6. Der Emigrant

Ich warte eine halbe Ewigkeit. Nichts. Ich klingele noch einmal. Stille. Dann, endlich, meldet sich eine leise Stimme über das Türtelefon. Es ist Christine Schöffel, die Tochter des erfolgreichen Liedtexters, Drehbuchautors, Regisseurs und Filmproduzenten Ernst Neubach, der Albert Göring in Wien kennenlernte. Ich stehe vor der Tür ihres blassgelben Mietshauses am Rande der Altstadt von Graz. Am Ende der Straße ist noch gerade die Kuppelspitze der Grazer Oper zu sehen. Nicht weit von hier pulsiert das kulturelle Leben der Stadt. Und nur fünfzig Kilometer außerhalb zerfallen die letzten Überreste des Eisernen Vorhangs.

Langsam öffnet sich das metallene Gartentor, das früher die Kutschen der wohlhabenden Bewohner eingelassen haben mag, und vor mir steht der Inbegriff europäischer Raffinesse. Christine Schöffel ist leger gekleidet; sie trägt Jeans, ein schwarzes, langärmeliges Top und moderne, karierte Leinenschuhe. Ihre dezente Bräune geht vermutlich auf einen Urlaub in Griechenland zurück. Die schulterlange, karamellfarbene Bobfrisur trägt die Handschrift eines kundigen – und teuren – Coiffeurs. Passend zu dem Vermächtnis ihrer Familie besitzt sie das Auftreten einer echten Diva.

Wir durchqueren den Vorgarten und eine bogenförmige Eingangstür, steigen die ausgetretenen Holzstiegen hinauf und betreten eine Altbauwohnung mit hohen Decken, die mit ihrer harmonischen Verbindung alter und moderner Stilelemente wie eine Fortsetzung der Stadt Graz mit anderen Mitteln wirkt. Wohin das Auge blickt, sind an Picasso erinnernde Gemälde, steinerne Skulpturen und kunstvoll gedrechselte oder modern designte Möbelstücke effektvoll in Szene gesetzt.

Christine verschwindet in die Küche, um Kaffee aufzubrühen, und setzt sich dann zu mir ins Wohnzimmer. Sie redet nicht lange um ihre erste Frage herum: Es will ihr nicht in den Kopf, warum ein so junger Mensch aus einem so fernen Land sich mit dieser Geschichte befassen und dafür bis nach Graz reisen sollte. Diese Frage höre ich nicht zum ersten Mal und kann sie offenbar zufriedenstellend beantworten. Die einschüchternde Dame scheint sich ein wenig zu entspannen und bedeutet mir durch eine königliche Geste ihrer manikürten Hände, mit dem Interview zu beginnen. »Er hat mir erzählt, dass Albert Göring den Leuten geholfen hat«, sagt sie über ihren Vater. »Und nicht nur das, denn wenn er ihnen geholfen hat, hat er sich selbst in Gefahr gebracht. Man wusste nie, wie viel das Regime sich gefallen lässt. Wie weit konnte er gehen? Er hat immer seine Grenzen ausgelotet. Und er geriet in Schwierigkeiten. Aber er hat überlebt, und das war unglaublich.

Mein Vater ist in Wien geboren, am 3. Januar 1900 … Sein Vater arbeitete bei der staatlichen Eisenbahnbehörde, und seine Mutter war Hausfrau. Er hatte einen Bruder – zwei Brüder«, korrigiert sie sich. Es wundert mich, dass sie offenbar die Anzahl ihrer Onkel nicht kennt, doch sie erklärt: »Einer seiner Brüder ist 1938 nach Venezuela ausgewandert, und einer ging nach Buchenwald.« Buchenwald – sie erwähnt den Ortsnamen so nebenher, dass mir fast entgangen wäre, wovon die Rede ist. Später fand ich heraus, dass ihr Onkel Robert im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurde.

Vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten, bevor er einen Bruder verlor, führte Ernst Neubach ein weitgehend beschauliches Leben. Nach seiner Geburt nahm ihn die Mutter mit in die Wohnung der Familie in Leopoldstadt, einem damals vorwiegend von Juden bewohnten Stadtteil Wiens. Wie Wien insgesamt ein Tummelplatz der Kulturen war, so lebte auch in Leopoldstadt eine bunte Mischung. Einerseits gab es die säkularisierten, angepassten jüdischen Arbeiter und Händler und andererseits die orthodoxen Juden mit ihren Kaftanen, Bärten, langen Schläfenlocken und fremden Sprachen aus den östlicheren Gebieten des alten Habsburgerreichs. Beide Gruppen gingen einander meist aus dem Weg und fanden die je anderen »zu jüdisch« oder »zu österreichisch«. Die Neubachs zelebrierten ihr kulturelles Erbe nur an Feiertagen und fielen damit in die letztere Kategorie.

Nach dem Abschluss des Gymnasiums, während des Ersten Weltkriegs, kämpfte Neubach sogar zusammen mit seinem Bruder Robert im österreichisch-ungarischen Heer, während die meisten östlichen Juden sich über derlei Patriotismus nur lustig machten. Neubach definierte sich als stolzer Habsburger, und nachdem er zum Christentum konvertiert war, um eine katholische Frau heiraten zu können, und Wien die Hauptstadt des neuen Österreich geworden war, sah er sich als stolzen, christlichen Österreicher. Er blieb nach dem Krieg sogar im Österreichischen Bundesheer und diente so lange als Leutnant der Reserve, bis über Wien die Hakenkreuzbanner wehten.

In seiner Schulzeit hatte Neubach immer geplant, zu studieren. Doch der Erste Weltkrieg und der Fall der Habsburgermonarchie durchkreuzten diese Pläne. Denn mit der Kapitulation 1918 kapitulierte auch Neubachs Vater und hinterließ seiner Familie nur eine kleine Rente. Neubach musste seinen Wunsch nach intellektueller Stimulation hintanstellen und sich stattdessen als Plakatkleber verdingen.

