4. Geburt

Die Sicht reicht nie weiter als zur nächsten Straßenbiegung; jede Kurve fühlt sich an wie eine Mischung aus Achter- und Geisterbahn. Unser Weg führt höher und höher in die Hohen Tauern hinauf, und es beginnt zu dämmern. Die Zeit läuft uns davon. Allmählich werden die verstreuten Schneewehen von größeren Schneefeldern abgelöst. Bald tauchen die ersten Skifahrer auf den Loipen und Sesselliften auf. Dann öffnet sich vor uns ein grünes, mit kleinen Hütten gesprenkeltes Tal.

Es ist der dritte Tag unserer Reise in die Kindheit der Görings, und Dustin und ich folgen der B 99 durch Lundgau, zwei Autostunden südlich von Salzburg. Eben diese Straße ist vor Jahren Hermann Göring mit seinem kurvenreichen ’38er Mercedes 540 K entlanggebraust, und vor Jahrhunderten nahmen römische Kaufleute diesen Weg. Wer immer hier vorüberkam, unterbrach seine Reise an der alten Zollstation, die der Burg Mauterndorf ihren Namen verlieh. Vor uns liegt Dr. Hermann von Epensteins zweite Residenz, das Märchenschloss, in dem die Görings die Sommer ihrer Kindheit verbrachten.

Bei der Anfahrt auf Mauterndorf ist die Burg das erste Gebäude, das in Sicht kommt. Sie steht auf einer Anhöhe über dem Ort, nicht annähernd so majestätisch hoch wie Burg Veldenstein. Auch Bastionen, Wehrgänge und Schießscharten sucht man hier vergebens. Stattdessen bilden cremefarbene Fassaden reizende Kontraste mit gelbem Mauerwerk und den dunklen Dachziegeln der Türme, eine Kombination, die jetzt, im Licht der Scheinwerfer, nur umso pittoresker wirkt. Die Anlage sieht weniger wie eine Trutzburg aus, die beutegierige Raubritter abschrecken soll, als wie ein geschickt getarntes Amtsgebäude, das fahrende Händler anlockt, damit man ihnen hinterrücks saftige Zollgebühren abknöpfen kann.

Eine schmale Holzbrücke führt über den leeren, üppig zugewucherten Burggraben zu einer Informationstafel, die uns die Geschichte der Burg nahebringt. Schon die Römer hatten an dieser Stelle eine Zollstation errichtet. Im 13. Jahrhundert ließ das Salzburger Domkapitel zum Schutz der Marktgemeinde Mauterndorf die Burg errichten und baute sie im 15. Jahrhundert weiter aus. Bis 1806 blieb die Anlage im Besitz des Domkapitels und wurde dann Staatseigentum. Von da an verfiel die Burg allmählich, und von Epenstein konnte sie 1894 günstig erwerben.

Angeblich spukt es auf dieser Burg. In stürmischen Nächten, so sagt man, wenn der Wind durch die Flure pfeift, fordern die verstorbenen Kerkerinsassen kreischend und heulend Vergeltung für all die feuchtkalten, hungrigen Tage, zu denen man sie einst verdammte. So weit die Legende. Aber heute, im geheimnisvollen Licht des Vollmonds, kommt sie uns gar nicht mal unglaubwürdig vor. Auf alles gefasst, folgen wir dem ansteigenden Pfad bis zum Hintereingang der Burg. Durch das schmiedeeiserne, mit Speerspitzen verzierte Tor erhaschen wir einen Blick in den Burghof, doch damit hat es sich auch schon – im Winter gelten gesonderte Öffnungszeiten, und die sind für heute vorbei.

Ein wenig geknickt beschließen wir, in den Ort zu fahren und erst einmal etwas zu essen. Die dortige Hauptstraße verdient ihren Namen kaum: Sie ist ein Flickwerk aus Kopfsteinpflaster und Asphalt und zu schmal, als dass zwei Autos aneinander vorbeifahren könnten. Wir rumpeln zwischen den Reihenhäusern und kleinen Lädchen hindurch und parken vor der Dorfkirche, derselben, die von Epenstein mit seiner riesigen Entourage – darunter auch Albert und Hermann – jeden Sonntag überfüllte. Da auch heute Sonntag ist, haben in diesem kleinen Dorf fast alle Läden zu. Einer der wenigen Menschen, die sich blicken lassen, eine alte Dame mit traditionell geflochtenen Zöpfen und einem langen Pelzmantel, nennt uns einen Gasthof, der geöffnet sein könnte.

»Grüß Gott!«, ruft uns die Wirtin des besagten Gasthofs entgegen, dieselben Worte, mit denen Albert gute Freunde, aber auch wenig begeisterte NSDAP-Mitglieder begrüßte. Doch dem freundlichen Empfang folgt eine niederschmetternde Auskunft: Die Küche öffnet erst in einer Stunde. Wir sind kurz davor, alles aufzugeben und nach Hause zu fahren.

 

Hermann Göring hasste die Enge muffiger Klassenzimmer und kam mit der Schule und ihren Autoritäten alles andere als gut zurecht. Kein Wunder, waren doch die einzigen Herren, die er anerkannte, sein geliebter Pate, Mutter Natur und, nicht zuletzt, er selbst. Rückblickend, als Erwachsener, soll Göring sich prächtig darüber amüsiert haben, dass er, der allmächtige Reichsmarschall, einmal den Rohrstock zu spüren bekommen hatte.25

Er begann seine Ausbildung an der Volksschule in Fürth, zugleich der Auftakt für eine lange Serie von Rauswürfen und immer neuen Schulen. In Fürth blieb er nur einige Wutanfälle lang, bis seine Eltern gezwungen waren, einen Privatlehrer zu engagieren. Da er dennoch rebellisch blieb, beschloss man, ihn dem strengen Reglement eines Internats zu überantworten. Mit elf Jahren wurde er in Ansbach in einem solchen untergebracht.

Die neue Umgebung missfiel Hermann von Anfang an. Der trostlose Fraß in der Schulkantine beleidigte den von seinem Paten erlernten raffinierten Geschmack des Jungen so sehr, dass er sogar eine Revolte anzettelte. Als diese kläglich scheiterte, ergriff er die Flucht. Es heißt, er hätte sein Bettzeug vorausschicken lassen, seine Geige verkauft, um die Bahnfahrkarte zu finanzieren, und sei dann unangekündigt zu Hause aufgetaucht.26 Doch von dort wurde er trotz aller Proteste sofort zurück an die Schule geschickt.

Die einzigen Lichtblicke seiner Jahre im Internat waren die Sommerferien auf Burg Mauterndorf. Die Wälder und Berge rings um die Burg waren für Hermann die wahre Schule des Lebens, in der er die Größe von Mutter Natur und das Ringen mit ihr erlernte. Doch immer, wenn die Tage wieder kürzer und die Nächte kälter wurden, musste er in das verhasste Internat zurück. Besonders wenig mochte er das Fach Musik und das Geigenspiel, das er statt des von seinen Eltern favorisierten Klaviers erlernen musste. Lange trug er eine gärende Wut auf die Schule im Allgemeinen und Streichinstrumente im Besonderen mit sich herum, bis es zur Entladung kam.

