3. Blaue Augen, braune Augen

Es ist früh am Morgen und eiskalt. Ich warte auf Dustin, einen Amerikaner, der sich in seiner Heimat fremd fühlt und seit zehn Jahren im freiwilligen Exil in Europa lebt. Er kann besser Deutsch als ich und will mich als Assistent und Dolmetscher begleiten. Endlich biegt er um die Ecke, wir laden das Gepäck ein, werfen einen letzten Blick auf die Karte und machen uns auf den Weg zur Autobahn.

Bald darauf lassen wir das sonnige Baden-Württemberg hinter uns und erreichen das grau verhüllte Bayern. Die Autobahn verschwindet im dichten Nebel und mit ihr die sanft geschwungenen Hügel, die Kirchtürme und adretten Dörfchen, die Hängebrücken und die hartgefrorenen Ackerfurchen der Felder. Wir stecken in einem Pulk von BMWs und Mercedessen, die kurz davor scheinen vom Boden abzuheben. Die Autobahn schlängelt sich inzwischen durch die steilen Berge und Nadelwälder der Fränkischen Schweiz. Hier liegt der Veldensteiner Forst, benannt nach der Burg Veldenstein, unserer ersten Station auf der Reise in Alberts und Hermanns Kindheit.

Der Weg zur Burg führt über malerische, gewundene Landstraßen. Hellgrüne, von niedrigen Steinmauern umgebene Kuhweiden wechseln sich ab mit dichten Gehölzen und dunkel bemoosten Felsformationen. Jeden Moment erwartet man, eine Fuchsjagd aus dem Wald hervorbrechen zu sehen, mit dem jungen Hermann Göring an der Spitze. Hoch zu Ross und in voller Montur, einschließlich des Tirolerhuts, würde er der heulenden Meute nachsetzen, um den panisch fliehenden Fuchs zur Strecke zu bringen. Doch zunächst begegnen uns weitere kleine Dörfer mit nur einem Dutzend Häuser um die Kirche herum, und an jeder Abzweigung stehen Wegekreuze. Schließlich windet sich die Straße einen Berghang entlang. Unter uns mäandert die Pegnitz, von oben drängt sich der Fels bedrohlich an den Wegrand heran. Hinter der nächsten Haarnadelkurve erwartet uns der erste imposante Anblick der Burg Veldenstein. Uneinnehmbar thront sie auf einem mächtigen Felsmassiv. Ihre Verteidigungsanlagen fügen sich perfekt in die Physiognomie der Landschaft ein: Steinerne Wehrgänge säumen die zerklüfteten Felswände, und runde Bastionen ragen über jedem Vorsprung auf. Jeder Eroberungsversuch von ebener Erde aus wäre Selbstmord. Im Mittelpunkt der Anlage blickt der Bergfried wachsam auf das Städtchen Neuhaus an der Pegnitz herab. Seine gebieterische Präsenz dürfte seinerzeit die wechselnden Untertanen in Schach gehalten haben. Zu seinen Füßen führen hölzerne Türen wie Kaninchenbauten direkt in den Fels. Verbergen sie Geheimgänge, durch die sich im Mittelalter die Mätressen in die Gemächer schlichen? Oder lagert hier sogar noch die Beute von Hermann Görings Kunstraubzügen?

Wir folgen der Straße an der Burgmauer entlang bergaufwärts und parken am Rande einer Wiese, auf der zwei Jungen Fußball spielen. Der ältere von beiden steht am Elfmeterpunkt und katapultiert den Ball immer wieder an dem jüngeren vorbei ins Tor, der ihm jedes Mal hangabwärts nachrennen muss. Vielleicht haben auch Hermann und Albert Göring hier ihre Kräfte gemessen. Den größeren, sportlichen Hermann stelle ich mir als Torschützen vor, dessen mächtiges Ego geschmeichelt ist, wann immer sein schmächtiger Bruder einem verpassten Ball hinterhereilen muss. In der frischen, nach Holzfeuern duftenden Abendluft laufen Dustin und ich zum Burgtor zurück, um einen Blick in Hermanns und Alberts Vergangenheit zu erhaschen.

 

Als das Ariertum besonders hoch im Kurs stand, 1938, veröffentlichte der deutsche Historiker Otto Freiherr von Dungern einen Artikel über den Stammbaum – oder vielmehr den Ariernachweis – von Hermann Göring. Der Artikel war Teil einer Sammlung von Ahnentafeln weiterer berühmter Deutscher, unter ihnen Arthur Schopenhauer und Rudolf Heß. Zu der Zeit galten den meisten Deutschen sechzehn arische Vorfahren als hinreichender Schutz gegen die Verfolgung aufgrund der Nürnberger Rassegesetze.2