Doch mit jedem Film- oder Theaterpremierenplakat, das er mit Kleister bestrich, wuchs seine Verbitterung. Er wusste, dass auch sein Name auf diesen Plakaten hätte stehen können. Er hatte schriftstellerisches Talent und keine Chance, es zu beweisen. Eines Tages wurde der Schmerz stärker als die Vernunft. Neubach begann zu schreiben – und von dem Moment an produzierte er einen Gassenhauer und ein erfolgreiches Drehbuch nach dem anderen. Nicht lange, und er wurde der Andrew Lloyd Webber seiner Zeit. »Mit Trenck hat er schon sehr früh angefangen. Und er hat viele Erfolgstitel geschrieben. Zum Beispiel hat er Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren getextet und Ein Lied geht um die Welt für Joseph Schmidt; überhaupt sind die meisten Joseph-Schmidt-Lieder von ihm«, erzählt Christine Schöffel, und das ist nur ein kleiner Ausschnitt seiner großen Erfolge. Bei den Dreharbeiten zu einem seiner Filme in den Tobis-Sascha Studios kam es denn auch zu der ersten denkwürdigen Begegnung mit Albert Göring.

 

»Hier Göring. Ich rufe Sie wegen der Rechnungen an … Ich bin leider gezwungen, Ihnen den Strom abzustellen, wenn Sie nicht binnen …«, waren die ersten Worte, die Neubach von Albert zu hören bekam.65 Wie so viele Filmemacher war Neubach während des Drehs zu seinem Film Millionäre in den Tobis-Sascha Filmstudios, die Albert inzwischen leitete, in die roten Zahlen gerutscht.

Bis dahin hatte Neubach Göring nur aus dem gekannt, was man sich in der Wiener Filmszene über ihn erzählte. Seine Kollegen hatten abenteuerliche Theorien darüber entwickelt, warum Hermann Görings Bruder als Filmstudioleiter arbeitete und gerade mal 800 Schilling im Monat verdiente, wenn er stattdessen in der deutschen Industrie hätte Karriere machen können. Und das noble braune Steyr-Cabriolet, mit dem Albert in Wien auf Frauenfang ging, war ein Geschenk seines deutschen Bruders, erzählte man sich. Niemand wusste so recht, wie man sich in Alberts Gegenwart verhalten sollte. Daher war Ernst Neubach, als er zum ersten Mal Albert Görings Büro in der Siebensterngasse betrat, etwas mulmig zumute.

Albert saß mit seinem »ovalen Gesicht mit den langen Backenkoteletten [und] dem schmalen Schnurrbart« kerzengerade wie ein preußischer General hinter dem Schreibtisch, als Neubach hereinkam, und begann gleich die Zahlen und Kosten herunterzurattern. Als er sah, wie Neubach schmerzlich das Gesicht verzog, änderte er jedoch seine Haltung. Er beugte sich vertraulich zu seinem Gegenüber vor und sagte, er könne ihm eine Fristverlängerung von drei Tagen anbieten. Neubach war von dieser großzügigen Geste überrascht und lud Göring auf einen Kaffee ein. Eine gute Wahl, denn »Kaffee war seine Hauptnahrung«.66

Nach der zweiten Tasse Kaffee plauderte Göring freimütig über sein Häuschen in Grinzing und seinen Antrag auf Einbürgerung in Österreich. Nach der dritten wandte sich das Gespräch seiner politischen – oder besser, unpolitischen – Einstellung zu. Albert erzählte, dass er mit Hermann nicht mehr sprach, ihn jedoch als Bruder nach wie vor mochte. Er ereiferte sich über die Nazis in Deutschland, die er nicht ausstehen konnte, und »prophezeite Deutschland ein bitteres Ende«.67 So begann in einem Wiener Kaffeehaus die »kleine Freundschaft«, wie Christine Schöffel es ausdrückt, der beiden zukünftigen Emigranten.

Ein halbes Jahr darauf hörte Neubach gerade mit seiner frischangetrauten Ehefrau Jazzmusik im Radio, als das Programm plötzlich für eine Sondersendung unterbrochen wurde. Die ernste Stimme des Bundeskanzlers Kurt von Schuschnigg war zu hören: »So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volk mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!«68 Am Freitag, dem 11. März 1938, um 19.45 Uhr verkündete von Schuschnigg mit dieser Ansprache seinen Rücktritt; der »Anschluss« hatte begonnen. Als am nächsten Tag frühmorgens das Horst-Wessel-Lied gesendet wurde, wusste ganz Österreich, dass es tatsächlich geschehen war: Die Deutschen waren einmarschiert. Der Reserveleutnant Neubach, der noch auf Befehl von Schuschniggs mobilisiert und am Franz-Josef-Bahnhof stationiert worden war, erlebte die Reaktionen seiner Landsleute auf diese Nachricht aus der Nähe mit. In ganz Wien füllten sich die Straßen mit Menschen, die sich auf die Ankunft der Deutschen vorbereiteten: Einige packten ihre Sachen, und andere halfen ihnen beim Packen.

Am selben Abend klopfte es bei Neubach an der Tür. Ein befreundeter Nachbar stand davor und hielt eine Liste der Personen in der Hand, welche die SA als Erste verhaften wollte. Auf dieser Liste stand auch Neubachs Name. Er musste fliehen. Gleich am nächsten Tag bemühte sich seine Frau in verschiedenen Botschaften um ein Ausreisevisum und musste feststellen, dass alle Grenzen bis auf diejenige zur Schweiz geschlossen waren. Kurz entschlossen nahm sie einen Bogen Briefpapier der Firma zur Hand, für die sie zu der Zeit arbeitete, und bescheinigte im Namen dieser Firma, ihr Mann solle als Vertreter nach Frankreich reisen. Mit dieser notdürftigen Legitimation ausgestattet, bestieg Ernst Neubach mit seiner Frau und seiner Mutter ein Taxi in Richtung Westbahnhof. Sie fuhren durch ein Meer von Hakenkreuzfahnen und erlebten, wie junge Leute, von der Hasspropaganda ermutigt, davon schwadronierten, »die jüdische Pest auszurotten«, oder wie Braunhemden die »Ostjuden« für sich tanzen ließen. Am Bahnsteig füllte sich der Zug nach Paris bereits mit zahllosen weiteren Flüchtenden. Als der Zug sich pfeifend und stampfend in Bewegung setzte, wurde Neubach schlagartig bewusst, was er alles zurückließ: seine Frau, seine Familie, seine Filme, seine Heimatstadt. Ihn traf die schmerzliche Erkenntnis, dass er soeben seine »geliebte Mutter zum letztenmal in diesem Leben« gesehen hatte.69

