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Ich sehe meinen Vater dicht vor mir stehen.
Wir halten uns in seiner Küche auf, verlegen wie zwei, die sich eben erst kennengelernt haben. Ich überreiche ihm einen Strauß Tankstellen-Blumen.
Das war am 11. Mai dieses Jahres.
Mein Vater tat, was er am besten beherrschte: gut gelaunt tun.
Ich beobachtete ihn dabei, wie er ein Messer aus der Schublade zog, um die Blumen anzuschneiden, wie er das Messer beiseitelegte und die Blumen in einer Vase versenkte.
Ich versuchte, ihm mit unvoreingenommener Freundlichkeit zu begegnen.
Ich war da, um Frieden zu schließen, nach vielen Jahren eisiger Stille.
Ich erprobte mich darin, seine Unsicherheit sympathisch zu finden, und heftete, um mich milde zu stimmen, meinen Blick auf die Zeichen des Alters – auf die Falten, das gelichtete Haar, die Pigmentflecken auf Stirn und Händen.
Ich versuchte, diesen Mann vor mir von meiner Geschichte zu trennen.
Es glückte mir nicht, er war mir zu ähnlich.
Zum ersten Mal verstand ich die Vergleiche meiner Mutter: Diese Gestik, die langen Arme und Beine, dieselbe Mischung aus Kontrolliertheit und Nachlässigkeit in den Bewegungen. Dieselbe innere Spannung, die Bereitschaft, jederzeit zu einem Sprung anzusetzen.
Früher einmal erschien mir mein Vater, getrieben von Fernweh, Ehrgeiz und dem Wunsch, allen unverhohlen die Meinung zu sagen, als Experimentator im Auftrag der Wahrhaftigkeit.
Von ihm habe ich gelernt, niemanden nach seinem Äußeren oder nach seinem Beruf zu beurteilen. Ihm verdanke ich die Fähigkeit, gutes Handwerk zu erkennen. Und das Interesse an Kunst. Er brachte mir bei, zu kosten, was ich nicht kannte.
Mein Vater verkörperte ein sattes, ein zweifelloses Leben. Bis er sich nach einem Satz, der seine Eitelkeit verletzte, von mir abwandte.
Er tat das mit derselben Entschiedenheit, mit der er mich zu seiner Komplizin erklärt und in seine Experimente eingeweiht hatte.
Seine plötzliche Missachtung traf mich, sodass ich strauchelte, fiel und liegenblieb.
Wie lang genau, weiß ich nicht. Eines Tages setzte ich mich auf, befreite meine mit dem Unterholz verwachsenen Kleider von allerlei Geäst, klopfte die Kletten und Käfer ab und schlug mich, immer schneller werdend, durch die Farne.
Jetzt stand ich in seiner Küche.
»Wie ist es dir ergangen?«, erkundigte er sich.
Die Arglosigkeit seiner Frage stieß mir in die Kniekehlen.
Schwer zu sagen, was mich härter traf: seine oder meine Verachtung.
Weiß nicht. Vielleicht war das auch eins. Weiß nicht.
Mein Vater öffnete den Kühlschrank und griff nach einer Flasche Wein.
»Ich …«, sagte ich.
Er drehte sich zu mir um.
Ich nahm das Küchenmesser von der Anrichte und schob es in seinen Körper.
Er sackte zu Boden, es floss wenig Blut.
Er atmete flach und sah mich ausdruckslos an. In seinem Blick war nichts. Keine Furcht, kein Flehen, kein Vorwurf, kein Bedauern, kein Zorn.
Ich sah, dass er am Leben nicht hing.
Seine Heiterkeit, seine Neugierde und Abenteuerlust waren nur ein Schild gewesen, hinter dem sich Leere und Unlust verbargen.
Ich rief einen Krankenwagen und verließ das Haus mit ruhigen Schritten.
Meiner rechten Armbeuge entspringt eine Ader, schwer wie ein Kabel. Sie nimmt geraden Verlauf über den Innenarm, wendet sich dann seitwärts, hin zum äußeren Handgelenk, das sie in einer sanften Kurve umrundet. Kurz über der Handwurzel teilt sie sich in zwei Ströme.
Der eine fließt in den Atlantik, wo sich meine Erinnerungen mit denen anderer brechen und als nervöse Wachheit in mich zurücklaufen.
Der andere mündet in den Pazifik, führt hinunter in den Marianengraben und an die Nordküste Chiles in Richtung Wüste, wo alles verödet.
Ich suche mir diese Bilder nicht aus. Sie sind in meinem Kopf.