11. Schwarz, Rot und Gelb

»Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!«, rufen heisere Stimmen in die laue Sommernacht. Ganz Freiburg trägt Schwarz, Rot und Gold. Die Nationalfarben hängen von den Fahnenstangen, prangen auf T-Shirts, spiegeln sich in den leuchtenden Augen der Passanten. Überall auf der Bertholdstraße sieht man alberne Filzhüte und Michael-Ballack-Trikots; ein Autokorso voller hupender, »Olee« brüllender Fans kriecht den Werderring hoch und runter. Ein paar besonders siegesberauschte Nachtschwärmer versuchen sogar, wenn auch vergeblich, einen Kleinbus umzuwerfen. Deutschland ist ins Halbfinale der WM 2006 eingezogen. »Berlin, Berlin« ist schon seit dem ersten Gruppensieg das Mantra der Fangemeinde. Zwischen ihrem Team und dem Finale steht zwar noch die Begegnung mit den unerbittlichen Italienern, doch heute Abend wähnt die ganze Nation schon das Olympiastadion und die Trophäe in greifbarer Nähe.

Zuerst ist der Anblick etwas gewöhnungsbedürftig. Skandierende Menschenmassen unter einem deutschen Fahnenmeer rufen nicht unbedingt die behaglichsten Assoziationen hervor. Aber das hier ist ein neues Land. Ein wiedervereinigtes Deutschland, das über sechzig Jahre Zeit hatte, seine Wunden zu heilen und sich mit seinem Gewissen auszusöhnen. Hier und heute können Deutsche wieder im Chor skandieren, dass sie stolz sind auf sich und ihr Land.

Doch dieses Lebensgefühl gibt es nicht erst seit Beginn der WM. In den Gesprächen mit meinen deutschen Freunden klingt es immer wieder durch. Sie sind die Enkel des Dritten Reiches. Für sie ist es, anders als für ihre Eltern, kein Tabu mehr, über diese Zeit zu sprechen. Gern tun sie es allerdings auch nicht immer. Ihrer Meinung nach ist das Thema längst zum Klischee geronnen. Es wurmt sie, wenn jede neue Bekanntschaft aus dem Ausland gleich als Erstes wissen möchte, wo ihre Großeltern im Krieg gewesen sind. Ich kann diese Irritation durchaus verstehen – sie tragen für das, was ihre Großeltern getan haben, nicht die Verantwortung, nur dafür, aus deren Fehlern zu lernen und beim kleinsten Anzeichen, dass sie sich wiederholen könnten, einzugreifen. Sie sind eine eigene, neue Generation, deren Horizont nicht nur aus Hitler, Auschwitz und Hakenkreuzen besteht. Also lasse ich mich von der Siegesgewissheit, von dem neuen, selbstbewussten Gefühl der Zusammengehörigkeit anstecken und singe mit meinen Freunden: »Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!«

Am nächsten Tag mache ich mich, noch ein wenig benommen und mit verquollenen Augen, auf den Weg zur Dönerbude. Die Straßen sehen aus … tja, wie sie immer aussehen: wie geleckt. Keine einzige Bierflasche, und schon gar kein umgeworfener Bus, stört die makellose Ordnung. Offenbar waren schon frühmorgens die Heinzelmännchen unterwegs. Dennoch ist etwas von der Stimmung der vergangenen Nacht auch heute noch zu spüren. Auf der Goethestraße begegne ich einer radfahrenden Mutter, die für ihre zwei in voller Fanmontur gekleideten Kinder im Fahrradanhänger Fratzen schneidet. Ein Studentenpärchen, er mit Dreadlocks und ohne Hemd, sie im wehenden violetten Kleid, flaniert, Eis essend und kichernd, unter einem Triumphbogen aus Ahornlaub hindurch. Ganz Deutschland, so scheint es, ist in den Flitterwochen.

Ich holpere über die Straßenbahnschienen und stelle mein Fahrrad vor der Dönerbude ab. Emre ist heute da. Der unschlagbare Preis von zwei Euro pro Döner hat dafür gesorgt, dass Emre und ich gute Bekannte sind. Er ist mit zwölf Jahren nach Deutschland gekommen, als die Familie ihn für alt genug befand, bei seinem Onkel auszuhelfen. Jetzt, mit sechzehn, verbringt er einen Großteil seiner Nachmittage und Wochenenden hier im Laden, serviert frischen Döner und flirtet mit der weiblichen Kundschaft. Wir erzählen einander gern von der jeweiligen Heimat. Er schwärmt dann von seinem Leben in Istanbul, von den katzenäugigen Schönheiten, dem azurblauen Marmarameer, und natürlich von den Siegen der türkischen Nationalmannschaft. Und ich krame die Klischees meiner eigenen Heimat hervor: die blonden Strandnixen, Kylie Minogue und vor allem die Kängurus – von diesen hüpfenden zoologischen Kuriositäten bekommt Emre nie genug. Auf ganz eigene Weise verstehen wir einander sehr gut: Wir sprechen beide ein gebrochenes Deutsch mit starkem Akzent, er ein wenig gewandter als ich, und irgendwie tragen diese sprachlichen Hindernisse dazu bei, dass wir uns umso ungezwungener unterhalten.