Nur einen Tag nach seiner Abreise schikanierte ein SA-Schlägertrupp auf der Suche nach Ernst Neubach seine Frau und plünderte die gemeinsame Wohnung. Als Albert davon hörte, besuchte er Frau Neubach, um sie zu beruhigen, und versicherte ihr, sie könne ihn jederzeit zu Hilfe rufen; er werde alles in seiner Macht Stehende tun, um ihr zur Flucht zu verhelfen.70

 

Christine springt von dem niedrigen Sofa auf, um ihre schwarze, eckige Lesebrille zu holen, und überfliegt das Dokument, das ich ihr gegeben habe. Die Brauen über ihren dunkelbraunen Augen heben sich interessiert, und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Auslöser für diese erfreute Reaktion ist ein Brief ihres Vaters an den tschechoslowakischen Präsidenten der Kriegs- und Nachkriegszeit, Edvard Beneš oder, wie Neubach ihn titulierte, »Monsieur le Président de la République«. Neubach setzte sich darin für Albert Göring ein, als der 1946 in Prag vor Gericht stand und sich gegen den Vorwurf verteidigen musste, Kriegsverbrechen am tschechoslowakischen Volk begangen zu haben. Christine wusste offenbar nicht einmal von der Existenz dieses Briefes. Als sie ihn ausgelesen hat, legt sie ihn weg und nimmt wieder ihre Bühnenhaltung ein, um die Geschichte ihres Vaters fortzusetzen. »Ja, davon hat er später erzählt. Er hat erzählt, dass Albert Göring vielen Menschen geholfen hat, vielen Juden, aus Deutschland oder Frankreich wegzukommen. Er unterschrieb Papiere oder stellte sie selbst aus. Briefe unterschrieb er mit ›Hermann Göring‹ oder mit seinem eigenen Namen … So hat es mein Vater mir erklärt.«

 

In den ersten Monaten nach dem »Anschluss« war Albert wie ein Frontarzt im Dauereinsatz, um die Wunden zu heilen, die sein eigener Bruder und dessen Leute der Gesellschaft zufügten. Eine seiner ersten Hilfsaktionen galt einem engen Kollegen. Oskar Pilzer, der Albert die Chance verschafft hatte, in die Filmindustrie zu wechseln, bekam jetzt seinerseits eine neue Chance. »Wir hatten furchtbare Angst. Diese Leute kamen ins Haus und rasselten mit ihren Gewehren. Sie trugen Uniformen. Und sie wirkten sehr bedrohlich. Sie packten meinen Vater, schoben ihn in eine Zimmerecke, richteten ein Gewehr auf ihn und steckten alles ein, was sie interessierte. Und dann verschwanden sie mit meinem Vater. Sie können sich unsere Situation wohl vorstellen, wie wir uns gefühlt haben«, erinnert sich George Pilzer, Oskar Pilzers Sohn, an den Überfall der Gestapo.71 Goebbels wollte sich offenbar nicht damit zufriedengeben, Pilzers Unternehmen und seine gesamte berufliche Existenz an sich gerissen zu haben, sondern trachtete ihm nach dem Leben.

Wie so oft klingelte Albert Görings Telefon, und noch am selben Nachmittag kam Oskar Pilzer wieder frei. George Pilzer erklärt: »Mithilfe seines Nachnamens setzte er alle Hebel in Bewegung – aber wirklich alle –, um erstens herauszufinden, wo mein Vater war, und zweitens für seine sofortige Freilassung zu sorgen. Und dafür bin ich Albert Göring sehr dankbar, meine ganze Familie verdankt ihm sehr viel.«72 Albert brachte Oskar Pilzer persönlich zur italienischen Grenze und versorgte ihn mit Devisen für die Reise. Von Rom aus reiste Pilzer weiter nach Paris und traf dort seine Familie wieder. Leider starb er kurz darauf nach einem chirurgischen Eingriff, der Komplikationen ausgelöst hatte. Doch seine Familie fand nach Zwischenstationen in Spanien und Marokko schließlich Asyl in den USA. Der Name Pilzer steht auf der Liste der Geretteten an vierundzwanzigster Stelle. Oskars Söhne George und Herbert traten in den USA in die Fußstapfen ihres Vaters: George wurde Vize-Geschäftsführer der 20th Century Fox International für Europa, und Herbert gründete in New York die Motion Picture Enterprises Publications.

Wiens jüdische Bewohner gerieten derweil immer tiefer in den Strudel der Angst und Verzweiflung: Je schwerer es wurde, ein Visum zu ergattern, je mehr Eigentum konfisziert wurde, desto dringlicher und schwieriger wurde es, das Land zu verlassen. Mitten im Zentrum der Hysterie stand Albert Göring und half, wo er konnte.

Auch Dr. William Szekely, ein jüdisch-amerikanischer Regisseur, befand sich in einer verzweifelten Lage: »Alle Möglichkeiten, die nötigen Papiere zur Ausreise zu bekommen, erwiesen sich als erschöpft. Täglich wurden Freunde von uns verhaftet, die Bankkonten beschlagnahmt … Albert Göring, mit dem ich befreundet war, setzte sich für uns ein. Er beschaffte uns die Ausreiseerlaubnis«, berichtete Szekely später Ernst Neubach. Mit diesen Papieren gelangte er mit Freunden in die Schweiz, doch um in seine Heimat Amerika zurückzukehren, fehlte ihm das Geld. Szekely erzählte weiter: »Wir hatten Wien verlassen müssen, ohne dass ich Geld mitnehmen konnte. Albert kassierte für mich in Wien und brachte meine Guthaben nach Zürich, damit ich nicht mittellos blieb.«73 Szekely, die Nummer dreiunddreißig auf Albert Görings Liste, überlebte und nahm in Hollywood seine Arbeit wieder auf, ebenso wie einige weitere Filmkollegen, die mit ihm auf der Liste der Geretteten stehen.