Dungern sollte sich als ausgesprochen findiger Genealoge erweisen. Er griff nach der Gartenschere und verfolgte die Verästelungen der Familiengeschichte bis in das zwölfte Jahrhundert zurück. Am Fuß des Stammbaums fing er an, verwarf Unkraut und mindere Seitenwurzeln und spürte Herzwurzeln auf, die sich aus den Herrscherhäusern der Hohenzollern und Wittelsbacher speisten. Dann lichtete er beherzt die Krone auf der Suche nach einem tragenden Ast, der den Baum mit Heroismus und Ehrgeiz versorgen sollte. Den fand er in keinem Geringeren als dem »eisernen Kanzler« und Gründervater des Deutschen Reichs Otto von Bismarck. Zwischenzeitlich schwang er sich zu erstaunlicher Kreativität auf und schuf abstrakte Gartenkunst wie die gewundene Ranke zu dem größten aller deutschen Literaten, Johann Wolfgang von Goethe. Dann stutzte er die feineren Verästelungen bis in die Spitzen zurecht, die schon benachbarte Stammbäume streiften, und entdeckte einen prächtigen Seitenzweig mit Verbindung zu Kaiser Wilhelm II., dem Urenkel der Königin Victoria.3 Schließlich stand, von einem Wust nutzloser, toter Äste umgeben, ein strahlender arischer Stammhalter vor ihm.

Wenn man diese Propaganda einmal beiseitelässt und sich mit den verworfenen Familienzweigen auseinandersetzt, ist der typische Vorfahr der Familie Göring eher ein hochrangiger, bodenständiger preußischer Beamter, der sporadische Kontakte zum Hochadel pflegt.

Als Einstieg in die wahre Herkunftsgeschichte der Familie Göring bietet sich daher eher der 1694 geborene Michael Christian Göring aus Schlawe an. Dieser Vorfahr, auf den die Görings besonders stolz waren, diente seinerzeit dem preußischen König Friedrich dem Großen und war der Erste, der statt des alten Familiennamens »Geringk« die moderne Schreibung »Göring« verwendete. Er brachte es vom Regimentsquartiermeister in Wesel zum Steuerrat und commissarius loci (Ortskommissar) an der Ruhr. Obwohl er zusätzlich finanzielle Mittel für das preußische Heer sammelte und im Siebenjährigen Krieg als Geisel nach Frankreich verschleppt wurde, gelang es ihm nebenbei, einen Sohn zu zeugen: Christian Heinrich Göring. Christian Heinrich seinerseits lebte im Rheinland ein bescheidenes, aber respektables Leben und zog dort Alberts und Hermanns Großvater Wilhelm Göring auf. Wilhelm trug wieder erheblich zum Renommee der Familie bei, jedoch nicht durch kriegerische Eroberungen oder eine Beamtenkarriere, sondern durch seine gesellschaftlichen Erfolge: Er pflegte Umgang mit höchsten Kreisen und heiratete schließlich Caroline de Nerée, Tochter einer holländischen Adelsfamilie mit hugenottischen Wurzeln.4

Am 31. Oktober 1838 ging aus dieser Ehe in Emmerich, unweit der niederländischen Grenze, ein weiterer Spross der Familie Göring hervor, Heinrich Ernst, der zukünftige Vater von Albert und Hermann. Als Sohn eines angesehenen Richters war auch ihm eine juristische Laufbahn vorgezeichnet, die er jedoch zunächst nicht verfolgte. Er studierte zwar an den renommierten juristischen Fakultäten von Heidelberg und Bonn, doch mit siebenundzwanzig Jahren legte er die preußische Uniform an und zog in den Deutschen Krieg von 1866. In nur sieben Wochen wurde die Karte Europas neu gezeichnet; das aufstrebende Preußische Königreich expandierte, während Österreich an Einfluss verlor. Schon 1871 stellte Preußen die Kartographen mit seinem Sieg im Deutsch-Französischen Krieg vor neue Herausforderungen, und wieder half Heinrich Göring dabei, die Grenzen zu erweitern, innerhalb deren kurz darauf das Deutsche Reich entstand. Er wurde für seinen Einsatz mit einem Posten als Kreisrichter, später als Landgerichtsrat belohnt.5

Doch schon bald befielen ihn Schwermut und Unzufriedenheit. Sein Widerwille gegen die Juristerei kam wieder hoch, und schlimmer noch: Er verlor seine erste Frau Ida, mit der er in zehn Ehejahren fünf Kinder gezeugt hatte, von denen eins früh gestorben war. Heinrich wurde depressiv und ruhelos; ein ehrbarer Richterposten war ihm nicht genug. Er suchte eine neue Herausforderung, eine Eintrittskarte in höhere Kreise, und beides fand er im diplomatischen Dienst des neuen Auswärtigen Amtes in Berlin. Er wusste um den Expansionsdrang des Deutschen Reiches und um den Wunsch Kaiser Wilhelms II., endlich wie England und Frankreich in den exklusiven Klub der Kolonialmächte aufgenommen zu werden. Kanzler Bismarck, mit dem Heinrich befreundet war, riet ihm, in London aus erster Hand das britische Erfolgsmodell der Kolonialverwaltung zu erlernen.6