Eines Tages wurde den Schülern aufgetragen, einen Aufsatz über ihre größten Helden zu schreiben. Während die meisten den Kaiser oder Bismarck zum Thema wählten, schrieb Hermann über den einzigen Menschen, den er wirklich bewunderte, seinen Paten Hermann von Epenstein. Prompt wurde er zum Direktor zitiert und dafür abgemahnt, dass er sich lobend über einen Juden geäußert hatte. Der Name von Epenstein war im »Semi-Gotha« verzeichnet, einem Nachschlagewerk, das Adelsfamilien mit jüdischen Vorfahren auflistete und das der Schuldirektor offensichtlich regelmäßig konsultierte. Hermann musste zur Strafe hundert Mal den Satz niederschreiben: »Ich soll keine Aufsätze zur Verherrlichung von Juden schreiben.«27

Doch das war gar nichts im Vergleich zu dem, was seine Mitschüler sich einfallen ließen. Sie fielen über Hermann her und trieben ihn mit einem Schild um den Hals über den Schulhof, auf dem stand: »Mein Pate ist Jude.« Diese Aussage, sein Pate sei Jude, hatte Hermann noch nie gehört und sollte sie nie akzeptieren. Am Tag nach dieser Demütigung floh er wieder aus Ansbach, nicht ohne seinen Helden gerächt zu haben, indem er alle Saiten der Streichinstrumente des Schulorchesters durchtrennte.28

Dieses Lehrstück über den Antisemitismus trug allerdings nicht dazu bei, Hermann Göring moralisch zu festigen. Jahre später wurde er als zweitmächtigster Mann im Dritten Reich zum Mitwisser und zum Beteiligten an den antisemitischen Gewaltakten seines eigenen Apparats. Sein Bruder Albert dagegen, dem eine derart brutale Kindheitserfahrung erspart blieb, sollte als Erwachsener in Wien einer alten Frau ein ganz ähnlich beschmiertes Schild abnehmen, das ihr Hermanns Braunhemden umgehängt hatten.6*

Nach diesem letzten schulischen Desaster blieb Hermanns Eltern und seinem Patenonkel nichts mehr übrig, als die Armee zu Hilfe zu rufen. Zivilisten waren offensichtlich nicht in der Lage, Hermanns widerspenstiges Naturell zu bändigen. Nur ein Träger jener Uniform, die schon Österreich-Ungarn und Frankreich das Fürchten gelehrt hatte, konnte ihm offenbar etwas entgegensetzen. Also ließ von Epenstein seine Beziehungen spielen, zahlte das Schulgeld und besorgte Hermann einen Platz in der Kadettenanstalt in Karlsruhe.

In ein militärisches Internat gesteckt zu werden war für Hermann Göring, der schon seit frühester Kindheit alles liebte, was mit dem Militär zusammenhing, das Allergrößte. Schon als kleiner Junge hatte er Stunden damit zugebracht, in Khakihosen und Tropenhut die Burenkriege nachzuspielen. König Boris III. von Bulgarien vertraute er später an, er habe bei diesen Kinderzimmerkämpfen zuweilen einen Spiegel eingesetzt, um seine Truppenstärke zu verdoppeln.29 Es drängt sich die Frage auf, ob Göring als Oberkommandierender der Luftwaffe angesichts des Nachschubmangels in den letzten Kriegsjahren seinen alten Kinderzimmerspiegel wieder hervorholte, wenn er Hitler vom Zustand seiner Truppen Bericht erstattete.

Jedenfalls blühte Hermann in seiner neuen Umgebung regelrecht auf. In der Abschlussbemerkung zu seinem herausragenden Zeugnis hieß es: »Göring war ein vorbildlicher Schüler. Er hat Eigenschaften entwickelt, mit denen er es zu etwas bringen wird. Er scheut sich nicht, ein Risiko einzugehen.«30 Mit diesem Abschluss war es ein Leichtes, einen Platz an der renommierten Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde bei Berlin zu bekommen, einer Eliteschmiede des deutschen Militärs.

Diese Ausbildung schloss Hermann mit magna cum laude in den meisten Fächern ab und bestand im Dezember 1913 das Offiziersexamen. Im Januar 1914 erhielt er einen Adjutantenposten im Infanterieregiment Nr. 112 »Prinz Wilhelm« in Mülhausen an der damaligen deutschfranzösischen Grenze.31

 

Sehr viel später, in seiner Gefängniszelle in Nürnberg, sprach Hermann Göring mit dem amerikanischen Psychiater Leon Goldensohn über die Charakterunterschiede zwischen ihm selbst und seinem Bruder Albert: »Er war stets das genaue Gegenteil von mir. Er interessierte sich nicht für Politik oder das Militär; ich schon. Er war still, zurückgezogen; ich liebe Menschenansammlungen und die Geselligkeit. Er war schwermütig und pessimistisch, ich bin ein Optimist. Aber er ist kein schlechter Kerl, dieser Albert.«32 In mancherlei Hinsicht scheint diese Beschreibung zumindest für den Schüler Albert recht passend zu sein.

Albert Göring erfüllte die Anforderungen, welche die Lehrer an ihn stellten, übertraf sie aber nur selten. Er galt als fleißiger, in einigen Fächern als sehr guter und, anders als sein Bruder, als gehorsamer Schüler. Am liebsten saß er in der hinteren Bankreihe und träumte vor sich hin, vielleicht von den Opern- und Theateraufführungen, zu denen ihn sein Patenonkel gelegentlich mitnahm. Bei diesen Ausflügen entwickelte er eine bleibende Leidenschaft für Musik und bildende Kunst. Er selbst war besonders im musikalischen Bereich begabt und spielte Klavier und andere Instrumente auf beachtlichem Niveau.

Dieser etwas verschrobene, kunstsinnige, unauffällige Schüler verbrachte seine ersten Schuljahre nicht wie sein Bruder in angesehenen Internaten und Militärschulen, sondern mit dem einfachen Volk in der Volksschule in Velden und dem Progymnasium von Hersbruck. Mit elf Jahren stand er vor der Frage, die sich deutschen Schulkindern so ähnlich auch heute noch stellt: der Wahl zwischen dem klassischen Bildungskanon eines Gymnasiums und dem praxisnäheren Curriculum einer Realschule. Albert entschied sich für Letzteres und tauchte 1906 am Realgymnasium in München in die Welt der Physik und der Mechanik ein. Wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs erwarb er dort sein Abitur.