An allererster Stelle dieser Liste finden sich der jüdischungarische Leiter der Intergloria-Film Wien, Dr. Alsegg, und seine Ehefrau. Alberts schützende Hand und seine finanzielle Großzügigkeit ermöglichten es ihnen, Österreich zu verlassen. An zweiter Stelle folgt Alfred Barbasch, ein Prokurist der Tobis-Sascha, dem Albert ein Ausreisevisum beschaffte, damit er nach England fliehen konnte. Auch die Nummer neun auf der Liste, Dr. W. Grüss, zog es nach Großbritannien. Ihn versorgte Albert mit Devisen und half ihm ebenfalls bei der Ausreise.

Tag und Nacht trafen die Hilferufe bei Albert Göring ein, und mit jedem Eingreifen wuchs die Gefahr für ihn. Doch seine Entschlossenheit ließ nicht nach. Mit der ihm eigenen Zähigkeit und Dreistigkeit half er auch seinem Hausarzt Dr. Max Wolf und dessen Brüdern. »Die Brüder Wolf holte er aus dem Gefängnis heraus und den am meisten gefährdeten, bereits zum Abtransport nach Dachau bestimmten Dr. Wolf ließ er in ein Krankenhaus schaffen und am Blinddarm operieren. Dann erreichte er auch für ihn die Ausreiseerlaubnis«, berichtete Szekely.74 Einige Monate darauf fuhren Dr. Wolf und seine Frau Margareta an der Freiheitsstatue vorüber, einer Sehenswürdigkeit, die für sie zweifellos eine ganz besondere Bedeutung besaß. Noch zwei weitere Ärzte konnten ihren Beruf als Lebensretter fortführen, weil Albert ihr Leben rettete: Dr. Bauer und Dr. Medvey vom Allgemeinen Krankenhaus Wien. Auch ihnen gelang mit Papieren und Devisen, die Albert Göring für sie beschaffte, die Flucht in die USA. Auf der Liste der Geretteten stehen sie auf den Plätzen fünf und achtzehn.

 

Während der Terror in Österreich immer weiter um sich griff, begegneten sich Albert, der Retter der Verfolgten, und Hermann Göring, der Drahtzieher der Verfolgung, im Mai 1938 bei einer Familienfeier in Alberts Haus in Grinzing. Im öffentlichen Leben mochten sie politische und ideologische Kontrahenten sein, doch im privaten Bereich, den sie konsequent von äußeren Einflüssen freihielten, waren sie nach wie vor einträchtige Brüder. Dieser Aspekt ihrer Beziehung ist besonders rätselhaft: Irgendwie brachten sie es fertig, sich bei Begegnungen von ihrer jeweiligen öffentlichen Rolle zu distanzieren.

Doch bei jener Zusammenkunft in Grinzing prallten ihre zwei Welten hart aufeinander, denn die ältere Schwester Olga trug den Bericht von einem Verbrechen der Nationalsozialisten in den bis dahin sakrosankten Privatbereich der Familie hinein. Olga erzählte von einem alten Erzherzog, der fernab aller politischen Turbulenzen in der österreichischen Marktgemeinde Mondsee sein friedliches Dasein fristete, bis eines Morgens die SA vor seiner Tür stand. Die Verbrecher verschleppten ihn, schoren ihm den Kopf und setzten ihn in einen Transport nach Dachau. Ihr Opfer war Erzherzog Joseph Ferdinand von Österreich-Toskana aus dem Hause Habsburg-Lothringen.

Hermann Göring wollte an diesem Abend nach dem »Triumphmarsch« in Wien seinen Erfolg gebührend feiern, indem er jedem seiner Geschwister einen Wunsch freistellte. Es dürfte ihm sehr unangenehm gewesen sein, dass Albert und Olga dieses Angebot nutzten, um ihm das Leid des alten Adligen vor Augen zu führen. »Meine Schwester und ich wünschten uns die sofortige Freilassung des alten Erzherzogs. Hermann war sehr betreten. Am nächsten Tag aber war der verhaftete Habsburger frei«, berichtete Albert Göring seinem Freund Neubach in Paris.75 Auf der Liste der Geretteten steht Erzherzog Joseph Ferdinand an zwölfter Stelle.

 

Niemand schien mehr vor den Machenschaften der Gestapo sicher zu sein. Selbst der Autor von Hitlers Lieblingsoperette, der Lustigen Witwe, entging der Verfolgung nicht. Franz Lehár, Sohn eines ungarischen Kapellmeisters, wurde schon seit Jahren bei Musikliebhabern aus aller Welt für seine Sonaten, Walzer, Märsche, symphonischen Gedichte und vor allem seine Operetten verehrt. Sein erfolgreichstes Stück, Die lustige Witwe, wird noch heute in den verschiedensten Ländern und Sprachen aufgeführt. Er war so bekannt, dass ihm Hitler persönlich 1940 die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft verlieh.

Doch die Ehe mit seiner jüdischen Frau Sophie Paschkis hätte ihn beinahe seine Karriere und sein Leben gekostet. »Eines Tages klopften bei mir zwei Männer an, die sich als Gestapoleute entpuppten. Sie zeigten auf ihr Abzeichen und sagten: ›Wir sollen Ihre Frau abholen.‹ Meine Frau, die zugegen war, fiel natürlich in Ohnmacht. Ich fragte: ›Warum denn?‹ […] Ich war in einer verzweifelten Lage, da fiel mir ein, dass ich den damaligen Gauleiter Bürkel anrufen könnte […]. Ich erreichte die Verbindung, und in erregten Worten schilderte ich die Situation. Er sagte: ›Einer der Männer soll zum Telefon kommen!‹ Dieser Mann sprach längere Zeit mit ihm, dann wendete er sich mir zu und sagte: ›Wir sollen gehen.‹ Wenn ich nicht zufällig zu Hause gewesen wäre, hätte ich meine Frau nie mehr gesehen!«76 Nicht lange darauf erhielt Lehár ein offizielles Schreiben, in dem es hieß, er müsse sich scheiden lassen, sonst werde er selbst als Nicht-Arier eingestuft, was ein Verbot aller seiner Werke und eine Reisesperre zur Folge gehabt hätte. Er brauchte Hilfe.

