12. Der zufriedene Paria

Salzburg, Sommer 1947. Viele führende NS-Politiker sind in Nürnberg hingerichtet worden. Die Nachfolgeprozesse haben begonnen. Polen hat einen frischen roten Anstrich bekommen. Präsident Truman arbeitet fieberhaft an einem Farbverdünner, um die rote Gefahr zu bannen. Und Albert ist endlich wieder mit seiner Familie vereint. Aus dem Baby, das er vor seiner Verhaftung nur flüchtig gesehen hat, ist ein lebhaftes zweieinhalbjähriges Töchterchen geworden. Seine Frau ist schöner denn je. Österreich ist schwer vom Krieg gezeichnet, doch Albert und seine Familie leben endlich in Ruhe und Frieden.

In der ersten Zeit nach seiner Heimkehr hat Albert zahlreiche alte Freunde wiedergetroffen. Einige kamen, um sich bei ihrem Retter zu bedanken, unter ihnen Franz Lehár, der dank Alberts Hilfe noch einige seiner Kompositionen mit seiner geliebten Frau teilen konnte, bevor sie im September 1947 starb. Zum Dank widmete Lehár Albert eine seiner Aufführungen und bot sich als Pate für seine Tochter an.

Um eine neue Existenz aufzubauen, begab Albert sich als Nächstes auf Stellensuche. Einem Mann mit seiner Erfahrung und seinen Verdiensten sollte es nicht schwerfallen, in einer von Österreichs renommiertesten Firmen unterzukommen. Doch das Land hatte sich verändert. Und Albert Göring war aus Sicht der Österreicher eine personifizierte Erinnerung an die schmerzhafte Vergangenheit. Seine beruflichen Qualifikationen und guten Taten änderten nichts daran, dass er den Nachnamen jenes Mannes trug, der für ihre Demütigung und Verzweiflung verantwortlich war.

Also endete jedes Vorstellungsgespräch mit der Ausrede, man habe keine freien Stellen mehr, oder mit der ehrlichen Sorge, sein Familienname könnte den Betrieb in Verruf bringen. Trotz seiner Ausbildung, trotz seiner dreißigjährigen Berufserfahrung war Albert Görings Mithilfe beim Wiederaufbau Europas nicht erwünscht. »Nach dem Krieg änderte sich ihr Leben dramatisch. Alles, was sie hatten, wurde von der Regierung oder den Alliierten konfisziert. Und damit begannen die harten Zeiten«, erinnert sich Alberts Tochter Elizabeth Goering in einem Interview.239 Derselbe Name, der noch vor kurzem die hartgesottensten SA-Schläger in die Flucht getrieben hatte, der Hunderten Verfolgten das Leben rettete, der es Albert ermöglichte, den Willen des Regimes zu unterlaufen, dieser Name sollte ausgerechnet jetzt, da die Welt von Hermann Göring und seinen Gefolgsleuten befreit war, Albert Göring ins Unglück stürzen.

Trotz allem weigerte sich Albert stur, seinen Namen zu ändern, sei es aus noch immer ungebrochenem Stolz auf seine Herkunft oder aus der naiven Vorstellung heraus, man werde ihn letztlich aufgrund seiner Taten beurteilen. Diese Zuversicht hielt ihn eine Weile aufrecht, doch mit jeder Absage schwand sein Selbstbewusstsein. Bald erlebte er wieder dasselbe Gefühl der Hilflosigkeit wie während der Zeit seiner Haft, nur noch stärker. Er begann sein makelloses Äußeres zu vernachlässigen und gab seine preußisch aufrechte Körperhaltung auf. Sein charismatisches Lächeln wich einem verbitterten, mutlosen Ausdruck und schließlich einem sarkastischen Grinsen. Wie sein Vater, der sich in demselben Alter in einer ähnlichen Lage befunden hatte, begann er zu trinken. »Ich weiß noch, dass er zu der Zeit irgendwie wütend wirkte. Wahrscheinlich hatte er seine Gründe dafür … Er fühlte sich unfair behandelt, weil er ein sehr guter Ingenieur war«, mutmaßt Jacques Benbassat, dessen Familie zu der Zeit mit Albert engen Kontakt hielt.240