Im Jahr 1913, als sich Albert auf seine Abiturprüfungen vorbereitete und Hermann sich auf sein Offiziersexamen, stattete der inzwischen 62-jährige Hermann von Epenstein ihren Eltern einen Besuch auf Burg Veldenstein ab. Er erklärte Heinrich und Fanny Göring, er habe sich in ein junges Fräulein verliebt – vierzig Jahre jünger als er – und werde bald heiraten. Seine Verlobte Lilli kannte seinen Lebenswandel genau und hatte von ihm gefordert, seinem Junggesellendasein abzuschwören, also auch seine Affäre mit Fanny zu beenden. Als von Epenstein dies seiner langjährigen Geliebten mitteilte, kam deren Gatte Heinrich hereingeplatzt und klagte über den Verrat, den die beiden seit Jahren an ihm begingen. Sein Wutausbruch mündete in den Entschluss, nicht länger im Haus eines Ehebrechers und Verräters bleiben zu wollen.

Noch im selben Frühjahr verließ die in ihren Grundfesten erschütterte Familie Göring die Burg Veldenstein und zog nach München in ein bescheidenes Haus.33 Der ehemalige Reichskommissar, ein körperlich wie seelisch zerrütteter Mann, trat am 7. Dezember seine letzte Reise an. Erst nach Heinrichs Tod, als sie seinen Nachlass sichteten, erkannten die Brüder, wer ihr Vater wirklich gewesen war. In den Papieren fanden sie nicht den senilen Trunkenbold ihrer Kindheit vor, sondern einen Mann, der sich in zwei Kriegen und als Kolonialbeamter um seine Heimat verdient gemacht hatte. So kam es, dass sie beide am Rande des Familiengrabs auf dem Waldfriedhof in München ein Gefühl der Schuld und der Reue bedrückte. Hermann Göring, so heißt es, war so sehr davon überwältigt, dass er trotz seiner militärisch-preußischen Selbstdisziplin eine Träne vergoss.34

Dann begann der Krieg …

 

Unsere Mägen verlangen nach Schnitzel, unsere schmerzenden Köpfe nach einem Bett. Wir haben für heute genug Niederlagen eingesteckt und beschließen, zum Auto zurückzugehen. Auf dem Weg entdecken wir gegenüber der Kirche ein kleines geöffnetes Café. Es heißt Café Claudio und ist voller Familien und Paare in Sonntagskleidern, die offenbar gerade bei der Messe waren. Beim Eintreten grüßen sie einhellig mit einer Wendung, die ich nicht kenne, die aber wohl die regionale Entsprechung zu »Guten Abend« sein muss. Wir lassen uns ganz am Ende des Raums erschöpft in einer Nische auf die lederbespannten Bänke fallen.

Als ich mich umsehe, fällt mir eine Gruppe gutgekleideter älterer Menschen auf. Die Frauen tragen teuren Schmuck und dazu passende smaragdgrüne Halstücher. Ein Mann mit schütterem grauem Haar trägt offenbar traditionelle Lundgauer Tracht: eine hellgraue Wolljacke ohne Kragen und ein Trachtenband um den Hals. Er scheint das Reden lieber den Frauen zu überlassen und beschäftigt sich stattdessen mit seinem Glas Rotwein und einer Käseplatte.

Irgendetwas an diesem Mann kommt mir bekannt vor. Es ist seine Siebziger-Jahre-Brille mit Drahtgestell, fällt mir auf. Diese Brille habe ich schon einmal gesehen. Ich krame in meinem Gedächtnis, bis ich die Brille einem Mann zuordnen kann, den ich in einer Dokumentation über Albert Göring gesehen habe, Herbert Hohensinn, einem Bewohner dieser Region, der in dem Film seine Erinnerungen an die Görings in Mauterndorf zum Besten gegeben hat. Wie schnell das Blatt sich doch wenden kann. Eben noch wollten wir mit eingezogenen Schwänzen heimwärts fliehen, und jetzt sitzen wir einem entscheidenden Zeitzeugen gegenüber, der nur wenige Meter entfernt an seinem Rotwein nippt.

»Hallo, guten Abend. Es tut mir leid, zu stören«, begrüße ich den Mann. Ich stelle mich ihm vor und erkundige mich, ob er tatsächlich der Mann aus dem Dokumentarfilm sei. Ja, ist er, und er beginnt auch gleich ein wenig von den Görings und ihrem Gönner von Epenstein zu erzählen. Er spricht Hochdeutsch, nur manchmal mit Einsprengseln aus seinem Lundgauer Dialekt. Wie alle anderen erklärt er gleich vorneweg, über Albert wisse er leider nicht allzu viel. Doch was er weiß, reicht schon dafür, dass ich ihn gern mit Hilfe meines Diktiergeräts etwas ausführlicher interviewen würde. Er zögert, bis seine Frau sich schließlich dazwischenschaltet: »Gewiss doch, wir wohnen ja gleich gegenüber. Kommen Sie einfach in einer guten Stunde dort vorbei.«

 

Im August 1914, nachdem ein Mann im drolligen Federhut und seine Frau in Sarajevo ermordet worden waren, nachdem ein Bündnis bekräftigt, ein Ultimatum gestellt und ignoriert, ein Blankoscheck des Kaisers Wilhelm II. an den Kaiser Franz Joseph überbracht worden war, wurde Hermanns liebstes Kinderspiel zur blutigen Realität. Schon Stunden nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich bekam der 21-jährige Leutnant in Mülhausen, an der schwer befestigten Grenze in Elsass-Lothringen, Kriegshandlungen zu sehen. Allerdings nicht lange, denn ein Täuschungsmanöver im Rahmen des Schlieffenplans sah vor, dass Hermanns Infanterieregiment Nummer 112 sich hinter den Rhein zurückziehen sollte, während der Großteil der deutschen Truppen durch Belgien gen Paris zog.

Als auch für Görings Regiment endlich der Angriffsbefehl erteilt wurde, konnte er zum ersten Mal selbst in den Kampf ziehen. Doch schon nach wenigen kleineren Scharmützeln traf ihn ein harter Schicksalsschlag: Ein akuter Schub von Gelenkrheumatismus machte ihn kampfunfähig. Die heftigen Schmerzen sollten ihn, sosehr sie ihm auch zusetzten, noch weit bringen. Denn im Lazarett in Freiburg lernte er Bruno Loerzer kennen, einen Anwärter der kaiserlichen Fliegertruppe. Loerzer lud ihn als Beobachter in seine Albatros B990 ein, und Göring schoss auf einem Erkundungsflug über Verdun wertvolle Fotos der französischen Batterie am Côte de Talon. Diese Bilder brachten ihm am 25. März 1915 das Eiserne Kreuz Erster Klasse sowie die Chance ein, sich zum Flieger ausbilden zu lassen.35 Damit begann sein Ruhm als Fliegerass des Ersten Weltkriegs, der ihm in den Folgejahren den Aufstieg zur Macht erleichterte.