Doch dafür musste Heinrich Göring zunächst eine Ehefrau finden, die ihm bei diesem neuen Abenteuer zur Seite stehen konnte, aber auch nicht zuletzt seine Kinder großziehen sollte. In der Situation kam ihm ein junges Mädchen mit leuchtend blauen Augen gerade recht, eine neunzehnjährige, kurvenreiche Blondine aus einfachen Verhältnissen namens Franziska Tiefenbrunn. Ihr Vater, Peter Paul Tiefenbrunn, war ein angesehener Grundbesitzer in der Tiroler Marktgemeinde Reutte. Schon bald waren der preußische Richter und das Tiroler Fräulein verlobt, nicht unbedingt nur aus Liebesgründen. Franziska war bereits mit dem ersten gemeinsamen Kind Karl Ernst schwanger, als sie ihren Verlobten nach England begleitete. Am 28. Mai 1885 wurde Franziska Tiefenbrunn in der Londoner St.-James-Kirche als Fanny Göring dem gut zwanzig Jahre älteren Heinrich angetraut.7 Noch im selben Jahr wurde Heinrich, inzwischen ein anerkannter Experte für Kolonialverwaltung, von Bismarck zum ersten Reichskommissar von Deutsch-Südwestafrika ernannt.

 

Dustin und ich treten beim ersten Glockenschlag der nahen Kirche durch das äußere Tor der Burganlage von Veldenstein. An dem geschlossenen Kassenhäuschen wirbt ein Schild für Eis am Stiel. In der winterlichen Stille ist das Krächzen von Raben, die im Bergfried Quartier bezogen haben, das einzige Lebenszeichen. Ein kopfsteingepflasterter Weg führt uns zum eigentlichen Burgtor, oberhalb dessen ein mittelalterliches Wappen in den Stein gemeißelt ist.3*

Ein weiterer Torbogen, eine asphaltierte, von Fahnenstangen flankierte Einfahrt, führt in das Gebäude, das einmal den Görings als Wohnraum gedient haben muss und inzwischen zum Burghotel umfunktioniert worden ist: Ein dreistöckiges architektonisches Durcheinander mit algengrüner Fassade, weißen, gesprossten Bogenfenstern, Terrakottafliesen und einer leuchtend roten Eingangstür, die entfernt an das Tor zu Willy Wonkas Schokoladenfabrik erinnert. Etwas unsicher, was mich dahinter erwarten mag, greife ich nach dem Türknauf.

Drinnen empfängt uns ein Deutscher Schäferhund mit gebleckten Zähnen und einem bedrohlichen Knurren, das gleich darauf in ohrenbetäubendes Gebell übergeht. Aus dem Flur antwortet ihm der ebenfalls bellende fränkische Dialekt seines Besitzers, eines hünenhaften Mannes, der wenig erfreut wirkt, uns zu sehen. Sein Gesicht verzieht sich zu einem Fotolächeln, das seinen Unwillen nur umso mehr betont. Wir fragen, ob das Restaurant geöffnet habe, und nach einigem Zögern erwidert der Mann mit tiefer Stimme: »Natürlich. Folgen Sie mir.«

Er führt uns in den Speisesaal, eine chaotische Kultstätte der Tierpräparation: Überall hängen Hirschgeweihe aller Größen, Gämsenköpfe und ausgestopfte Fasane an den Wänden; ein Papagei, ein Geier und eine Eule setzen besondere Akzente. Dazu sind einige der Waffen ausgestellt, die vermutlich für die etwas steife Haltung dieser Kreaturen verantwortlich sind: Armbruste, Piken, Schwerter und Schilde, ja sogar eine vollständige Ritterrüstung. Bis auf Ludwig II. und Jesus sind wir die einzigen Gäste. Nur das Zischen und Knacken des Kaminfeuers unterbricht dann und wann die klösterliche Ruhe des Raums. Um die Atmosphäre nicht zu stören, unterhalten wir uns nur im Flüsterton. Hauptsächlich dreht sich unser Gespräch um das bizarre Setting und die Frage, wie wir unserem Wirt Informationen entlocken könnten. Noch bizarrer, fast schon surreal wird es, als plötzlich aus den über den Köpfen zweier Mönchsfiguren angebrachten Lautsprechern eine Art mittelalterlich anmutende Marschmusik erklingt, gefolgt von dem Soundtrack zu Mel Gibsons Film Braveheart.

Jedes Mal, wenn unser Wirt den Raum betritt, versuchen wir, ihn in ein unverfängliches Gespräch über das Wetter oder die Burg zu verwickeln, doch er fertigt uns jedes Mal mit einsilbigen Antworten ab und macht auf dem Absatz kehrt. Als sich die Tür das nächste Mal öffnet, betritt nicht er, sondern eine junge Kellnerin mit langem blondem Haar und einem freundlichen Lächeln den Raum. Sofort vollzieht sich ein geheimnisvoller Wandel. Die versammelte Fauna hört auf, uns bedrohlich anzustarren, die scheppernde Musik wirkt harmonischer, wir fühlen uns wohl. Nach einigen netten Worten erfahren wir von der Kellnerin, dass unser Wirt tatsächlich Herr Betzelt ist, genau der Mann, den ich, wenn auch nur ungern, nach den früheren Burgbewohnern fragen muss.

