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Zwölf Stunden Fahrt bis Copiapó.
Ich wusste so gut wie nichts über diesen Ort. Nur, dass er am Rand der Atacamawüste lag und dass ich von dort aus einen Weg in die Dünen und an die Küste finden würde.
Meine Mitreisenden waren offenbar ebenso müde wie ich und verhielten sich ruhig. Nur ein australisches Pärchen im Fond machte durch einen kurzen Disput auf sich aufmerksam: Sie hatte die Digitalkamera im Hotel liegenlassen und fühlte sich schuldig. Da es ihr nicht gelang, sein Herz durch Reue zu erweichen, wurde ihre flüsternde Mädchenstimme allmählich giftig.
Nun befand er sich in der Verteidigungsposition.
Der Kampf endete mit einem Unentschieden.
»Weiber«, stöhnte der Mann neben mir.
Ich schaute ihn an, doch er saß mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen in seinem zurückgeschraubten Sitz und zeigte sich nicht im Geringsten an meiner Meinung interessiert.
Er roch nach feuchter Matratze, hatte ungepflegtes schulterlanges Haar, eine dunkle ölige Haut, schmutzige Fingernägel und trug einen Flanellanzug, der nur an wenigen Stellen seine ursprüngliche Farbe preisgab. An seinem rechten Ringfinger glänzte ein in Gold gefasster Onyx.
Ich schätzte ihn auf Ende vierzig.
Neben ihm, am Fenster, lehnte eine Krücke.
»Sprechen Sie mit mir?«, gab ich in einem möglichst harmlosen Tonfall zurück.
Ich spürte, wie sich meine Arme anspannten. Ich wünschte uns beiden, dass seine Reaktion nicht allzu dumm ausfallen würde.
Er drehte den Kopf, öffnete anderthalb Augen, musterte mich und begab sich wieder in seine Ursprungshaltung. Nur daran, dass er sich ausgiebig an einem Ellenbogen kratzte, konnte ich ablesen, dass irgendwie Bewegung in ihn kam.
Er antwortete mit einem knappen »Nein«. Und nach einer Weile weiteren Gekratzes:
»Merce.«
Ich nannte ihm meinen Namen.
Danach sprachen wir mehrere Stunden lang nicht mehr miteinander.
Ich dachte an Aaron, ich dachte an Robert und Rosa. Ich vermisste sie alle drei, jeden von ihnen auf eine andere Weise.
Ich sah aus dem Fenster und in mich hinein. Kein großer Unterschied: Das Karge und das Satte, das Lichtbeschienene und Düstere, die Ebenen und Erhebungen, das Schnelle und das Langsame wechselten einander in mehr oder weniger harschen Brüchen ab.
Es hätte auch Flüge nach Copiapó gegeben, aber für diese Strecke kam Fliegen nicht in Frage.
Auf einem Bushof in Coquimbo hatten wir Gelegenheit, uns für ein paar Minuten die Füße zu vertreten.
Ich wartete, bis sich die hinteren Reihen geleert und an mir vorbeigeschoben hatten. Mein Sitznachbar schlief. Ich überlegte, ob ich ihn wecken und auf unseren Halt aufmerksam machen sollte. Nach einem Blick auf seine Krücke unterließ ich es.
Am Ausstieg schaute ich kurz zurück und sah,
wie er plötzlich aufsprang, prüfend – wie im Reflex –
seine
Jackett-Taschen abklopfte und uns schnellen Schrittes folgte. Kurz
vor der Bustür drehte er um, kehrte zu seinem Sitz zurück, griff
sich die Krücke und folgte erneut. Jetzt humpelte er.
Neben ihm auf dem Busplatz stehend, sprach ich ihn an: »Das mit der Krücke – ich habe es gesehen.«
Er wandte sich um eine Achteldrehung von mir ab, wippte vor und zurück und kratzte sich dann mit der Rechten am Kopf, wobei er die Krücke mit anhob.
»Ich habe sie kurzfristig vergessen.«
»Wissen Sie, Merce«, sagte ich nach einer Weile, »nicht, dass es mich etwas anginge, aber Sie benehmen sich komisch.«
»Und Sie sehen nicht so aus, als würden Sie je komische Dinge tun.«
»Nicht gut genug hingeschaut«, erwiderte ich.
Wir stiegen wieder in den Bus. Gelegentlich bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie mein sonderbarer Nachbar mich verstohlen betrachtete.