Im Jahr darauf wurde Göring abgeschossen und musste monatelang untätig warten, bis er wieder dienstfähig war. Erst im Februar 1917 wurde er in der Jagdstaffel 26 eingesetzt. In der schmucken Fliegeruniform glich er endlich den teutonischen Rittern aus seinen Träumen. Als Kampfpilot besaß er dieselbe tödliche Präzision wie auf der Jagd in den Wäldern um Mauterndorf und Veldenstein. Im Juni 1918 konnte er bereits 21 Abschüsse verbuchen und hatte sich damit eine Auszeichnung verdient, die ihm Freibier in jeder deutschen Bierhalle und die Bewunderung jedes deutschen Fräuleins versprach: den Pour le Mérite.

Von einem Tag auf den anderen war Hermann eine Berühmtheit geworden. Sein Bild zierte die Titelseiten von Zeitungen und Wochenblättern und stand bei den Kindern, die eifrig Sammelkärtchen von Fliegerassen tauschten, hoch im Kurs. Er war ein Held, ein Hoffnungsschimmer für die leidgeprüfte Bevölkerung. Fast konnte er sich mit dem gefürchtetsten und berühmtesten Piloten der Welt messen, mit Manfred Albert Freiherr von Richthofen, dem Roten Baron.

Am 21. April 1918 wurde der scheinbar unverwundbare Rote Baron von einer feindlichen MG-Batterie abgeschossen.7*36 Richthofens Nachfolger wurde Wilhelm Reinhard, doch er blieb nicht lange am Steuer. Auf einem Testflug mit einem neuen Jagdflugzeug, das auch Hermann Göring kurz zuvor zur Probe geflogen hatte, wurde es ihm endgültig wieder aus der Hand genommen. Und so wurde »Nr. 178.654, 8. 7. 18 Oberlt. Hermann Göring« am 8. Juli 1918 zum Staffelführer des Richthofen-Geschwaders ernannt.37

 

Am 14. April 1945 stattete die Royal Air Force Berlins Nachbarstadt Potsdam einen ihrer berüchtigten Besuche ab. Sie hinterließ tiefe Spuren im Stadtbild, aber auch im Bild der deutschen Militärgeschichte. Denn unter den Trümmern lag das Preußische Heeresarchiv mit seinen jahrhundertealten Beständen begraben und, was für meine Zwecke bedeutsamer ist, mitsamt der schmalen Personalakte Albert Görings. Die einzigen erhaltenen Dokumente über ihn aus dem Ersten Weltkrieg finden sich in seiner Krankenakte im Krankenbuchlager des Landesamtes für Gesundheit und Soziales in Berlin. Darin vermerkt sind das Datum seines Ein- und Austritts aus dem Dienst, seine Kriegsverletzungen und sein zweiter Vorname Günther, den kein Geschichtsschreiber bisher zur Kenntnis genommen hat.

Die Aufzeichnungen beginnen am 2. August 1914, als Albert sich in einem Wehramt in Bayern in den Dienst von Kaiser und Vaterland begab, wie es seinem Familienerbe, wenn auch nicht unbedingt seinen persönlichen Neigungen entsprach. Er wurde der 6. Königlich Bayerischen Reserve-Division als Nachrichtentechniker oder, wie man sie damals nannte, als Pionier zugeteilt.

Diese Stellung war bei weitem nicht so prestigeträchtig wie die seines Bruders, aber, besonders im Rahmen des offensiven Schlieffenplans, doch verantwortungsvoll. Für jeden Meter Geländegewinn musste ein Meter Kabel verlegt werden, und jede Unterbrechung der Kommunikation hatte eine Verzögerung des Angriffs zur Folge. Ohne präzise Meldungen über den Schlachtverlauf wäre der Schlieffenplan sofort gescheitert. Doch auch als er tatsächlich scheiterte, verloren die Nachrichtentechniker nicht an Bedeutung. Ein stetiger Kommunikationsfluss zwischen der Front und den Generälen in ihren fernen Châteaux konnte feindliche Angriffe vereiteln oder über den Erfolg einer Offensive entscheiden.

Dementsprechend bildete die Kommunikations-Infrastruktur eins der bevorzugten Ziele feindlicher Angriffe. Zu Alberts Aufgaben gehörten sowohl vorbeugende Maßnahmen, wie das Eingraben der Kabel in zwei Metern Tiefe, als auch – wenn alles Vorbeugen nicht geholfen hatte – Reparaturen. Oft bedeutete das, mitten im Artilleriefeuer nach Kabelbrüchen zu suchen und diese selbst unter Scharfschützenbeschuss eiligst zu reparieren. Diese Einsätze waren so gefährlich, dass Albert einen Großteil der Kriegsjahre in Lazaretten verbrachte.

Seine erste Kriegsverletzung erlitt der Pionier Albert Göring in der Ersten Flandernschlacht bei Ypern und wurde am 14. November 1914 in ein Militärkrankenhaus in Dortmund geschickt. Zwei Wochen später wurde er nach Hause überwiesen – nämlich in die inzwischen ebenfalls zum Krankenhaus umfunktionierte Burg Veldenstein. Nachdem er sich in dieser luxuriösen Umgebung hinreichend erholt hatte, ging es wieder zurück an die Westfront, vermutlich in die Region Flandern, irgendwo entlang der Siegfriedstellung. Dort verbrachte Albert die nächsten Monate in Schützengräben, zwischen Ratten und Läusen, die das Schützengrabenfieber übertrugen, einen beißend kalten Winter und ein schlammiges Frühjahr hindurch, immer in Reichweite des drohenden Todes, dem er gegen Ende des Krieges nur knapp entging. Während Ludendorffs verzweifelter Frühjahrsoffensive 1918 verwundete ihn ein Bauchschuss schwer.

Albert, inzwischen Leutnant und Leiter der Bayerischen Divisions-Funker-Abteilung 103, wurde wieder den chaotischen Zuständen der Feldlazaretts überantwortet. Ab dem 27. Juli verbrachte er einige Zeit in einem Krankenhaus in Montigny-en-Ostrevent in der französischen Region Nord-Pas-de-Calais und wurde dann nach Péruwelz im belgischen Hennegau verlegt. Kurz vor der Kapitulation humpelte er mit seiner notdürftig versorgten Bauchwunde, die Entlassungspapiere in der Hand, in seine Heimatstadt München zurück.38

Für uns heute scheint der Erste Weltkrieg so lange her und so unsagbar brutal, dass wir uns die Qualen und Tragödien, die Albert und seine Zeitgenossen erdulden mussten, kaum noch vorstellen können. In meiner Familie gab es als einzige Annäherung die Geschichten meines Urgroßvaters und -onkels, die auf den Stränden Gallipolis oder in Frankreichs Sumpfland ihr Blut für Nation und Reich vergossen. Besonders die Geschichte meines Urgroßonkels Les und sein Porträt haben mir die ferne Geschichte nahegebracht. Dieses Bild steht bis heute im Wohnzimmer meiner Eltern. Es zeigt einen jungenhaften Mann von zwanzig Jahren, der stolz seine neue Uniform präsentiert und erwartungsvoll seinem »Abenteuer« in Somme entgegensieht. Das Porträt stand schon während des Krieges im Haus meiner Familie, während Les auf das Zeichen zum Angriff wartete, während er stürmte, unter Beschuss geriet und von Schrapnellfeuer getroffen zu Boden ging, während er auf ein Schiff nach England verfrachtet und dem sicheren Tod durch seine Bauchwunde überlassen wurde, dem er dann doch wie durch ein Wunder entging. Und das Porträt blieb jahrzehntelang an seinem Platz, bis Les mit achtzig Jahren die Erinnerung nicht mehr ertrug. Noch in derselben Nacht, in der er sein Foto von der Wand nahm, starb er friedlich im Schlaf.