Wie nicht anders zu erwarten, ist Herr Betzelt beim Thema Albert Göring nicht weniger einsilbig als sonst. Er geht sogar so weit, zu erklären, im gesamten Ort, ach was, auf der ganzen Welt wüsste niemand irgendetwas über Albert Göring zu sagen. An diesem Punkt des Gesprächs verabschieden wir uns dankend und machen uns auf den Weg in den Ort, um ein Nachtquartier zu besorgen und seine Behauptung zu überprüfen.

 

Im heutigen Namibia, in der Innenstadt von Windhoek, trug eine der größten Durchfahrtsstraßen über ein Jahrhundert lang den Namen »Göring-Straße« – eine der wenigen sichtbaren Erinnerungen an die fünf Jahre, die Heinrich Göring in der Gegend zwischen den Flüssen Oranje und Kunene als Reichskommissar verbrachte. Mit seinem Stellvertreter Louis Nels und dem Polizeibeamten Hugo von Goldammer, aber ohne seine Frau – Fanny Göring war nach Deutschland zurückgekehrt, um dort ihren ersten Sohn zur Welt zu bringen –, ging Heinrich Göring 1885 in Walvisbay an Land.8 Er kam als Geschäftsmann: Göring hatte die schwierige Aufgabe, den Herero und Nama sogenannte Schutzverträge zu verkaufen. Diese sollten es deutschen Geschäftsleuten erlauben, die natürlichen Ressourcen des Landes auszubeuten, und den christlichen Missionaren, das Wort Gottes zu verbreiten, ohne dass sie einen Speer im Rücken fürchten mussten. Problematisch war nur, dass das Produkt, welches Göring anzubieten hatte, sich bei der Kundschaft keiner besonders großen Beliebtheit erfreute. Genauer gesagt, missfiel ihnen das Konzept derart, dass sie immer wieder deutsche Außenposten angriffen, darunter auch Görings Wohnsitz.

Diese Erfahrungen sowie die Hitze und Wasserknappheit setzten seiner Frau Fanny, die inzwischen mit dem kleinen Karl Ernst nachgekommen war, gesundheitlich sehr zu. Noch schlechter ging es ihr nach der Geburt des zweiten Kindes, Olga, die sie beinahe nicht überlebte. Doch die aufopferungsvolle Pflege eines jungen Berliner Arztes mit dem Adelstitel »von« im Namen sorgte dafür, dass sie später weitere einflussreiche Kinder zur Welt bringen sollte. Dr. Hermann von Epenstein wachte Tag und Nacht an ihrem Bett und erhaschte den einen oder anderen Blick aus ihren strahlend blauen Augen. Er war hingerissen. Sobald sie in Gegenwart ihres Retters zu sich kam, begann auch sie sich für ihn zu erwärmen.9

Angesichts der Befürchtung, seine Karriere könne ebenso schnell enden, wie sie begonnen hatte, beschloss Heinrich Göring, seinem Angebot an die örtliche Bevölkerung etwas mehr Nachdruck zu verleihen. Die dabei ins Feld geführten Truppen wurden von vor Ort aufgestellten Polizeieinheiten aus sympathisierenden Einheimischen unterstützt. Doch sobald die äußere Ordnung wiederhergestellt war, kehrte der Reichskommissar zu seinem gemäßigten Ansatz zurück. Er sah die Einheimischen nicht als »Wilde« an, die von den zivilisierten Deutschen gezähmt werden mussten, sondern als normale Mitmenschen und schärfte auch seinen Untergebenen ein, sie entsprechend zu behandeln.4*10 Bald wurden wieder mehr Karotten als Schlagstöcke importiert. Diplomatie und ein offenes Ohr ersetzten Zwang und Gewalt. Verträge wurden geschlossen. Zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten entwickelte sich beinahe so etwas wie friedliche Kooperation. Gegen Ende von Heinrich Görings Zeit als Reichskommissar erstreckte sich das deutsche Territorium 800 Kilometer landeinwärts.11

Doch letztendlich erwiesen sich die Schutzverträge als nicht tragfähig. Das Deutsche Reich konnte seine verbrieften Pflichten, nämlich den Schutz der Vertragspartner, nicht mehr erfüllen. Der Häuptling der Nama, Hendrik Witbooi, gab wenig auf das königliche Siegel eines fernen Regenten und griff immer wieder die Viehherden der Herero an. Viele Volksstämme, vor allem die Herero, verloren das Vertrauen in ihre Beschützer und kündigten ihrerseits die Verträge auf. Heinrich und seine Leute mussten die Kolonie vorübergehend räumen.12