Alkohol und Verzweiflung beschleunigten Alberts Niedergang. Er begann fremdzugehen. Er wurde erwischt. Mila Göring reagierte prompt, indem sie sich 1948 von ihm trennte und 1951 mit ihrer Tochter und ihrer Mutter im peruanischen Lima ein neues Leben begann. »Sie war sehr, sehr enttäuscht«, erklärt Elizabeth Goering. »Sie hatte ihm ihr ganzes Leben zu Füßen gelegt, ihre Illusionen, alles. Und dann muss sie auf einmal feststellen, dass sie nicht die Einzige ist.«241

Es war nicht das erste Mal, dass Albert Göring sich auf diese Weise schuldig machte. Seine überstürzte Scheidung von der ersten Ehefrau, Maria von Ammon, und die Abschiebung der zweiten, Erna von Miltner, in ein Sanatorium scheinen demselben Muster zu folgen. Man mag kaum glauben, dass dies derselbe Mensch war, der im Namen der Menschlichkeit sein Leben aufs Spiel setzte. Ganz im Gegensatz dazu hatte sein Bruder Hermann, die Unmenschlichkeit in Person, immer zu seiner Familie gehalten.

Auf der Suche nach einer Erklärung für diesen verblüffenden Charakterdefekt fragte ich Jacques Benbassat, warum Albert seiner Meinung nach nie zu Mila zurückkehrte, und er sagte: »Keine Ahnung, aber er fühlte sich durch seine Frau sehr, sehr verletzt. Was auch immer er getan hatte – was zu der Trennung geführt hatte … er fand, so weit hätte sie nicht gehen dürfen. Nach seinen mitteleuropäischen moralischen Standards, wissen Sie.«242 Vielleicht hatte Albert sich inzwischen in eine Opferrolle hineingesteigert. Vielleicht hatte er das Gefühl, seine Frau hätte ihn im Stich gelassen, als er sie am dringendsten brauchte, oder dass ein kleines Liebesabenteuer ihr nicht das Recht gab, mitsamt seiner Tochter auf die andere Seite der Welt zu verschwinden. Vielleicht fand er vor dem Hintergrund seiner Zeit, sein Verhalten sei durchaus nicht ungewöhnlich. Schließlich lebte er in einer anderen Ära; von Ehefrauen wurde erwartet, dass sie ihren Männern einige Abenteuer durchgehen ließen. Eine Geliebte zu haben gehörte fast zum guten Ton. Albert selbst könnte seine Existenz solch einem Arrangement zu verdanken haben.

Doch selbst wenn man versuchen kann, sich Alberts Verhalten seinen Ehefrauen gegenüber historisch zu erklären, versteht man noch nicht, wie er mit seiner Tochter Elizabeth umging. Nach dem Bruch mit Mila nahm er nie wieder Kontakt zu ihr auf.

Als ich Elizabeth interviewte, bat ich sie behutsam um ihre Sicht zu diesem Thema. Ich hatte sie als erfolgreiche Geschäftsfrau von Ende sechzig kennengelernt, als Mutter zweier begabter Söhne, die in Lima mit beiden Beinen im Leben stand und mit ihrer vaterlosen Kindheit offenbar abgeschlossen hatte. Doch ihre schwankende Stimme und ihr nervöses Lachen verrieten einen heimlichen Schmerz, der bis heute auf ihr lastet. »Nein, wütend war ich nicht; ich war gar nichts. Wissen Sie … einen Vater zu haben, der nie antwortet …«, begann Elizabeth. »Meine Mutter drängte mich dazu, ihm zu schreiben, bis ich ungefähr zehn war. Sie sagte immer: ›Dein Vater hat bald Geburtstag, also musst du ihm etwas schreiben, du musst ihm Bilder malen.‹ Das musste ich also für meinen Vater tun, jedes Jahr wieder. Und dann noch für Weihnachten, für ich weiß nicht was, für Ostern und alles Mögliche … Sie schickte also die Briefe weg, aber er antwortete nicht, wissen Sie, er hat nie, nie geantwortet … Warum hätte ich also weiter an jemanden schreiben sollen, der mich nicht wollte – denn das war mir vollkommen klar: Er wollte mich nicht! … Ich sagte also zu meiner Mutter: ›Dann tu es selbst. Hör auf, mich vorzuschieben.‹«243

