11
Auf dem Rückweg zum Hotel kaufte ich mir wüstentaugliche Schuhe, einen Hut, ein Taschenmesser und Proviant für die nächsten drei Tage.
Nach dem Abendessen ging ich früh zu Bett, fand aber lange keinen Schlaf.
Immer wieder schaltete ich mein Handy ein und schaute auf die Uhr.
1.36
2.55
4.12
Dann sah ich mich in einem nächtlich dunklen Garten knien.
Ich rupfte Unkraut.
Ich zog an Blättern, hob Gras in Büscheln aus der Erde, kappte Äste und grub ein großes rundes Loch.
Erst als der Garten weg war, schlief ich ruhig.
Nik wartete bereits im Auto, als ich zur Rezeption kam, um zu zahlen.
»Ihre Rechnung ist beglichen«, sagte der Concierge.
»Aber wie … Wer?«, fragte ich.
Mr. Merce war vor einer Stunde hier«, antwortete er.
»Hat er mir keine Nachricht hinterlassen?«
Kopfschütteln.
»Darf ich eine für ihn hinterlegen?«, bat ich.
Er reichte mir einen Briefbogen und ein Kuvert.
»Merce«, schrieb ich.
Weiter wusste ich nicht.
Ich unterzeichnete mit meinem Namen, schob den gefalteten Bogen in den Umschlag und übergab ihn. Dann griff ich meine Reisetasche und ging nach draußen.
Wir verließen Copiapó.
Vor uns lag der Highway.
»Sag mal«, begann Nik nach einer Weile. »Was hast du eigentlich mit Merce zu tun?«
»Du kennst ihn?«, fragte ich. »Zwischendurch kam es mir vor, als hätte ich ihn erfunden.«
»Fast jeder hier kennt ihn«, entgegnete Nik. »Und dass ihr zwei in den letzten Tagen meist zusammen unterwegs wart, ist den Leuten nicht entgangen.«
»Ich habe ihn auf der Busfahrt nach Copiapó kennengelernt. Eigentlich weiß ich so gut wie nichts über ihn.«
»Vor ein paar Jahren sah er noch ziemlich gut aus«, erzählte Nik. »Er hat sogar mal im Rathaus mitgemischt.«
»Merce in der Politik? Das kann nicht sein«, widersprach ich belustigt. »Ich war dabei, als er von zwei Polizisten überprüft wurde. Die kannten ihn ganz sicher nicht.«
Nik lachte. »Doch. Die haben ihn bestimmt erkannt. Die waren nur nett genug, sein Spielchen mitzuspielen.«
»Was meinst du damit?«, fragte ich.
»Die Leute erzählen, er habe, als er in Copiapó ankam, allen weisgemacht, dass er einer wohlhabenden Dubliner Familie entstamme, in Österreich Montanistik studiert und vor einigen Jahren reich geerbt habe.
Jeder sah, dass er Geld hatte, also fragte niemand weiter nach. Wohl auch deshalb nicht, weil der damalige Bürgermeister ihn mochte und die beiden gern zusammen einen hoben. Jedenfalls gelang es Merce, sich als Parteiloser einen Posten im Stadtrat zu sichern. Nach einer Weile allerdings fiel auf, dass er weder von Politik noch von Bergbau das Geringste verstand.
Einer der Stadträte stellte Nachforschungen über ihn an und fand unter anderem heraus, dass Merce – der übrigens nicht aus Dublin, sondern aus Limerick stammt, wo seine Eltern einen Waschsalon betreiben – nie an irgendeiner Uni eingeschrieben war. Dafür scheint er als Poker-Profi bis heute ziemlich erfolgreich zu sein. Natürlich ist er nicht so dumm, in Copiapó zu spielen. Er fährt regelmäßig nach Santiago.«
»Er hat mein Hotelzimmer bezahlt«, sagte ich.
»Was wohl heißt, dass er gerade einen Lauf hat.«
»Und wie ging es damals weiter?«
»Man warf ihn umgehend aus dem Rathaus. Er gab seine Wohnung auf. In den ersten Wochen sprach er mit niemandem mehr, weil alle über ihn lachten. Dennoch blieb er hier. Inzwischen redet er, wie du weißt, wieder mit jedem …«
»Allerdings!«, sagte ich. »Aber irgendwie mag ich ihn. Merce ist … Er erinnert mich an diesen Kurzfilm: Man sieht einen Mann auf der Flucht. Er rennt. Er schlägt sich, den Blick immer wieder nach hinten wendend, durch Wälder und Weizenfelder. Der Mann hat enorm große Ohren. Riesenohren. Irgendwann, nach einer ganzen Weile, wendet sich die Kamera endlich auf seinen Verfolger. Es ist ein Mann mit einer gigantisch großen Nase.«
Ich fing an zu lachen und bekam einen Schluckauf.
Niks Gesichtsausdruck verriet mir, dass er nichts Komisches an der Geschichte finden konnte. Dennoch setzte er ein gutmütiges Gesicht auf. »Nie davon gehört. Wer spielt denn mit?«
Ich hörte ein morsches Tor ins Schloss fallen.
Um nicht unhöflich zu sein, antwortete ich wahrheitsgemäß: »Keine Ahnung. Eher unbekannt, die beiden.«
»Naja«, sagte er. »Ist schon verrückt, was sich manche einfallen lassen.«
Die Landschaft vor uns erschien mir so karg, als habe sie jemand abgelegt und dann einfach vergessen.
Dann war links von uns das Meer zu sehen.
»Warum ist Laura nicht mitgekommen?« fragte ich.
»Sie muss sich um eine Gruppe kümmern«, erklärte Nik. »Wenn ich zurück bin, geht es in die Weinberge.«
Wir fuhren durch die Wüste.
Keine Küstenstraße mehr, kein Ort, nichts mehr, nur Sand, Geröll und Berge.
Als Nik schließlich anhielt und den Motor abstellte, wurde mir mulmig. Wir stiegen aus. Er öffnete die Heckklappe und half mir, mein Gepäck auszuladen.
Für einen Moment erwog ich, alles abzublasen. Dann besann ich mich auf meine schlaflosen Nächte.
»Okay, das wärs«, sagte Nik, während er die zusammengerollte Isomatte aus dem Wagen zog und das Satelliten-Telefon behutsam zu den anderen Sachen legte.
»Richte dich nur nach dem gps. Landkarte und Kompass hast du dabei, aber bloß für den Notfall. Lass dich auf keinen Fall von deinem Orientierungssinn leiten.«
Ich nickte und gab nach einem kurzen Blick auf das gps vor, meine Richtung zu kennen. »Danke«, sagte ich.
Nik zwinkerte mir zu, setzte sich in den Jeep und schloss die Fahrertür.