 

Bei seiner Rückkehr im Jahr 1890 fand Heinrich Göring die Heimat stark verändert vor: Ein Reich ohne Bismarck, unter der Herrschaft des ungestümen jungen Kaisers Wilhelm II., voller konservativer Ideale. Heinrichs Vorstellungen von der Gleichberechtigung der Menschen, ob schwarz oder weiß, zivilisiert oder »wild«, wurden alles andere als wohlwollend aufgenommen. Seine Versuche, afrikanische Einheimische gegen unmenschliche Behandlung zu verteidigen, brachten ihm den Vorwurf ein, er sei Sozialist, was zu der Zeit ebenso schwer wog wie der Vorwurf des Kommunismus in der McCarthy-Ära.13

Göring beschloss, seinem geliebten Vaterland den Rücken zu kehren, selbst wenn das bedeutete, seine Frau und die Kinder – Fanny hatte gerade ihre zweite Tochter Paula geboren – wieder den Härten des Lebens in der Ferne auszusetzen. 1891 trat er den Posten des Deutschen Generalkonsuls und Ministerialresidenten in Haiti an. Dort, im auch politisch aufgeheizten Klima der Karibik, gingen Heinrichs Draufgängertum und Fannys strahlende Schönheit noch einmal eine folgenschwere Verbindung ein. Neun Monate darauf, am 12. Januar 1893, kam im Marienbad-Sanatorium in Rosenheim, Bayern – nicht allzu weit von Hitlers Geburtsort Braunau am Inn –, ein Junge zur Welt: Hermann Wilhelm Göring. Seinen ersten Vornamen verdankte er Fannys Retter, dem jungen Berliner Arzt aus ihrer Zeit in Afrika, Dr. Hermann von Epenstein. Auch bei dieser Geburt stand von Epenstein Fanny zur Seite. Mit zweitem Namen war Hermann nach Kaiser Wilhelm I. oder auch nach dem von der Familie verehrten Großvater Wilhelm Göring benannt.

Der kleine Hermann verbrachte nur sechs Wochen bei seiner Mutter, dann kehrte sie zu ihrem Gatten und dem Rest der Familie nach Haiti zurück. Die befreundete Familie Graf in Fürth bei Nürnberg übernahm seine Pflege bis zur Rückkehr der Görings nach gut drei Jahren. Diese frühe Trennung von der Mutter sollte das Leben Hermann Görings entscheidend prägen.

Nach den Erinnerungen seiner älteren Schwester Olga Rigele war Hermanns Wiedersehen mit den Eltern alles andere als ein freudiges Ereignis. Als die Grafs am Bahnsteig ihre heimgekehrten Freunde in die Arme schlossen, drehte der Dreijährige der Szene den Rücken. Und als Fanny ihren Sohn hochheben wollte, wand er sich, fuchtelte mit den Armen, brach in Tränen aus und schlug mit den Fäusten auf seine biologische Mutter ein. Den stillen Fremden, der etwas abseits stand, seinen Vater Heinrich, beachtete er nicht einmal.14

Heinrich Göring, vom Dienst in Haiti vorzeitig gealtert und geschwächt, arbeitete nach seiner Rückkehr noch einige Wochen im Auswärtigen Amt und zog dann als Pensionär in eine Wohnung im Berliner Vorort Friedenau. Zunächst gefiel ihm das Leben als Pensionär im Kreis seiner preußischen »Landsleute« aus Staatsdienst und Armee. Sonntags fuhr er mit den Kindern nach Potsdam, wo sie die pompösen Aufmärsche des preußischen Heeres bestaunten – der Beginn von Hermann Görings lebenslanger Faszination für alles Militärische.15 Doch einen ehrgeizigen, fortschrittlichen Mann wie Heinrich konnte der Ruhestand nicht lange glücklich machen. Schon als junger Jurist hatte er sich lieber zur Armee gemeldet, war als desillusionierter Konsul von Deutsch-Südwestafrika nach Haiti gewechselt, und nun, als ruheloser Pensionär, wandte er sich der Flasche zu. Häufige Schübe von Bronchitis und Lungenentzündung verschlechterten zusätzlich seinen gesundheitlichen Zustand. Und während Heinrich zusehends körperlich verfiel, verbrachten seine Ehefrau und der alte Freund der Familie von Epenstein mehr und mehr Zeit miteinander.16

In diese familiären Verwicklungen hinein wurde am 9. März 1895 in Friedenau ein braunäugiger Junge namens Albert Göring geboren. Albert galt von Anfang an als das schwarze Schaf der Familie. Dieser Status prägte sein gesamtes späteres Leben: Alberts wacher Sinn für Widerstand gegen den verhassten Status Quo brachte ihn 1933, als die Nationalsozialisten die Macht an sich rissen, dazu, seine Heimat zu verlassen. Er befähigte ihn, dem Regime den Kampf anzusagen, machte ihn zum Exilanten und zum Verfolgten der Gestapo. Und, was das Wichtigste ist, diese seine Charaktereigenschaft rettete Hunderten potentiellen Opfern des Regimes das Leben.