Trotz all des Leids, das Albert Göring ihr zugefügt hatte, schien Elizabeths Mutter Mila ihn noch immer zu respektieren, vielleicht sogar zu lieben. »Eins muss ich noch sagen«, fügte Elizabeth hinzu. »Ich weiß nicht, was zwischen den beiden vorgefallen ist und wann meine Mutter die Scheidung eingereicht hat und so weiter, aber sie [meine Mutter und meine Großmutter] haben nie ein böses Wort über ihn verloren; sie haben immer nur Gutes über ihn erzählt.«244 Elizabeth betonte auch, dass Albert der einzige Deutsche war, den ihre tschechische Großmutter respektierte. Dieser Respekt blieb immer bestehen, trotz der Scheidung, der Zerwürfnisse und der räumlichen Distanz.

 

Albert blieb allein und noch immer arbeitslos zurück und wusste nicht wohin, bis ihn Brunhilde Seiwaldstätter, seine ehemalige Haushälterin, bei sich aufnahm. Sie war eine Kriegswitwe, keine Schönheitskönigin wie Mila, doch sie besaß die Haupteigenschaften, die Albert an Frauen gefielen: Sie war weit jünger und weit rundlicher als er. Jahre später sollte er mit ihr seine vierte und letzte Ehe eingehen.

Damit hatte Albert Göring wieder ein Dach über dem Kopf und die Nähe einer Frau, doch seine Ruhe ließ man ihm nicht. »Die Amerikaner kamen, hämmerten an die Tür und riefen: ›Wo ist Göring?‹«, erinnert sich Brunhilde Löhner-Fischer, die Tochter von Brunhilde Seiwaldstätter aus erster Ehe. »Die Wohnung lief auf den Namen meiner Mutter, und sie stellte sich sofort in die Tür und sagte: ›Hier gibt es keinen Göring. Mein Name ist Seiwaldstätter. Göring wohnt hier nicht.‹ Und er versteckte sich im Schlafzimmer zitternd unter dem Bett. Sie wollten ihn mitnehmen. So war es damals.«245

Der einstige Millionär und Philanthrop war inzwischen restlos pleite, hatte für seine neue Frau und ihre Tochter zu sorgen und keine Aussicht auf ein festes Auskommen, kurz, er war jetzt selbst dringend auf Hilfe angewiesen. Glücklicherweise gab es durchaus Menschen, die mit seinem Namen Positives verbanden. »Er hat natürlich schon Hilfe bekommen, von denen, die er aus dem Lager geholt hat, und den Juden, denen er geholfen hat. Wir bekamen Essenspakete, und er bekam ein wenig Unterstützung, könnte man sagen. Sonst hätte er gar nicht überleben können«, erinnert sich Brunhilde Löhner-Fischer.246

Zu Alberts Unterstützern gehörte auch die Familie Benbassat. Die Benbassats luden Albert Göring mehrmals in die österreichischen Alpen ein, um dort gemeinsam Skiurlaub zu machen oder nur seine Gesellschaft zu genießen. Besonders ihr Sohn Jacques verbrachte viel Zeit mit ihm. Im Interview vertraute er mir an: »Richtig kennengelernt habe ich Albert in Bad Gastein und Innsbruck, wo ich mit meinen Eltern immer die Ferien verbrachte. Mein Vater lud Albert jedes Mal ein, uns in die Ferien zu begleiten, und dann waren wir fast die ganze Zeit zusammen. Ich begann ihn persönlich zu mögen, und er schien ebenfalls trotz meines Alters meine Gesellschaft zu genießen.« Sosehr die Erwachsenenwelt Albert auch zusetzte, brachte er es doch fertig, seine Sorgen zeitweise zu vergessen und sich mit einem Jugendlichen prächtig zu unterhalten. »Wir saßen immer in der gemütlichen Hotellobby und tranken Kaffee, nur Albert und ich, und ich muss zugeben, dass ich mich damals für die Weltgeschichte viel weniger interessierte als für die Damen, die dort ein und aus gingen. Glücklicherweise hatte Albert daran ein genauso lebhaftes Interesse, auch wenn unsere Geschmäcker sehr unterschiedlich waren. Er mochte immer die wohlgenährten Frauen am liebsten und überraschte mich einmal mit dem Satz: ›Eine Frau kann gar nicht dick genug sein.‹«247

Wenn Europa keinen Platz für einen wie Albert Göring hatte, vielleicht konnte er sich dann in Südamerika eine neue Existenz aufbauen. Südamerika war bekannt dafür, altgedienten Nationalsozialisten Asyl zu gewähren, warum also nicht auch dem Bruder eines solchen? So oder ähnlich mag es sich Albert überlegt haben, als er zu Beginn der fünfziger Jahre nach Argentinien reiste.