Emre hat genauso dunkle Ringe unter den Augen wie ich, also frage ich, was ihn gestern wach gehalten hat. »Das Spiel!«, sagt er mit einem Gesichtsausdruck, als käme ich vom Mars. – »Tja, war ’ne tolle Nacht. Vielleicht ein bisschen zu toll«, füge ich hinzu, als mir ein säuerlicher Nachgeschmack die Kehle hochsteigt. Wie sich herausstellt, war auch Emre bis in den Morgen auf dem spontanen Volksfest in Freiburgs Straßen. Da die Türkei an der Qualifikation gescheitert ist, habe ich versucht herauszufinden, hinter welchem Team Emre steht. Jedes Mal, wenn ich ihn fragte, hielt er sich bedeckt. Aber als ich heute noch einmal nachhake, ruft er: »Deutschland natürlich!«

Der Zug hat Verspätung – volle fünf Minuten. »Scheiiße«, stöhnt ein Anzugträger zu meiner Rechten mit einem Gesicht, als sei ihm gerade der Weltuntergang verkündet worden. Für mich ist der verspätete ICE eine echte Bereicherung: Die paar Minuten Wartezeit werden den Fahrgästen mit kostenlosem Kaffee, Orangensaft und kleinen Snacks versüßt. Die mit der Verteilung beauftragte Bahnangestellte hat die Augen fest auf ihren Rollwagen geheftet, um den grimmigen Blicken der Passagiere auszuweichen. Viele ignorieren ihr Versöhnungsangebot, als sei es nur eine weitere Zumutung. Endlich fährt der windschnittige ICE in den Bahnhof ein und verscheucht die feindselige Stimmung.

Ich fahre nach Berlin, allerdings nicht zum Finale, sondern um dort einen alten Freund wiederzusehen. Die große WM-Party ist schon seit Monaten vorbei, seit Deutschland in Dortmund das Halbfinalspiel gegen Italien verloren hat. Die Angriffslust des deutschen Teams, seine flüssigen Kombinationen und seine spielerische Eleganz hatten gegen die brettharte Abwehr und die hoch schematischen Angriffe der Italiener keine Chance; was für eine Ironie. Es war ein trauriger Tag. Ich hatte im Irish Pub die Abendschicht und damit einen erstklassigen Blick auf die hoffnungsvollen Gesichter der Gäste. Zwei in der Nachspielzeit gefallene Tore später sah es im Pub wie bei einem Begräbnis aus. Ausgewachsenen Männern liefen schwarz-rot-goldene Schlieren die Wangen hinunter. Sie weinten nicht so sehr vor Trauer als vor Entsetzen leise vor sich hin – ihr Optimismus war so groß gewesen, dass eine Niederlage einfach unvorstellbar schien.

Zwei Wochen trug ganz Deutschland Trauer. Doch jetzt, drei Monate später, sind all die Emotionen, die in der WM hochgespült wurden, wie weggewischt. Graue Alltagsmonotonie ist an ihre Stelle getreten, ganz so, als sei das »Sommermärchen« nur eine flüchtige Urlaubsaffäre gewesen.

Vor mir taucht der Berliner Hauptbahnhof auf wie eine gläserne Kathedrale. Hier herrscht der glitzernde Zweckoptimismus neuerer Shoppingmalls; das ganze Gebäude ist eine sonnendurchflutete Ode an Modernität und Geschwindigkeit. Draußen sieht es ähnlich aus. Das raue, geschichtsträchtige Berlin von vor fünf Jahren hat einen neuen, glänzenden Anstrich bekommen. Das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das Paul-Löbe-Haus und das Kanzleramt, die alle in den Jahren vor der WM entstanden sind, folgen mit ihren Glasflächen, unregelmäßigen Formen und hoch aufragenden weißen Wänden derselben lauten, grellen Ästhetik. Zeitlosigkeit war bei den Entwürfen offenbar nicht gefragt; Deutschland wollte sich der Welt lieber mutig und dynamisch präsentieren. Das Resultat ist durchaus erfrischend, wirkt aber auch ein bisschen angestrengt.