 

Einige Jahre nach Alberts Geburt schlug von Epenstein, vorgeblich aufgrund von Heinrichs gesundheitlichen Problemen, der Familie Göring vor, in die kürzlich von ihm erworbene Burg Veldenstein einzuziehen. Ritter5* von Epenstein hatte die vormals von Fürstbischöfen, von schwedischen und bayerischen Rittern bewohnte Burganlage 1897 für 20 000 Mark gekauft und sollte bis 1914 eine Million Mark in ihre Instandhaltung investieren. Als Arzt befand er sich schon im Ruhestand, doch das Erbe seines Vaters erlaubte es ihm problemlos, solche Summen aufzubringen. Dr. Epenstein senior war als Arzt am Hof König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen tätig gewesen, hatte erfolgreich mit Immobilien gehandelt und war ein sehr angesehenes Mitglied der preußischen Gesellschaft. Den »Makel« seiner jüdischen Abstammung glich er teilweise dadurch aus, dass er vor seiner Heirat mit der Tochter eines reichen Kaufmanns zum Katholizismus konvertierte. Dr. Epenstein junior kam daher als Katholik auf die Welt, wurde katholisch erzogen und blieb zeitlebens bei diesem Glauben.

Als eher gedrungener, kleingewachsener Mann war von Epenstein nicht unbedingt gutaussehend zu nennen, doch seine elegante Erscheinung, seine hochfahrende Art und die aufregenden Anekdoten aus exotischen Ländern, die er zu erzählen wusste, machten ihn gleichwohl attraktiv.17 Zudem besaß er ein beachtliches Vermögen, zu dem außer mehreren Immobilien rund um Berlin auch die Burg Veldenstein sowie Burg Mauterndorf gehörten, eine weitere mittelalterliche Anlage in den Hohen Tauern in Österreich.

In beiden Burgen lud von Epenstein häufig zu Abendgesellschaften ein, jedoch nicht zu den üblichen formellen Empfängen – seine Veranstaltungen glichen eher mittelalterlichen Gelagen. Die Bediensteten trugen alte höfische Uniformen, der Beginn des Festmahls wurde mit einem Jagdhornsignal angekündigt, Unmengen Speisen wurden aufgetragen, und der Wein floss in Strömen, während Spielleute die Gäste zu erheitern suchten. Der alkoholkranke, beinahe schon senile Heinrich Göring wurde zu diesen Anlässen nicht eingeladen, während Fanny Göring oft die Rolle der Gastgeberin übernahm und nicht selten bis zum nächsten Morgen feierte. Wenn von Epenstein die Görings auf Burg Veldenstein besuchte, logierte er in dem exquisitesten der vierundzwanzig Zimmer, das wie von ungefähr nicht weit von Fannys Schlafgemach lag.18 Schon bald kam in der Dorfbevölkerung und bei Freunden der Familie das Gerücht auf, der Herr Doktor und Frau Göring hätten eine Affäre.

»Wir haben nie daran gezweifelt«, erzählt Professor Hans Thirring, ein weiterer Patensohn von Epensteins, der ebenso wie die Görings häufig den Sommer auf Burg Mauterndorf verbrachte. »Jeder, der nach Mauterndorf kam, kannte die Verhältnisse, und Hermann schien sich ebenso wenig dabei zu denken wie die anderen Kinder. Wie wir alle lebten sie in Furcht und Bangen vor dem Paten Epenstein.«19 Es gibt auch Mutmaßungen, Albert Göring könnte aus dieser Affäre hervorgegangen sein. Demnach soll aus der Freundschaft rund ein Jahr vor seiner Geburt eine Liebschaft geworden sein. Sobald Albert geboren war, bot sich von Epenstein an, die Patenschaft für alle Göring-Kinder zu übernehmen.20 Alberts ältere Schwester Olga Rigele erinnert sich: »Hermann war bis dahin sein liebstes Patenkind gewesen, aber nachdem Albert geboren war, beschäftigte er sich ständig mit ihm.«21 Die Gerüchte wurden noch lauter, als Albert heranwuchs und die Leute eine gewisse Ähnlichkeit zu seinem Paten zu erkennen meinten. »Dass aus dieser Beziehung ein Sohn hervorgegangen sein soll, Albert, ging immer so rum, weil der Junge Epenstein sehr ähnlich sah«, berichtet Mia Haunhorst, eine ehemalige Nachbarin aus Neuhaus an der Pegnitz.22 Diese auffällig dunklen Augen und Haare, diese typisch zentraleuropäischen Züge waren einfach nicht zu übersehen. Sollten die Spekulationen begründet sein, dann war Albert zu einem Viertel jüdisch, was ihn nach den Nürnberger Rassegesetzen in ein Konzentrationslager hätte bringen können.