Dass er sich irgendwie für überlegen hielt, provozierte mich.
Zunächst erwog ich, in eine der inzwischen freien Reihen hinter uns zu wechseln, aber dann entschied ich, das Feld nicht zu räumen.
Ich streckte mich in meinem Sitz und fragte: »Warum reisen Sie nach Copiapó?«
»Ich lebe dort.«
Seine Antwort überraschte mich ebenso wie der freundliche Tonfall, in dem er sie gab.
»Und was haben Sie in Santiago gemacht?«
Er spielte mit dem Griff seiner Krücke, lehnte sie dann jedoch mit einer entschlossenen Geste wieder ans Fenster. »Ich musste eine Weile lang weg. Probleme mit den Behörden und meinen Papieren. Nebenbei ist Copiapó klein genug, damit jeder jeden zu kennen glaubt. Wenn man sich zu lange dort aufhält, wird man zwangsläufig zu dem, den die anderen in einem sehen.«
Er kratzte sich am Hals. »Und Sie? Ferien?«
Seine Offenheit stimmte mich milde. Dennoch gab es keinen Anlass, ihn in meine Pläne einzuweihen.
»Ja. Kennen Sie ein einfaches Hotel, das Sie mir empfehlen können?« – »Im Übrigen: Trifft das, was Sie beschreiben, nicht auf jeden Ort zu?«
Merce zuckte mit den Schultern. »Kann sein.«
Er sah aus dem Fenster.
»Wegen dem Hotel … Es liegt eines auf meinem Weg. Ich zeige es Ihnen.«
Mein Unmut über ihn wich allmählich der Neugierde.
»Kann es nicht sein«, schlug ich vor, »dass wir – wenn nicht genau, so doch viel mehr als uns eigentlich lieb ist – die sind, für die uns die anderen halten? Was wir tun und sagen, wie wir sprechen, uns bewegen und Entscheidungen treffen. – All das formt doch ein Bild, das Aufschluss gibt?«
»Einen Dreck gibt es!« Sein Gesicht bekam etwas Unerbittliches. »Unser Sein erleidet einen kläglichen Abfluss ins Tun. Weil wir von der verdammten ersten Sekunde an zwischen zwei unterschiedlich starken Magneten sitzen: Glück und Verzweiflung. Jeder versucht, das eine zu erreichen und dem anderen zu entkommen. Und was ergibt die ganze Übung? – Eine ständige Verrenkung! Nein. Niemand ist mit sich identisch.«
Die Vehemenz, mit der Merce unser Thema und mich anging, tat mir wohl. Und was er sagte, kam mir merkwürdig vertraut vor …
Wie ich ansetzte, ihm etwas zu entgegnen, tauchte das australische Mädchen neben uns auf. Sie verzog den Mund zu einem süßlichen Lächeln, wackelte herausfordernd mit dem Kopf und fuhr Merce spitz an: »Darf ich Sie bitten, etwas leiser zu sprechen? Mein Freund und ich versuchen gerade, zu schlafen.«
Mein Nachbar richtete sich auf, sah ihr direkt ins Gesicht und sagte trocken: »Halts Maul, Schnepfe.«
Auch dieser Satz, ruhig und deutlich ausgesprochen, gefiel mir. Dennoch vermied ich, um mich weder mit ihm noch mit ihr zu solidarisieren, jeden Blickkontakt.
Das Mädchen stand einen Moment lang wie angewurzelt im Gang, tippelte dann ein paar Schritte vor und zurück – offenbar unschlüssig, ob sie sich beim Fahrer oder bei ihrem Freund beschweren sollte – und brachte sich schließlich wieder neben uns in Position.
»Auch Sie verkommenes Subjekt«, fauchte sie Merce in einem Tonfall an, der ihren Stolz auf die gewählte Formulierung nicht verbarg, »haben sich an die Regeln der Gemeinschaft zu halten!«
Ich musste lachen. »Bitte beruhigen Sie sich doch«, lenkte ich ein. »Wir werden uns bemühen, etwas leiser zu sprechen.«
»Einen Scheiß werden wir!«, fuhr Merce dazwischen.
Ich schaute zu ihm herüber und verstand.
»Ja. Stimmt«, hörte ich mich sagen, während ich mich wieder dem Mädchen zuwandte. »Einen Scheiß werden wir.«