»In dieser Not bat ich Alberts Freund Dr. Nowottny, dem einzigen Menschen zu telegrafieren, der in jeder Situation für seine Freunde eingesprungen war, nämlich Albert Göring in Bukarest. Nach drei Tagen war er in Wien bei mir im ›Schikaneder-Schlössl‹ [Lehárs Villa], und schon am nächsten Tag reiste er nach Berlin«, erzählte Lehár Ernst Neubach bei einem gemeinsamen Spaziergang durch Zürich.77 In Berlin ging Albert Göring geradewegs in das Büro seines Bruders und erzählte ihm von Lehárs Situation. Nach seiner Schilderung war Hermann ernsthaft besorgt und rief sofort Goebbels an, dessen Reichskulturkammer für die Drohungen verantwortlich war. Er erinnerte den Propagandaminister daran, dass Lehárs Lustige Witwe Hitlers Lieblingsoperette war und wie blamabel es für alle Beteiligten werden könnte, wenn diese absurde Entgleisung nicht sofort rückgängig gemacht würde. Das Letzte, was Goebbels wollte, war, seinen Führer zu verärgern, also bat er Albert zu sich, um die Angelegenheit mit ihm persönlich zu regeln. Nach den Schilderungen eines Mitarbeiters von Goebbels und Bekannten von Neubach empfing Goebbels Albert Göring wie einen alten Freund und sagte: »Mit solch einer Bagatelle hätten Sie sich doch lieber gleich an mich wenden sollen, mein lieber, lieber Freund. Untergeordnete Organe haben unüberlegt gehandelt. Hier haben Sie eine Ehren-Arier-Urkunde für Frau Lehár. Überbringen Sie diese mit meinen herzlichen Grüßen an den Meister.«78

In Wahrheit war es Goebbels rechtlich gar nicht möglich, Sophie Lehár den Status einer »Ehrenarierin« zu verleihen, doch er konnte eine Ausnahmeregelung für sie geltend machen und ihre Ehe zur »privilegierten Mischehe« heraufstufen.79 Das bewahrte Sophie Lehár zwar vor der Deportation, doch es war ihr verboten, ohne Begleitung auszugehen. Sie musste den Judenstern tragen, und hätte sich ihr Mann von ihr getrennt, wäre sie in ihren vorigen Status zurückversetzt worden. Immerhin konnte die Nummer fünfzehn auf der Liste der Geretteten in Frieden mit ihrem Ehemann in der gemeinsamen Villa in Bad Ischl leben, bis sie 1947 eines natürlichen Todes starb.

 

»Ich habe von einer deutschen Quelle gehört, dass deutsche NS-Extremisten vollständige Kontrolle über Österreich erlangt haben und dass alle Österreicher, selbst österreichische Nationalsozialisten, in den Hintergrund gedrängt werden«, berichtete Sir Nevil Henderson, der britische Botschafter in Deutschland, am 16. März 1938 seinen Vorgesetzten in London. »Es hat in ganz Österreich zahlreiche Verhaftungen gegeben und man befürchtet, dass gegenüber Schuschnigg und seinen Anhängern Racheakte verübt werden könnten. Privat tue ich schon, was ich kann, und habe mich an Freiherr von Neurath und an Feldmarschall Goering gewandt, dem ich gestern Morgen zum Thema Umgang mit Schuschnigg etc. einen persönlichen Brief geschrieben habe.«80 Hendersons Bitte, Schuschnigg freizulassen, stieß jedoch bei seinem früheren Jagdkameraden Göring auf taube Ohren. Erst später schenkte Hermann einem weiteren Fürsprecher Schuschniggs Gehör.

Gleich nach dem »Anschluss« hatte man Schuschnigg und seine Familie unter Hausarrest gestellt und von der SA bewachen lassen. Dann, am 28. Mai 1938, wurde er in einem verdunkelten Auto abgeholt und in das Wiener Hauptquartier der Gestapo im ehemaligen Hotel Metropol gebracht. Seine Gastgeber wiesen ihm eine alte Wäschekammer als Zelle zu und machten ihn gleich mit der Hausordnung bekannt: »Dr. Schuschnigg darf rauchen; vorläufig wenigstens; später wird das ohnedies von selber aufhören. Essen kann er vom Haus besorgen und hat es zu bezahlen.« […] »Ein Posten steht im Raum, einer im Vorraum. Des Nachts hat das Licht im Zimmer zu brennen. Die Posten haben bei Dienstübernahme – Ablösung alle Stunden – die Pistole zu spannen und entsichert zu tragen. Die Pistolentasche hat offen zu bleiben. Dem Dr. Schuschnigg ist es verboten, zum Fenster oder in dessen Nähe zu gehen. Wenn er es versucht, ist sofort zu schießen. Auch wenn er sich sonst nicht fügen sollte …«81

Schuschnigg war in seiner Gefangenschaft Schlafentzug, körperlichen und psychischen Misshandlungen, intensiven Verhören und ständigen Erniedrigungen ausgesetzt. »Ohne Bücher, ohne jede Nachricht, nur mit dem SS-Mann im Zimmer […] Schlafen ausgeschlossen. Alle Stunden ist Ablösung im Haftraum, und außerdem kommt mitten in der Nacht die Inspektion […] Obzwar von selbst wach und gern bereit, die sogenannte Nachtruhe zu beenden – kommandiert mich der Posten um 6 Uhr mit scharfem Kommando aus dem Bett […]; dann beginnt das ›Tagewerk‹«, notierte Schuschnigg in sein Gefängnistagebuch.82 Er war in Isolationshaft und durfte weder von einem Anwalt noch von seiner Verlobten Besuch empfangen, noch auch nur an seiner eigenen Hochzeit teilnehmen – ein Briefumschlag mit einem Ehering informierte ihn darüber, dass die Zeremonie stattgefunden hatte.