Das Ganze erinnert mich an meine Heimatstadt Sydney, die mit den Jahren einen Facelift nach dem anderen verpasst bekommt. Mit jedem neuen Look verwandelt sie sich in die Speerspitze der Avantgarde, doch ein paar Jahre später wirkt die Stadt schon wieder wie ein Relikt aus anderen Zeiten. Dasselbe Phänomen befürchte ich angesichts von Berlins neuestem architektonischem Triumph. Der Versuch, sich neu zu erfinden, könnte genauso schnell vorüber sein wie der Enthusiasmus, die Hoffnung und der Stolz, den die WM mit sich gebracht hat. Macht der Zeitgeist wieder einen seiner Höhenflüge und Abstürze durch wie schon in den 1970er und 90er Jahren? Wie die Begeisterung über die friedlichen, freien Olympischen Sommerspiele 1972 in Entsetzen umschlug, als plötzlich wieder jüdisches Blut auf deutschem Boden vergossen wurde, so folgte auf den Taumel der Wiedervereinigung die Ernüchterung über die verbliebene »Mauer in den Köpfen«.

 

Endlich ist auch Jack in unserem Hostel angekommen. Er ist ein alter Schulfreund von mir aus Sydney, der sich auf einer Europareise von der Hektik seines Berufslebens als Investmentbanker erholt. Es ist schon zehn Uhr abends, aber er besteht darauf, sich noch in Berlins alternatives Nachtleben zu stürzen. Und die beste Anlaufstelle dafür ist, so versichert er mir, das Kunsthaus Tacheles in Mitte.

Das »Tacheles« im alten jüdischen Viertel verdankt seine Existenz einer Künstlergruppe, die sich den Zensurmaßnahmen in der DDR widersetzte und sich entsprechend das jiddische Wort für »Klartext« zum Namen wählte. Das Gebäude war in der Zwischenkriegszeit ein Einkaufszentrum. Zu NS-Zeiten waren darin unter anderem eine SS-Dienststelle und Zellen für französische Kriegsgefangene untergebracht, und nach der Gründung der DDR übernahm der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund die Verwaltung des Gebäudes. Seit dem Mauerfall hat es sich von einem besetzten Haus zu einem quirligen Komplex mit Galerien und offenen Ateliers, mit Freiluft- und Saalkino und vier Bars weiterentwickelt. Subversive Aktionen, spontane Partys und künstlerische Freiheit haben das Haus zu einer festen Größe in Berlins alternativer Kunstszene gemacht.

Und Jack und ich sind mittendrin. Der Weg zur Bar führt durch ein von oben bis unten mit Graffiti bedecktes Treppenhaus. Bässe dröhnen, Haschischdunst weht uns entgegen, Anti-Bush-Poster und politische Parolen bedecken jeden Quadratzentimeter Wand. Es ist wie ein Studentenwohnheim auf Speed – alles ist möglich. Wir tasten uns durch dicke Rauchschwaden zum Tresen vor, ergattern zwei Bier und setzen uns in eine freie Ecke, um uns erst einmal zu orientieren. Doch kaum haben wir den ersten Schluck genommen und einen Wo-sind-wir-denn-hier-gelandet-Blick ausgetauscht, als sich eine dunkle Gestalt vor uns aufbaut. Der Mann ist mindestens Ende dreißig und erinnert mit seinen Tunnelpiercings in den Ohren und den hochgesteckten grauen Dreadlocks an den Dude aus The Big Lebowski. Er fragt uns auf Englisch, mit starkem deutschem Akzent, ob wir »etwas brauchen«, und klopft sich bedeutungsvoll auf die Tasche. »Nein, danke, uns reicht die Atmosphäre«, stammeln wir wie echte Anfänger. Als sei ihm sein Angebot jetzt peinlich, versichert uns der Dude, er sei gar kein Drogendealer – na ja, in Teilzeit vielleicht –, sondern eigentlich ein Künstler. Er komme nur gelegentlich hierher, um den üblichen Backpackern seine kleine Auswahl an Halluzinogenen anzubieten. »Leichte Beute«, sagt er.

Übliche Backpacker? Das klingt wie ein Alarmsignal. Trotz seines künstlerischen, alternativen Anspruchs scheint das Tacheles auf der Kippe zur Touristenabsteige zu sein, oder noch schlimmer, ein Motor der Gentrifizierung. Die echte Subkultur findet offenbar längst anderswo statt.

Unser Dude hat inzwischen beschlossen, uns unter die Fittiche zu nehmen, und fragt, was wir hier in Deutschland machen. Ich antworte, dass ich in Deutschland lebe, und erzähle von meinen Eindrücken von der Achterbahnfahrt der Gefühle während der WM und von der depressiven Stimmung, die seither herrscht.

»Keine Sorge, das wird schon wieder!«, sagt er. »Nimm zum Beispiel das Haus hier. Es ist schon alles Mögliche gewesen. Es hat eine Menge Achterbahnfahrten hinter sich, wie du es nennst. Aber weißt du«, einen Moment lang rutscht er ins Deutsche und fängt sich gleich wieder, »es ist immer dasselbe Gebäude, dasselbe Fundament, derselbe Geist. In den Neunzigern wollten sie es abreißen, weil es hieß, es wäre nicht sicher oder so ’n Scheiß. Aber die Künstler haben ein neues Gutachten machen lassen, und wisst ihr was? Das Ding ist grundsolide.« Tja, das ist wohl Ansichtssache.