Alberts Reisepläne sprachen sich über eine seiner Schwestern rasch zu seiner Exfrau Mila herum, die bei der Aussicht, er könnte auch nach Lima kommen, in helle Aufregung geriet. »Wir dachten also, er würde auch zu uns nach Lima kommen, und ich freute mich so sehr darauf, endlich meinen Vater kennenzulernen«, erzählte mir Elizabeth Goering am Telefon und brach in ein resigniertes Lachen aus. »Aber er kam nicht. Er kam nicht. Er hat sich überhaupt nicht gemeldet.«248

Stattdessen blieb Albert Göring in Buenos Aires und traf sich dort mit seinem alten Freund Jan Moravek und mit ehemaligen Geschäftspartnern. Er hoffte darauf, mit ihrer Hilfe eine Anstellung zu finden und ein neues Leben beginnen zu können. Es ist nicht dokumentiert, inwieweit er diese Pläne realisieren konnte, sicher ist nur, dass er schon kurz darauf die lange Heimreise nach Europa antrat, in seine noch immer ungewisse Zukunft.

Eine Weile schien es so, als habe sich der Entschluss zur Heimkehr gelohnt. 1955 konnte Albert endlich eine Stelle als Ingenieur in einer Baufirma ergattern. Sofort zog er mit Brunhilde und ihrer Tochter nach München, um endlich zu tun, wonach er sich seit zehn Jahren sehnte: seinen Beitrag zum Wiederaufbau zu leisten. Endlich hatte er wieder eine Aufgabe. Endlich fiel es wieder jemandem auf, wenn er krank zu Hause bleiben musste oder zu spät kam. Endlich bekam er sein Selbstwertgefühl zurück. Bis jemand sich die Mühe machte, sein Namensschildchen zu lesen.

Vom Wirtschaftswunder wie berauscht, hatte Deutschland längst alles darangesetzt, die finstere Vergangenheit hinter sich zu lassen. Alles drehte sich nur um das Hier und Jetzt. Für einen Blick zurück nahm sich niemand die Zeit; das konnte warten. Ganz Deutschland litt an post-traumatischem Stress und befand sich in einer Verleugnungsphase. Jemanden wie Albert, der ihnen die Laune verdarb, indem er sie an ihre Schuld erinnerte, konnten sie nicht gebrauchen. Sobald die Angestellten der Baufirma also herausgefunden hatten, wer ihr neuer Kollege war, protestierten sie. »Die Firma hatte damals vierhundert Mitarbeiter«, erzählt Brunhilde Löhner-Fischer, »und als die herausfanden, dass er Hermanns Bruder war, wurde ihm gekündigt. Der Chef des Unternehmens bestellte ihn in sein Büro und sagte: ›Es tut mir leid, aber sie haben alle gesagt: Entweder er oder wir.‹ Und weil er allein war, musste er eben gehen.«249

Solche Widerstände waren für Albert nichts Neues. In seinen besseren Zeiten hätte er ein wenig seinen Charme spielen lassen, hier und da mit einer witzigen Bemerkung die Stimmung aufgehellt und schließlich noch die verbohrtesten Gegner auf seine Seite gebracht. Mit anderen Worten: Dem früheren Albert Göring wäre so etwas nicht passiert. Doch von diesem früheren, charismatischen Göring war nur noch die leere Hülle geblieben, ein apathischer, abgekämpfter alter Mann. Brunhilde Löhner-Fischer erinnert sich: »Der Mann war verbittert. Er war mit seinem Leben unzufrieden. Er war in Aufruhr. Das kam vom Krieg. Vielleicht hat er das, was er vorher hatte, damit verglichen, wie es ihm jetzt ging, wie er um Übersetzungsaufträge betteln musste, um ein paar Groschen zusammenkratzen zu können. Dass jemand wie er so tief sinken konnte, gibt einem schon zu denken.«250

