlich gebildet.

Als wir uns vor der Bar voneinander verabschiedeten, fragte ich ihn: »Wo wohnst du eigentlich?«

»Ich habe eine Matratze, die das entscheidet.«

 

Ich stolperte in mein Hotel und schlief bis zum Mittag.

 

Seit einer Woche sieht mein Handgelenk wieder normal aus, nur manchmal, wenn ich Kraft einsetzen muss, sticht mir ein brennender Schmerz ins Mark.

Das wird sicher wieder.

Das wird schon.