Alberts Kriegsverletzung scheint auf seine Familie nicht so viel Eindruck gemacht zu haben wie Hermanns Heldentaten, doch es war eine Wunde, die unzählige Soldaten aller Kriegsparteien ebenfalls spürten, die durch dieselbe Hölle gegangen waren wie er. Sie konnten verstehen, was es für Albert bedeutete, diesen mörderischen Krieg zu überstehen, der zwei Millionen Menschen das Leben kostete. Wie mein Urgroßonkel Les sollte auch Albert den Schmerz dieses Krieges bis zu seinem Tod nicht vergessen.

 

Der Krieg riss nicht nur körperlich schreckliche Wunden, ob bei Soldaten oder in der Zivilbevölkerung. Er lastete auch schwer auf den Herzen und Seelen der Beteiligten, besonders bei den besiegten Völkern. Als am 28. Juni 1919 jener berüchtigte Friedensschluss unterschrieben wurde, fiel Hermann, der geborene Krieger, Monarchist und Patriot, buchstäblich aus allen Wolken, als sei der Versailler Vertrag eine letzte Salve aus der Flak. Sein Stolz zerschellte in tausend Stücke. Er machte die ganz neue Erfahrung, auf der Seite der Verlierer zu stehen. Sein geliebter Kaiser wurde von zänkischen Demokraten und Industriellen abgelöst. Hermann war kein Held mehr, sondern ein Niemand ohne feste Stellung in der Welt. Er fühlte sich betrogen. Dieses Gefühl prägte seinen gesamten späteren Lebensweg und zog ihn zu dem Mann hin, der alle Antworten auf seine Fragen zu haben schien: Adolf Hitler.

Albert dagegen war sicher erleichtert, dass der Wahnsinn des Krieges vorbei war und er sein ziviles Leben wieder aufnehmen konnte. Für den Einstieg schrieb er sich im Sommer 1919 an der Universität ein, die heute Technische Universität München heißt. Während sein Bruder sich mit den Bolschewiken anlegte und mit den Freikorps einen Putsch vorbereitete, beschäftigte sich Albert acht Semester lang mit Maschinenbau.

Doch selbst der politisch desinteressierte Albert konnte den geistigen Umschwung um sich herum schwerlich übersehen. In seiner Universität war die Polemik gegen die Republik und den Vertrag von Versailles genauso verbreitet wie in den Straßen von Berlin oder Münchens Bierhallen. Heinrich Himmler, Alberts zukünftiger Erzfeind, war zur selben Zeit dort in der Agrarökonomie eingeschrieben und in der Verbindungsszene aktiv, dem damaligen Nährboden der nationalistischen Studentenbewegung. Albert musste also zumindest ahnen, in welche Richtung seine Landsleute, mit seinem Bruder an der Spitze, sich bewegten.

Doch trotz allem beschäftigten ihn diese Themen zunächst nicht übermäßig. Albert investierte den Großteil seiner Zeit und Energie in einen ganz anderen Lebensbereich: die Jagd nach schönen Frauen. Wie sein Vorbild von Epenstein fühlte er sich zunächst zu blaublütigen Damen mit dem adeligen »von« im Namen hingezogen. Am 16. März 1921 heiratete er die 21-jährige Maria von Ammon.

 

»Er kommt gleich«, quäkt Frau Hohensinns Stimme durch das Türtelefon. Drinnen sieht uns ihr Ehemann aus seiner einprägsamen Brille entgegen und führt uns durch einen Flur, der mit Rodelschlitten, Weihnachtsdekoration und einem großen, beunruhigend realistischen Kruzifix vollgestopft ist. Eine kleine Wendeltreppe führt in die Küche, in der es nach frisch gebackenem Lebkuchen duftet, wie es sich in Deutschland und Österreich zu Weihnachten gehört. Hohensinn schiebt eine riesige Nähmaschine beiseite und bittet uns, am Küchentisch Platz zu nehmen.

Nachdem wir eine Weile über unsere zufällige Begegnung und über unseren erfolglosen Besuch auf der Burg geplaudert haben, erzählt uns Hohensinn ein wenig über von Epenstein. Die Restauration der Burg Mauterndorf, sagt er, habe gar nicht allzu lange gedauert. »Warum?«, fragen wir. »Weil er so viel Geld hatte«, kommt Hohensinn gleich auf den Punkt. Von Epenstein, sagt er, war in Mauterndorf wenig bekannt, weil er den Großteil seiner Zeit in Berlin verbrachte. Doch sein Geld genoss im Ort den allerbesten Ruf und sicherte ihm, wie später Hermann Göring, die Bewunderung der Bevölkerung. Er soll zum Beispiel den Bau der Vorschule von Mauterndorf finanziert haben. Ich spreche ihn auf das Gerücht an, von Epenstein sei Albert Görings leiblicher Vater. »Alles Gerüchte«, antwortet Hohensinn, »die niemand überprüfen kann. Wenn Sie mich fragen, ist das bloß Klatsch.« Als er sich ausmalt, wie alte Damen im Tante-Emma-Laden und auf den Kirchenbänken solchen Dorfklatsch weitertratschen, bricht er in herzhaftes Lachen aus.

Dann kommt das Gespräch auf Hermann, und Hohensinn beschreibt volksfesthafte Szenen mit all dem Pomp und Prunk, der Hermann Göring zeitlebens umgab. Immer wenn Mauterndorfs berühmtester Sohn den Ort beehrte, säumten die Bewohner den Weg seiner Autokolonne, und Kinder warfen Blumen in sein Mercedes-Cabriolet. Bei einem dieser Besuche, erzählt Hohensinn, bekam Hermann mehr als nur Blumensträuße.

So wie auch in England, hatte man in Deutschland mit der sogenannten Kinderlandverschickung begonnen. Besonders von Luftangriffen gefährdete Familien konnten im Rahmen dieses Programms ihre Kinder bei anderen Familien auf dem Land unterbringen. Die Hohensinns hatten ein junges Mädchen aus dem Rheinland bei sich aufgenommen. Dieses Mädchen war, um es vorsichtig auszudrücken, ziemlich eigensinnig. Hohensinn zeigt auf seinen Balkon und erzählt, wie das Mädchen und seine ältere Schwester sich dort versteckten und Wasser – oder was immer ihnen gerade in die Hände fiel – auf ahnungslose Passanten hinunterregnen ließen. Bei einer dieser Gelegenheiten kam Hermann Göring mit seiner Entourage unter dem Balkon vorbei, und die Mädchen nahmen seinen Mercedes mit Wasser unter Beschuss. Hohensinn reißt noch bei der Erinnerung ungläubig, fast entsetzt die Augen auf.