So ging es anderthalb Monate lang, bis Albert Göring in Wien mit einem Polizeibeamten ins Gespräch kam. »Von einem Polizisten erfuhr ich, wie man den Kanzler Schuschnigg behandelte […] Als ich nach Berlin kam, sprach ich mit Hermann im Kleinen Palais und sagte: ›Ist es deutsch, einen besiegten Gegner so schweinemäßig zu behandeln?‹ Hermann telefonierte mit dem braunen Stadthalter [sic!] Seyß-Inquart, und Schuschnigg wurde schließlich mit seiner Familie in einer Villa außerhalb Wiens interniert.« So jedenfalls schilderte Albert Göring gegenüber Ernst Neubach seine Version der Ereignisse.83

Zwar könnte es einen Zusammenhang zwischen dem angeblichen Zeitpunkt der Intervention und einer spürbaren Verbesserung von Schuschniggs Haftbedingungen gegeben haben, doch davon abgesehen war der weitere Verlauf der Dinge etwas anders, als Albert Göring es angenommen oder gehört hatte. Am 1. Juli 1938 bekam Schuschnigg überraschend Besuch von dem »Staatssekretär für das Sicherheitswesen im Lande Österreich« Ernst Kaltenbrunner und erstmals auch von seiner Frau. Von da an durfte sie ihn einmal wöchentlich besuchen, wobei jeder Besuch sechs Minuten währen und an einem Freitag stattfinden sollte.84 Diese Verbesserungen könnten das Ergebnis von Alberts Bemühungen gewesen sein. Fast sechs Monate später bekam er wiederum hohen Besuch, diesmal von Kaltenbrunners Vorgesetztem, Heinrich Himmler. Dieser zeigte sich freundlich und brachte neues Mobiliar sowie ein Radio als Geschenke mit. Doch erst nachdem das Versprechen, Schuschnigg bei seiner Frau leben zu lassen, immer wieder gebrochen worden war, nachdem der Exkanzler in ein Gestapo-Gefängnis in München verlegt und seine Tochter geboren worden war, kam schließlich am 8. Dezember 1941 die von Albert Göring erwähnte »Villa« ins Spiel. Genaugenommen war sie jedoch weder eine Villa, noch lag sie »außerhalb Wiens«, sondern es handelte sich um eine einfache Holzbehausung im »Sonderhäftlingsbereich« des KZ Sachsenhausen bei Berlin. Dort lebte Schuschnigg tatsächlich, wie Albert berichtete, »mit seiner Familie«, bis sie beim Anrücken der Alliierten 1945 Richtung Süden »evakuiert« wurden. Ihre Odyssee durch verschiedene Gefängnisse, unter anderem das KZ Dachau, endete am 4. Mai 1945 im Hotel Pragser Wildsee in Südtirol, wo sie schließlich von amerikanischen Truppen befreit wurden.

Um diesen Widersprüchen zwischen Alberts Behauptungen und den Ereignissen aus Schuschniggs Tagebuch auf den Grund zu gehen, beschloss ich, mit einem engen Verwandten Schuschniggs Kontakt aufzunehmen.

 

In gewisser Weise war Schuschnigg sogar eine der ersten Wegmarken auf meiner Suche nach der wahren Geschichte Albert Görings. Um das Geld für meine Weltreise zusammenzusparen, hatte ich in Sydney verschiedene Teilzeitjobs angenommen. Einige Monate lang wurde der Videoverleih an der Ecke mein zweites Zuhause.

Dort versetzten mich die Endlosschleife des Achtziger-Jahre-Klassikers Ferris macht blau und das monotone Piepsen, mit dem ich die Videos einbongte, regelmäßig in einen halbkomatösen Dämmerzustand, aus dem mich jedoch ein Ereignis nachhaltig herausriss. Mitten in Sydneys Innenstadt hielt ich plötzlich die Mitgliedskarte eines gewissen Dr. Tschuschnigg in der Hand. Vor mir stand der Neffe des Bundeskanzlers von Österreich Kurt Schuschnigg – das behauptete er jedenfalls, als ich ihn spaßeshalber fragte, ob er mit diesem verwandt sei.9* Solche unglaublichen Zufälle halten eine ganze Armada von Astrologen und Handlesern in Lohn und Brot. Ich selbst bin weder abergläubisch, noch glaube ich an das Schicksal, doch diese Begegnung prägte sich mir tief ein. Sie war wie ein kleiner Filmstreifen, den ich jederzeit vor meinem inneren Auge abspielen konnte, um die nagenden Zweifel zu übertönen und fest entschlossen meine Recherchen weiterzuführen. Außerdem wurde sie später mein Ausgangspunkt bei der Suche nach Schuschniggs anderen Nachfahren.

Zuerst spürte ich Schuschniggs Neffen Heinrich in Wien auf, dann seinen Sohn Kurt junior in New York, und fragte beide, ob sie Alberts Geschichte bestätigen könnten. Sie wussten nur zu berichten, dass Schuschniggs Ehefrau Vera ihren Geburtsarzt Dr. Rust, der auch Emmy Göring betreut hatte, darum bat, Emmy auf Schuschniggs Situation aufmerksam zu machen. Zwar habe Emmy Göring teilnahmsvoll reagiert, doch es bleibt unklar, ob sie auf Schuschniggs Fall irgendwelchen Einfluss nahm.85 An den Einsatz eines Albert Göring für ihren Vater oder Onkel konnten sich die beiden Cousins nicht erinnern.