Im Laufe der Jahre wurde jedoch deutlich, dass von Epenstein Hermann dem jüngeren Bruder vorzog. Albert galt als »weich und verletzlich«.23 Er war ein eher zartes Kind und verkroch sich gern in der sicheren Stube in seine Bücher. Statt des militärischen Kurzhaarschnitts trug er einen schulterlangen Pagenkopf. Für einen schneidigen, weltgewandten Rittersmann war er kaum der ideale Ziehsohn.

Hermann dagegen war ein selbstbewusster Junge, vielleicht sogar allzu selbstbewusst. Wenn er nicht gerade die Brigade der Dorfjugend in den imaginären Burenkrieg führte oder jagen ging, bezwang er Berge. Mit zehn überwand er die Klippen unterhalb der Burg Veldenstein, und mit dreizehn bestieg er den Gipfel des höchsten Bergs Österreichs, des 3798 Meter hohen Großglockner. Er besaß auch den Mut, seinen Helden von Epenstein gegen Anwürfe zu verteidigen. Einmal zog während der Ferien in Mauterndorf ein Junge Hermann damit auf, von Epenstein habe seinen Adelstitel »vom Kaiser gekauft«, er sei ihm nicht für persönliche Verdienste verliehen worden. Diese Unverschämtheit quittierte Hermann dem anderen mit einer blutigen Nase. Von Epenstein bekam Wind von der Sache, und einen Tag später »waren der Junge und seine Eltern aus Mauterndorf verschwunden«. Zur Belohnung »durfte [Hermann] den ganzen Tag mit dem Paten in die Berge auf die Gamsjagd gehen«.24

 

Inzwischen sind Dustin und ich im Ortskern von Neuhaus auf der Suche nach einer Unterkunft. Wir beginnen bei dem erstbesten Haus mit dem Schild »Gasthof« über der Tür. Ein niedriger Durchgang führt uns in die »Gaststube«, die, eben noch von fröhlich lärmender Geschäftigkeit erfüllt, bei unserem Eintreten schlagartig so kalt und unwirtlich wird wie der Winterabend draußen. An sämtlichen Tischen lassen die Männer mittleren Alters ihre Skatkarten und Gläser sinken und starren uns an. Wir sind die typischen Touristen, die den Leuten hier in den Sommermonaten mit ihren immergleichen Fragen auf die Nerven fallen, und das mitten im Winter. Wir stören ihre wohlverdiente Ruhe. Etwas verunsichert nähern wir uns unter dem irren Blick eines Porträts von Ludwig II. der Bar. In dem höflichsten und formellsten Deutsch, das wir aufbringen können, fragen wir, ob ein Zimmer frei sei, doch der Barmann sieht uns nur genauso genervt an wie die Gäste und brummelt: »Zimmer haben wir nicht.«

Wir beschließen, es auf der anderen Straßenseite im nächsten Gasthof zu versuchen, dem »Hexenhäusle«. Déjà vu! Derselbe niedrige Türsturz, dieselben mittelalten Skatspieler, die sich nach uns umdrehen, dasselbe Porträt Ludwigs II. über der Bar. »Zimmer haben wir nicht.« Doch diesmal wirkt der Barmann ein wenig freundlicher und gibt uns die Wegbeschreibung zu einem Gasthof, der tatsächlich Gästezimmer hat. Das Ganze erinnert mich an die ländlichen Pubs in meiner Heimat Australien: Man weiß nie, ob man freundlich aufgenommen oder behandelt wird, als hätte man gerade eine Kultstätte entweiht.

Im »Hexenhäusle« scheint eher Ersteres der Fall zu sein. Auf dem Weg nach draußen lädt uns einer der Zecher, ein Typ mit Lenin-Ziegenbärtchen und passender Glatze, auf ein Bier ein. Als wir einwenden, dass wir uns erst um unsere Zimmer kümmern müssen, feixt er: »Zimmer mit oder ohne Frauen?« – »Heute mal ohne«, antworten wir. – »Na, ein Bier können Sie doch«, drängt er, und wir geben nach. »Aber nur ein kleines.« Er hat so etwas an sich, als hätten seine alten, müden Augen schon einiges gesehen.

Unser Mann steht auf, begibt sich umstandslos hinter die Bar und zapft uns zwei Maß »Kaiserbräu« aus der örtlichen Brauerei. Er ist also nicht einfach irgendein Zecher, sondern einer, dem diese Bar gehört. Mit dem Bier in der Hand führt er uns zu einem Tisch, an dem zwei ältere Herren in ein Streitgespräch verwickelt sind. Unser neuer Freund erklärt, die beiden seien aus »Süddänemark« – also aus Norddeutschland. Solche subtilen Feindseligkeiten auf der Grundlage der verschiedenen Regionen und Dialekte scheinen eine der Lieblingsbeschäftigungen der Deutschen zu sein. Und tatsächlich heben sich die beiden deutlich von den anderen Gästen ab, denn während wir mit dem Dialekt unseres Gönners einige Mühe haben, können wir ihr Hochdeutsch problemlos verstehen.