Sofort schwärmten Görings Offiziere aus, durchsuchten das Haus und fanden heraus, dass es sich bei den Angreifern um zwei junge Mädchen handelte. Sobald feststand, dass es nur Kinder aus einem ehrbaren Haushalt waren, der dem gefährdeten Nachwuchs des Reichs Obdach gewährte, konnte auch Hermann über den Vorfall lachen, schließlich hatte er in seiner Jugend selbst gern Streiche gespielt. Auch Hohensinn entspannt sich beim Erzählen wieder und beginnt zu lachen. Doch dann wird er schlagartig ernst, nimmt die Hände vom Tisch, als wollte er uns bedeuten, näher heranzurücken, und fügt mit gesenkter Stimme hinzu, die örtlichen Parteimitglieder hätten die Episode mit weniger Humor genommen und sie der Familie Hohensinn nie verziehen. Diese Parteimitglieder hätten übrigens nie Kinder aus den zerbombten Städten des Reichs bei sich aufgenommen.

Hohensinn ist ein begnadeter Erzähler. Er sprudelt über vor Anekdoten und malt seine Erinnerungen theatralisch aus. Mal hebt er die Hände, um die Dramatik eines Ereignisses zu betonen, mal legt er sie vor sich auf den Tisch, wenn er Ernsteres zu sagen hat. Er weiß genau, wann er eine Kunstpause einlegen oder langsamer werden muss, um die Pointe einzuleiten. Innerhalb weniger Sätze wechselt seine gesamte Haltung von Glück und Freude zu Trauer und Verzweiflung. Das ist allen Interviews gemeinsam, die ich mit Überlebenden des Krieges geführt habe: Menschen, die derart harte Zeiten durchgemacht haben, schwanken offenbar leicht zwischen emotionalen Höhen und Tiefen, und ich mache jeden Anstieg und jeden Absturz dieser psychischen Achterbahnfahrt mit.

Wieder zieht Hohensinn die Hände vom Tisch, und das Gespräch nimmt eine ernstere, unerwartete Wendung. »Mein Vater wurde ins KZ gesteckt, weil er nicht in die Partei eintreten wollte … Das war damals schon ein Grund. Das war Führerbeleidigung. Mein Vater war gegen die Nazis, und er war vielleicht nicht der Schlaueste. Er hatte keine Ahnung, wie brutal das Regime sein konnte. Das wusste man nicht so genau«, erklärt Hohensinn, »und die Gestapo kam ja immer nachts. Davon haben Sie vielleicht schon gehört. Sie warfen einen Stein ans Fenster, und dann musste man nachsehen, was los ist, und so haben sie auch meinen Vater mitgenommen.«

Sein Vater wurde in das Konzentrationslager Dachau gebracht und lernte dort Dr. Gorbach kennen, der später österreichischer Bundeskanzler und ein enger Freund der Familie werden sollte. Während er die harte Zwangsarbeit erdulden musste, wusste seine verängstigte Familie nicht einmal, wo er war. Doch Hohensinns waren gut mit der Familie Rigele befreundet, und die Dame des Hauses war Olga Rigele, geborene Göring, Alberts und Hermanns ältere Schwester. Frau Hohensinn wandte sich hilfesuchend an die Rigeles, und einige Monate später wurde ihr Mann wundersamerweise entlassen. In den Jahren darauf erwähnte Vater Hohensinn seine Erlebnisse in Dachau mit keinem Wort, teils weil er traumatisiert war, aber teils auch aus Angst. Am Lagertor hatten seine Bewacher ihm eingeschärft: »Wenn du nur ein Wort von dem erzählst, was du hier erlebt hast, sehen wir uns wieder!« Erst lange nach dem Krieg begann er über seine Erlebnisse im KZ zu sprechen.

»Und Albert, also dieser Albert«, fährt Hohensinn aufgeregt fort. »Ich habe erst bei diesem Interview damals gehört, dass mein Vater auf Alberts Liste stand.« Mit »diesem Interview« meint er den Dokumentarfilm über Albert Göring, in dem ich Hohensinn gesehen habe, und Alberts Liste ist die Liste der Geretteten. Ich bin ebenso überrascht wie Hohensinn – in der Dokumentation wurde nicht erwähnt, dass sein Vater auf der Liste stand und Albert sich für ihn eingesetzt hatte.

»Frau Rigele muss wohl Albert angerufen haben, der dann mit Hermanns Hilfe eingegriffen hat«, erklärt Herbert Hohensinn. »Hermann hatte für seine Familie immer ein offenes Ohr.« Frau Hohensinn hätte demnach Olga Rigele von der Verhaftung ihres Mannes erzählt, die daraufhin Albert in Bukarest kontaktierte, wo er für Škoda arbeitete. Und Albert hatte, entweder selbst oder mit Hermanns Hilfe, dafür gesorgt, dass Hohensinns Vater freigelassen wurde.

Hohensinn vermutet auch, dass Albert beim Verfassen seiner Liste wusste, dass sein Vater sich für ihn einsetzen würde. Denn die Männer hatten etwas Entscheidendes gemeinsam: Sie wurden beide von der Gestapo terrorisiert. Genau wie Albert wurde auch Hohensinns Vater mehrmals von der Gestapo verhaftet. Die örtlichen Schnüffler ertrugen es nicht, dass er nach seiner Freilassung aus Dachau wieder zum einflussreichen Geschäftsmann und Regimegegner wurde.

Einmal, als Hohensinns Vater gerade aus einem Gestapo-Gefängnis in Salzburg entlassen worden war, besuchte Hermann Göring die Familie. Er, der allmächtige Reichsmarschall, wollte von dem einfachen Geschäftsmann wissen, wie es in Dachau aussah. Vertrauensvoll erzählte Hohensinns Vater ihm, was er dort erlebt hatte. »Göring war doch tatsächlich schockiert!«, erinnert sich Hohensinn. »Es war nun mal nicht sein Gebiet. Man muss ja bedenken, dass diese Leute, Göring und andere, vollauf mit dem Krieg beschäftigt waren. Sie hatten andere Sorgen: die Front. Und dann gab es die Kriminellen, die für solche Angelegenheiten verantwortlich waren, Himmler und so. Die Lagerkommandanten, das waren die größten Verbrecher.« So weit Hohensinns Worte.

 

Im Auto, auf dem Weg nach Freiburg, gehen mir immer noch Hohensinns letzte Worte im Kopf herum. Hermann Göring, der selbst das Konzept des Konzentrationslagers nach Deutschland gebracht hat, soll schockiert darüber gewesen sein, was in Dachau geschah?