Eine Begegnung zwischen Ernst Neubach und Kurt Schuschnigg in der Nachkriegszeit könnte einen Hinweis darauf geben, wie es zu dieser Leerstelle kam. Nachdem beide eine Weile Kriegserinnerungen ausgetauscht hatten, kam Neubach auf Alberts Geschichte zu sprechen, erntete jedoch von Schuschnigg nur verständnislose Blicke. Es stellte sich heraus, dass Schuschnigg selbst nichts von einem Eintreten Alberts für seine Belange bekannt war. Allerdings bestätigte er die plötzliche, überraschende Verbesserung seiner Haftbedingungen und wunderte sich nicht darüber, dass er sie Albert Göring zu verdanken hatte.86

Da Albert bei einer derart brisanten Hilfsaktion die Unterstützung seines Bruders Hermann Göring brauchte, war es nur folgerichtig, dass er Schuschnigg nichts von seinen Bemühungen erzählte. Gerade Schuschnigg selbst verstand das nur allzu gut. Albert durfte nicht riskieren, dass der Name Göring mit der Angelegenheit in Beziehung gebracht wurde und dass Hermann deshalb in Bedrängnis kam. Wenn sich die Meinung verbreitet hätte, Hermann Göring, der Vorzeigeheld des deutschen Nationalsozialismus, sei wankelmütig geworden und hätte die Macht seines eigenen Führungsapparats untergraben, wären seine Gegner innerhalb der Partei sofort über ihn hergefallen. Seine Stellung innerhalb des Regimes hätte empfindlich gelitten und er wäre vielleicht nicht mehr in der Lage gewesen, Albert bei seinen Rettungsaktionen zu unterstützen. Geheimhaltung war für alle Beteiligten oberstes Gebot.

 

Mitte November 1938 überrumpelte Albert Göring Ernst Neubach noch einmal mit einem Telefonanruf. Diesmal waren sie beide in Paris im Exil, der eine, um sein Leben zu retten, und der andere, um seine Würde und seinen Seelenfrieden zu bewahren. »Göring hier«, begann Albert auf seine preußisch-direkte Art das Gespräch. Neubach war erst einmal sprachlos, nicht nur weil Albert ihn so aus heiterem Himmel anrief, sondern weil er ihn in Paris gefunden hatte. »Göring?«,antworteteer. »Wie kommen Sie nach Paris?«– »Mit der Bahn!«, gab Göring zurück.87

Neubach hatte sich schon bald nach seiner Ankunft in Paris bestens eingerichtet. Ende 1938 wohnte er an der Champs-Élysées und hatte mit einem weiteren Emigranten, Robert Siodmak, bereits das Drehbuch zu dem Film Pièges verfasst. Doch nun, auf dem Weg zu dem verabredeten Treffpunkt mit Albert Göring, erlebte er die Stadt in Aufruhr. Einige Tage zuvor hatte Herschel Feibel Grynszpan, ein junger jüdischer Emigrant aus Deutschland mit polnischer Staatsangehörigkeit, im Namen der verfolgten Juden den Diplomaten Ernst vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris erschossen. Diese Tat wurde durch die NS-Propaganda als Rechtfertigung für die »Reichskristallnacht« missbraucht, die antisemitischen Novemberpogrome in Deutschland und Österreich, die in ganz Europa Entsetzen auslösten.

Im Café Colisée angekommen, erlebte Neubach die nächste Überraschung. Der Mann, der ihn dort begrüßte, wirkte melancholisch und verbittert, gar nicht wie die selbstsichere, schillernde Persönlichkeit, die er in Wien kennengelernt hatte. Alberts Niedergeschlagenheit hatte nicht in erster Linie mit den jüngsten Ereignissen zu tun, sondern resultierte daraus, dass er schon wieder ein Zuhause hinter sich lassen musste, in dem ihm die Schergen seines Bruders die Luft zum Atmen nahmen. »Wie beneide ich Sie, dass Sie hier bleiben dürfen!«, platzte er unvermittelt heraus. »Wer hindert Sie, das Gleiche zu tun?«, fragte ihn Neubach. »Mein Name!«, erklärte Albert knapp.88

Bis in den Morgen hinein saßen die beiden Männer zusammen im Café und tauschten Geschichten aus. Eine, die Albert beisteuerte, handelte von einer Einladung, die von Wiens neuer nationalsozialistischer Führungsriege an ihn ergangen war. Sie hatten ihm angeboten, selbst von den Plünderungen zu profitieren und Gauleiter für den österreichischen Film zu werden. Albert antwortete nur: »Wer den Unsinn mitmachen will, kann gehen. Ich bleibe im Büro!«89 Albert erzählte auch, wie sehr er es leid war, »in einem Betrieb zu arbeiten mit Berliner Partei-Akrobaten, die eine Walzermelodie in preußische Märsche umwandeln«. Er suchte einen Ort, wo sich das nationalsozialistische Bekenntnis zu verbrecherischer Gier noch nicht durchgesetzt hatte, und hatte sich vorerst für Italien entschieden. »Was werden Sie in Italien beginnen?«, fragte ihn Neubach. Albert zuckte mit den Schultern. »Das Leben eines Heimatlosen führen, wie Sie, mein Lieber«, sagte er.90

 

Nach seinem Aufenthalt in Frankreich ließ Albert Ende 1938 tatsächlich Wien und seinen dortigen Posten bei Tobis-Sascha hinter sich, um sich in Italien niederzulassen. Er brach allerdings nicht ganz mit seinem früheren Arbeitgeber, sondern nahm eine Stelle bei der italienischen Schwesterfirma der Filmgesellschaft an, bei Tobis-Sascha Italiano in Rom. Seine Frau Erna war zu der Zeit schwerkrank und brauchte laufend medizinische Betreuung. Als er keinen Arzt fand, der ihm zugesagt hätte oder überhaupt nur Deutsch sprach, folgte er der Empfehlung eines Freundes und wandte sich an Dr. Ladislav Kovács.

Dr. Kovács, der ursprünglich aus Pápa in Ungarn stammte, war 1930 nach Italien emigriert, als ihn ein Professor in Würzburg freundschaftlich davor warnte, in Deutschland oder Österreich zu praktizieren, weil er Jude war. Er heiratete 1933 eine ebenfalls geflohene Deutsche und eröffnete eine Praxis in Rom, wo er vor allem die dort ansässigen Ungarn medizinisch betreute.