Die verschiedenen Dialekte sind allerdings nicht der einzige Stolperstein, den mir die deutsche Sprache seit meiner Ankunft hier in den Weg gelegt hat, sondern auch ihre innere Logik. Es verblüfft mich immer wieder, wie plump, technisch und, so ungern ich es auch sage, phantasielos das Deutsche sein kann. Statt ein ganz neues Nomen zu erschaffen, werden oft einfach nur zwei bereits bekannte Wörter aneinandergereiht: Stink-Tier, Tinten-Fisch, Leichen-Wagen, Süß-Stoff, Hand-Schuhe, Hungers-Not, Selbst-Mord und so weiter. Bei Verben funktioniert es genauso. Manchmal kommt es einem vor, als könnte man jeden beliebigen Satz einfach mit »machen« vervollständigen. Sauber-machen, den Weg frei-machen, kurz machen, Party machen. Wenn du nicht weiterweißt – probier’s mit »machen«!

Wir jedenfalls, und mit uns die Süddänen und Bayern an unserem Tisch, machen jetzt Party. Nie geht uns die Munition für neue Wortgefechte aus, genauso wenig wie das Bier, das uns ein Tischnachbar nach dem anderen unbedingt ausgeben will. Als es doch einmal ruhiger wird, fragen sie uns, was uns denn hergeführt habe. »Göring«, sagen wir. Die Augen unseres Gastgebers leuchten auf. Mit einer Zigarette im Mundwinkel und einer gutgeteerten Stimme beginnt er, einen wahren Schatz an Anekdoten über die Görings auszupacken. Wie sich herausstellt, hat er sämtliche einundsiebzig Jahre seines Lebens in diesem Ort verbracht und erinnert sich noch gut, wie Hermann Göring oft eben diesen Gasthof besuchte, obwohl der damalige Wirt, sein Vater, kein Parteimitglied war. Ein Umstand, der damals schon gereicht hätte, um sich Schwierigkeiten einzuhandeln. Einmal, erinnert sich der Wirt, sei der örtliche Parteiobere in den Gasthof gekommen, um seinen Vater zum Verhör einzubestellen. »Aber er war gerade jagen!«, schließt er unter Husten und schnarrendem Gelächter.

Unser Wirt spult eine Kriegserinnerung nach der anderen ab, doch eine davon wirkt ganz besonders lebhaft und detailliert, obwohl sie über sechzig Jahre zurückliegen muss. Sie handelt davon, wie Hermann immer wieder mit einem Sonderzug voller Kunstgegenstände heimgekehrt war, die er in Galerien und Museen in ganz Europa »beschafft« hatte. Mit seinem verstümmelten Zeigefinger, den er eher zur Schau stellt als verbirgt, wedelt der Wirt in Richtung der Burg Veldenstein und witzelt, es sei so viel Beute gewesen, dass die Burg bei jedem Besuch komplett verändert aussah. Mal glich sie einem schlesischen oder böhmischen Herrenhaus, mal dem Louvre.

Wieder bricht der Mann in herzhaftes Gelächter aus, das sofort in einen Hustenanfall übergeht. Er kramt ein Hustenbonbon hervor und steckt sich die nächste Zigarette an. Trotz dieses Lasters, fährt er dann fort, sei Hermann bei den Anwohnern sehr beliebt gewesen. Er habe die Kommunionsfeiern der Dorfjugend finanziert, sie mit der nötigen Festkleidung ausgestattet.

Um ihn wieder auf die richtige Spur zu setzen, erinnere ich ihn daran, dass mich vor allem Hermanns jüngerer Bruder Albert interessiert. Der mit den geretteten Juden und Oppositionellen und so. Ob er ein bisschen verrückter ist, als wir dachten, oder schlicht schwerhörig – unser Wirt lässt sich jedenfalls nicht beirren. Er erzählt weiter begeistert von Hermann und fügt nur etwas weniger enthusiastisch hinzu: »Hermanns bester Schulkamerad war Jude. Keiner weiß, warum er seine Meinung geändert hat.« Und was ist nun mit Albert? »Ach, Albert.« Er blickt ausdruckslos vor sich hin. »Zu dem kann Ihnen hier keiner viel sagen.« Herr Betzelt hatte also recht. Wie die Geschichtsbücher tun auch die Menschen in Neuhaus an der Pegnitz ganz so, als hätte es Albert Göring nie gegeben.

 

Beim Aufbruch sehe ich mich noch einmal nach der Burg Veldenstein um, Alberts erstem Zuhause, und stelle mir vor, wie er als Junge allein hinter einer der Schießscharten sitzt und auf ein Leben hinuntersieht, das seinem eigenen so fern ist wie der Bergfried dem Dorf.