Die ersten deutschen Konzentrationslager etablierte Hermann Göring 1933 als Leiter der preußischen Polizei und der neugegründeten Gestapo. Er schuf damit Platz für die Tausenden politischen Gegner, die nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 inhaftiert wurden – man hatte die Schuld den Kommunisten zugeschoben, den stärksten Konkurrenten der Nationalsozialisten. Von da an entwickelten sich die Lager zu einem entscheidenden, brutalen Machtinstrument zur Eliminierung von Dissidenten – und von allen, die nicht in die Doktrin des Regimes passten. Hermann, der Experte für die Burenkriege, schaute sich das Konzept von einer britischen Institution ab, die Leo Kitchener während des zweiten Burenkriegs geschaffen hatte.

Ich frage mich, was an Hohensinns Geschichte dran sein könnte, so unwahrscheinlich sie auch schien. Hermann Göring hatte tatsächlich ausgesprochen viel zu tun: Er war Reichsmarschall, Reichstagspräsident, Oberkommandierender der Luftwaffe, Beauftragter für den Vierjahresplan, Geschäftsführer der Reichswerke Hermann Göring AG und, nicht zuletzt, Reichsforstmeister und Reichsjägermeister. Die Leitung der Gestapo, und damit auch die Aufsicht über die Konzentrationslager, hatte er 1934 an Heinrich Himmler abgegeben.

Dazu kommt, dass das nationalsozialistische Regime von Geheimhaltung und parteiinternen Konflikten geprägt und von paranoiden Herrschern bevölkert war, die ihren Einflussbereich vehement gegen jegliche Einmischung verteidigten. Himmler und Göring waren in einen permanenten, gnadenlosen Machtkampf verwickelt. Sie tauschten nie mehr als die nötigen Höflichkeitsfloskeln aus; alles andere hätte der jeweilige Gegner als Munition nutzen können. Daher wird Himmler Göring kaum mit Informationen zu seiner SS versorgt haben, ebenso wie Hermann ihm keine Details zum neuesten Stand der Luftwaffe oder der Wirtschaft anvertraute.

Dennoch ist es höchst unwahrscheinlich, dass der einflussreiche, taktisch versierte Hermann seine Informationen nicht aus anderen Quellen bezog. Da ihm mit dem Forschungsamt eine eigene Abhörstation zur Verfügung stand, wird er über Himmlers Aktivitäten auf dem Laufenden gewesen sein. Sein eigener Bruder, Albert, sprach ihn ebenfalls mehrfach auf die Konzentrationslager an. Und Albert wiederum brauchte weder offizielle Quellen noch Abhöranlagen, um zu begreifen, was vor sich ging.

 

1923 war für die Familie Göring ein bedeutendes Jahr: Sie hatte innerhalb von zwölf Monaten zwei Hochzeiten, eine Abschlussfeier, ein Begräbnis, eine Scheidung, einen missglückten Staatsstreich und eine Flucht ins Exil zu verzeichnen. Die erste Heirat fand am 3. Februar zwischen Hermann und seiner schwedischen Geliebten Carin Freifrau von Kantzow statt.

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war von großen politischen und sozialen Unruhen geprägt. Die Straßen waren voll von frustrierten ehemaligen Kriegshelden wie Hermann Göring. In diesem Klima allgemeinen Aufruhrs wurde selbst er, der Krieger, der bisher für die Winkelzüge der Politik nichts als Verachtung übriggehabt hatte, zum politischen Menschen. Er schloss sich in Berlin den Freikorps an, paramilitärischen Einheiten, die sich nach Kriegsende formiert hatten, und begann seine Ansichten zu verbreiten. Obwohl er ein guter Redner war, sollte aus einer politischen Karriere zunächst nichts werden. Seine Ambitionen verläpperten zusammen mit dem schlecht organisierten Kapp-Putsch im Frühjahr 1920.

Ohne eine große Sache, für die es sich zu kämpfen lohnte, ohne Kaiser und Reichsarmee, verlor Hermann Göring jeglichen Halt. Doch das Schicksal streckte eine Hand aus, um ihn wieder auf vertrautes Terrain zurückzuführen: in das Cockpit eines Flugzeugs. Der niederländische Flugzeughersteller Anton Herman Gerard »Anthony« Fokker suchte händeringend nach Piloten von Format, die das Beste aus seinen Konstruktionen herausholen und die Kundschaft auf dem wachsenden skandinavischen Markt beeindrucken konnten. Doch schon bald gab Hermann seinen Beraterposten bei Fokker wieder auf und gab sich ganz seiner Leidenschaft hin. Er heuerte vier alte Kameraden aus der Richthofen-Schwadron an und begeisterte ganz Skandinavien mit den todesverachtenden Flugmanövern, für die sie schon im Krieg so berühmt gewesen waren. Endlich wurde er wieder bewundert, und sein Bild war wieder auf den Titelseiten der Zeitungen zu sehen.39 Görings Stolz war wiederhergestellt.

Bald nahte der skandinavische Winter, und Hermann brauchte ein festes Einkommen. Er heuerte bei der schwedischen Fluglinie Svenska Lufttrafik in Stockholm an und übernahm Charterflüge für die Reichen und Schönen. Eines stürmischen Winterabends musste er in dem Schloss eines seiner Fluggäste, Graf Eric von Rosen, übernachten. Dort, in von Rosens mittelalterlichem Anwesen Rockelstad Slott, das Göring an die Burgen seiner Kindheit erinnerte, traf Hermann Göring auf Carin von Kantzow.40 Obwohl sie längst in festen Händen und die Mutter eines siebenjährigen Sohnes war, war sie ebenso hingerissen wie der Pilot. Im Dezember 1922 ließ sie sich von ihrem ersten Ehemann Nils von Kantzow scheiden und machte sich auf den Weg nach Süden, um in München mit ihrem neuen Helden den Bund fürs Leben einzugehen.

Albert, der bereits seit drei Semestern als Assistent am Lehrstuhl von Professor Krell Forschung über Kräne und Aufzüge betrieb, bestand im Jahr 1923 seine Abschlussprüfung in Maschinenbau mit der Note »Sehr gut«.41 Damit konnte er München, die Brutstätte des Nationalsozialismus, hinter sich lassen, um eine Doktorandenstelle bei der I.G. Farben in Wolfen anzutreten.42 Es war dasselbe Unternehmen, das später Zyklon B für die Gaskammern der Konzentrationslager herstellen würde. Doch als Albert dort arbeitete, wurden hier noch Teerfarben und Färbeprodukte produziert.