In den frühen sechziger Jahren erlebte die junge Christine Schöffel, die Tochter von Ernst Neubach, wie sich an Albert Göring eine Wandlung vollzog – auch wenn sie es damals nicht wissen konnte. Um diese Zeit, so scheint es, fügte er sich allmählich in sein Schicksal, und seine Verbitterung ließ nach. Er legte das Selbstmitleid und die Rolle des Ausgestoßenen ab und begann das Leben zu genießen, wie es war, nicht, wie es hätte sein sollen. Er genoss seine Spaziergänge im Englischen Garten, den frisch aufgebrühten Kaffee am Morgen, seine Ruhe und seinen Frieden. Albert gab sich mit seinem Leben mit Brunhilde in einer bescheidenen Münchener Vorortwohnung zufrieden. Er war mit dem Schicksal im Reinen.

»Mein Vater nahm meine Mutter und mich mit zu Albert«, erzählt Christine Schöffel. »Wir trafen ihn in einem Restaurant und gingen ein wenig spazieren … Und ich erinnere mich, dass mein Vater darauf sehr stolz war. Das bedeutete ihm etwas: ›Ich kenne Albert Göring.‹ Nicht, weil es Albert Göring war, sondern er war stolz, jemanden zu kennen, der damals anderen Leuten geholfen hat. Und er – das muss ich auf Deutsch sagen – er hat ihn sehr geschätzt. Eine große Achtung für ihn gehabt.«251

Besonders lebhaft erinnert sie sich nach dem Treffen an Albert Görings Augen: »Sehr ausdrucksstarke Augen, aber sanft, nicht wie bei seinem Bruder. Es gibt zwei ganz unterschiedliche Arten von Augen. Sein Bruder hatte kalte Augen. Und Albert Göring war da ganz anders.« Dann fügt sie noch hinzu: »Mir kam er sehr still, freundlich und bescheiden vor … Man hätte nie gedacht, dass er aus so einer Familie kam, aus so einer Geschichte.«252 Als sich alle gerade verabschieden wollen, nimmt Albert Göring Christine beiseite und gibt ihr einen zeitlosen Rat mit auf den Weg: »Dir werden im Leben immer gute wie schlechte Menschen begegnen, so ist es überall auf der Welt. So hat man es mir beigebracht. Für mich waren es nie die schrecklichen Deutschen oder die schrecklichen Russen oder so etwas. Mir hat man beigebracht, dass es Gute wie Schlechte gibt, und das muss man fürs Leben lernen. Das wird sich nie ändern.«253

Ungefähr um dieselbe Zeit verfasste Christines Vater einen Artikel über Albert Göring in der Zeitschrift Aktuell: Deutsches Wochenmagazin, in dem er sich bemühte, den späten Albert Göring zu verstehen. Er schrieb: »Er könnte heute reich und unbelästigt irgendwo in Südamerika leben, wenn er nur gewollt hätte. Stattdessen lebt er in München von einer äußerst bescheidenen Rente, trinkt viel Kaffee und freut sich über ein gutes Glas Wein. Er hat weder seine Memoiren verkauft noch ein fettes Angebot einer amerikanischen Filmgesellschaft angenommen.« Als Ernst ihn fragte, warum er diese Möglichkeiten, ein komfortableres Leben zu führen, ausgeschlagen habe, antwortete er: »Nichts geht verloren in dieser Welt – es hat nur immer wieder ein anderer.«254

 

Wenige Jahre nach diesem Abendessen der Neubachs mit Albert Göring bekam Dr. Josef Charvát, sein alter tschechischer Freund, zwei Briefe von Alberts Münchner Adresse. In seinen Memoiren schreibt er: »Ich hörte lange nichts mehr von ihm, bis plötzlich ein Brief aus München kam, in dem Albert erwähnte, er habe Verdauungsprobleme. Der Brief war sehr stoisch und philosophisch im Ton. Es ging daraus hervor, dass er entweder wieder geheiratet hatte oder mit einer Frau zusammenlebte, die sich auch um ihn kümmerte. Er hatte eine Zeitschrift beigelegt, in der ein Artikel über mich stand. Dann kam ein Brief von der besagten Dame …« So erfuhr sein Freund, dass Albert Göring im Alter von einundsiebzig Jahren am 20. Dezember 1966 an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war.