Auf zwei freudige Ereignisse folgte ein tragisches, als die 64-jährige Fanny Göring am 15. Juli 1923 an einer Lungenentzündung starb. Wieder standen die Brüder, älter geworden und durch die Jahre des Krieges verhärmt, nebeneinander am Familiengrab. Doch diesmal fielen sie sich nicht in die Arme. Ihre politische und ideologische Entfremdung hatte begonnen. Albert wusste um die Ansichten seines Bruders, um seine Verbindung zu jenem Österreicher mit dem schmalen Schnurrbart und seine Mitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Partei. Einige Jahre später, in Österreich, sagte er zu seinem Freund Albert Benbassat: »Ach, ich habe in Deutschland einen Bruder, der sich mit diesem Mistkerl Hitler eingelassen hat, und mit dem wird es noch böse enden, wenn er so weitermacht.«43 Dieser Konflikt sorgte in den folgenden zwölf Jahren für Funkstille zwischen den beiden Brüdern. Hermann Göring erklärte dazu: »Wegen seiner Einstellung zur Partei haben wir zwölf Jahre lang kein Wort gewechselt. Keiner war böse auf den anderen. Es war eine situationsbedingte Trennung.«44

Nicht lange darauf folgte nach nur zwei Jahren Ehe die Scheidung Alberts von Maria von Ammon. Hinter dieser frühzeitigen Trennung steckte eine weitere Dame mit einem »von« im Namen, die jedoch, ganz anders als die junge Maria, mit ihren siebenunddreißig Lenzen neun Jahre älter war als Albert Göring. Gleich nach der Scheidung, am 10. September 1923, gab er Erna von Miltner das Jawort. So schnell, wie die Heirat auf die Scheidung folgte, darf man wohl davon ausgehen, dass die Beziehung zu Erna begann, bevor die Ehe mit Maria beendet war. Und das war nur der Anfang von Alberts zahlreichen, zuweilen skandalösen Frauengeschichten.

Hermann Göring schwor unterdessen in einer Münchner Bierhalle Hitler und dem Nationalsozialismus ewige Treue. Jetzt, da er mit seiner Braut in München lebte, tummelte er sich wieder in der politischen Szene. Dem amerikanischen Psychiater Leon Goldensohn gegenüber beschrieb Hermann seine erste Begegnung mit Hitler später mit den Worten: »Ich war gegen den Versailler Vertrag, und ich war gegen den demokratischen Staat, der darin versagt hatte, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen, und der Deutschland nicht zu einer mächtigen Nation, sondern zu einem kleinen, unbedeutenden Staat gemacht hatte. […] Ich lernte Hitler 1922 bei einer Versammlung kennen und war zunächst nicht besonders beeindruckt von ihm. Bei dieser ersten Begegnung sprach er sehr wenig, genau wie ich. Ein paar Tage später hörte ich Hitler bei einer Rede in einem Münchener Bierlokal, wo er von einem größeren Deutschland sprach, von der Annullierung des Versailler Vertrags, von der Aufrüstung Deutschlands und von der zukünftigen Herrlichkeit des deutschen Volkes. Deshalb schloss ich mich ihm an und wurde Mitglied der Nationalsozialistischen Partei.«45

Hitler und die Nationalsozialisten hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine allzu große Gefolgschaft und wurden von den großen gesellschaftlichen Autoritäten nicht ernst genommen: vom Militär, den großen Industriellen und etablierten Parteien. Hitler brauchte ein bekanntes Gesicht, einen achtbaren Namen, den jeder kannte, den auch die gesellschaftliche Elite respektierte. Er brauchte einen Namen, der ihm den Weg in den Reichstag ebnete. Hermann Göring war genau das, was er suchte. Und Göring wiederum sah in ihm einen Mann voller Enthusiasmus und Charisma, einen Mann, der ohne Scheu seine Meinung sagte und dem er es zutraute, den erhofften gesellschaftlichen Wandel einzuleiten. In Hitler entdeckte Göring den ersehnten Führer.

So begann im Jahr 1922 die berühmt-berüchtigte Liebesaffäre der beiden Männer, und wie in jedem klassischen Drama musste auch hier die keimende Zuneigung eine Belastungsprobe überstehen. Zu dieser Probe kam es an einem Freitagnachmittag, dem 9. November 1923, auf dem Münchener Odeonsplatz vor der Feldherrenhalle. Zwei Schusswunden in die Leiste und die Hüfte belegten Hermanns Treue. Die Kugeln wurden von Beamten der bayerischen Landespolizei abgefeuert, die man herbeigerufen hatte, um den später sogenannten Hitlerputsch zu zerschlagen – Hitlers ersten Versuch, der Weimarer Regierung ihre Macht abzuringen. Mit diesem Tag begannen für Hermann Göring vier sehr lange, dunkle Jahre. Er entging zunächst der Verhaftung, wurde jedoch polizeilich gesucht und begab sich schwerverletzt auf die Flucht nach Österreich, Italien und schließlich nach Schweden. Es war eine Flucht aus seinem Vaterland und aus der Realität. Die ständigen körperlichen und seelischen Schmerzen trieben ihn in die Morphinabhängigkeit und führten zu Stimmungsschwankungen zwischen Apathie und unkontrollierten Wutausbrüchen. Letztere brachten ihm Aufenthalte in verschiedenen schwedischen Nervenkliniken ein. Nur die Loyalität seiner Frau Carin trug ihn über diese Phase seines Lebens hinweg.

Albert Göring ging es unterdessen sehr gut. Er lebte mit seiner zweiten Frau in Dessau und trat dort 1925 eine Stelle in Professor Hugo Junkers’ Kaloriferwerk an. Junkers war vor allem für seine Erfolge in der Luftfahrtindustrie bekannt, doch den Großteil der Betriebseinnahmen generierte die Herstellung von Boilern und Heizungssystemen. In diesem Bereich arbeitete auch Albert. Schon 1928 wurde er zum Verkaufsrepräsentanten für Österreich, Ungarn und die südliche Tschechoslowakei befördert.46 Das ermöglichte ihm den Umzug nach Wien und, was wichtiger war, den Wegzug aus dem Zugriffsbereich von Hermann Görings SA und ihrer hasserfüllten Propaganda.

In seiner neuen Stellung war Albert in seinem Element. Er bereiste ständig Budapest und Prag und lud seine Kunden in die schönsten Wiener Kaffeehäuser und Restaurants ein. »Nach seinen eigenen Erzählungen hat er sich in dem Dreieck zwischen Wien, Prag und Budapest immer am wohlsten gefühlt – damals war das das eigentliche Zentrum Europas«, erinnert sich Edda Göring, Hermann Görings einzige Tochter, Alberts Nichte. »Dort arbeitete er. Dort hatte er die meisten Freunde. Das war seine Welt. Er passte dort sehr gut hin, so elegant, charmant, intelligent und humorvoll, wie er war.«47

 

In der halbseidenen Welt der Cabarets, der stilvollen Grandezza osteuropäischer Kaffeehäuser und Klubs trat Albert aus dem Schatten seines großen Bruders hervor. Er entwickelte sich zu einer facettenreichen Gestalt: Halb heimlicher Held, halb rücksichtsloser Hedonist und Herzensbrecher. An dieser Stelle meiner Nachforschungen bekomme ich zum ersten Mal das Gefühl, nicht einem Stapel alter Fotos und Notizen gegenüberzusitzen, sondern einer Persönlichkeit, nach der ich fast die Hand ausstrecken könnte. In den unheilschwangeren dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts betritt der wahre, erwachsene Albert Göring die Bühne der Geschichte.