Und nun war dieser Dr. Kovács wieder einmal auf dem Weg zur Arbeit. Ein Hausbesuch, nichts Ungewöhnliches eigentlich, nur dass er diesmal den Namen seines Patienten nicht kannte. Stattdessen hatte ihm ein Freund die rätselhafte Anweisung mit auf den Weg gegeben, »nicht überrascht zu sein und sich keine Sorgen um die Konsequenzen zu machen«.91 Als er dann jedoch in der genannten Adresse, einer Villa am Stadtrand von Rom, ankam und erfuhr, dass sein Auftraggeber ausgerechnet der Bruder des Mannes war, der ihn ins Exil getrieben hatte, vergaß er den Rat seines Freundes und gab Albert Göring unmissverständlich zu verstehen, er müsse sich einen anderen Arzt suchen; er selbst jedenfalls werde niemals ein Mitglied der Familie Göring betreuen. Albert konnte ihn jedoch mit einer verlockend duftenden Tasse Kaffee und der Bitte um ein offenes Gespräch davon überzeugen, zu bleiben. Sie unterhielten sich also, und was Albert dabei sagte, muss Kovács überzeugt haben, denn am nächsten Tag kam er noch einmal zu Besuch. Bei diesem zweiten Zusammentreffen brachte Albert seine ganze Verachtung gegenüber dem Nationalsozialismus zum Ausdruck: »Ich spucke auf Hitler, ich spucke auf meinen Bruder, auf das ganze NS-Regime.«92 In Dr. Kovács’ Ohren klangen diese Worte wie eine Operette von Lehár. Er kümmerte sich von da an regelmäßig um Erna Göring, bis er zu dem Schluss kam, das stickige Klima in Rom verschlimmere ihren Gesundheitszustand und sie müsse zurück nach Wien.

Albert Göring hatte in Kovács einen neuen Freund gefunden, und wie Freunde es nun einmal tun, halfen sie einander, wo es ging. Albert lud den Arzt mitsamt Frau und zwei Kindern in seine Villa ein, damit sie sich eine Zeitlang von dem Trubel des Großstadtlebens erholen konnten. Kovács wiederum revanchierte sich, indem er Albert, als dieser beschloss, er brauche für sich allein keine riesige Villa, eine Wohnung im Stadtgebiet vermittelte. Aus diesem harmlosen Austausch von Freundlichkeiten sollte schon bald eine handfeste Partnerschaft im Widerstand gegen den Nationalsozialismus werden. Sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung besuchte Albert Göring Dr. Kovács und erklärte ihm, er verdiene monatlich »ungefähr 25 000 Lire«, von denen er »nicht annähernd alles« für seine eigenen Auslagen benötigte. Den Rest wollte er an Kovács weitergeben mit der »Bitte, es für Juden und andere vor dem Naziterror Geflohene auszugeben«. Wie es für ihn typisch war, betonte er, er »benötige keine Quittung und keine Auskunft darüber, wem geholfen wurde«. Aus diesem ersten Arrangement wurde später ein ausgefeiltes System des Geldtransfers. Göring eröffnete ein Konto bei der Bank Orelli in Bern, wo Kovács »nur an die Bank schreiben musste, um Geld für die Unterstützung von Flüchtlingen zu beschaffen und ihnen zu helfen, via Lissabon zu fliehen«.93

Dann, am 10. September 1943, marschierten als Reaktion auf den Sturz Mussolinis deutsche Truppen in Rom ein. Damit war wieder Kovács derjenige, der Hilfe brauchte, denn die Gestapo begann gleich damit, Pläne zu schmieden, wie Roms 12 000 jüdische Bewohner beseitigt werden könnten. Am 16. Oktober wurden diese Pläne in die Tat umgesetzt. Noch vor Tagesanbruch wurde ein jüdisches Ghetto in der Nähe des römischen Marcellus-Theaters überfallen. Über 1200 Juden wurden zusammengetrieben und auf Lastwagen abtransportiert. In den darauffolgenden Tagen durchstreiften Gestapo-Agenten mit Adresslisten auf der Suche nach weiteren jüdischen Bürgern die Stadt.

Auch Kovács’ Name und Adresse waren zweifellos auf diesen Listen verzeichnet, und seine Verhaftung schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Doch Albert Göring kam der Gestapo zuvor und stellte Kovács und seiner Familie Schutzbriefe aus: »eine handschriftliche Bescheinigung des Inhalts, dass Kovacs sein Leibarzt sei, dass er, Goering, sehr häufig Rom besuche, regelmäßig seine Dienste brauche und wünsche, dass Kovacs nicht behelligt werde«. Offenbar aus Sorge um Kovács’ Mobiliar im Falle einer Durchsuchung »stellte Goering eine Bescheinigung aus, in der es hieß, sämtliche Möbel in dem Haushalt gehörten Goering«.94 Kovács steht auf der Liste der Geretteten an vierzehnter Stelle.

Kurz nach der Befreiung Roms durch die Alliierten am 5. Juni 1944 wurde Dr. Kovács von Major A. F. Dunlop, einem Angehörigen der britischen Special Operations Executive (SOE) befragt. Gegen Ende des Interviews kam er auf seinen Freund Albert Göring zu sprechen und berichtete von dessen Wohltaten und Widerstandsaktivitäten. Die SOE war eine 1940 gegründete nachrichtendienstliche Spezialeinheit, der Churchill den Auftrag erteilt hatte, »Europa in Brand zu setzen«. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, Partisanen bei der Spionage und Sabotage hinter den feindlichen Linien zu unterstützen. Die SOE sollte also, kurz gesagt, Hitler das Leben so schwer wie möglich machen. Im Juni 1944 waren Angehörige der Spezialeinheit in Rom, um alle dort lebenden Ungarn zu befragen, die Mitglieder der neugegründeten »Gemeinschaft der Freien Ungarn« waren. Ungarn war seit März desselben Jahres ganz in deutscher Hand, und die SOE suchte nach Menschen, die ihnen Kontakte und Informationen zur dortigen Untergrundbewegung verschaffen konnten.

Kovács war ein passender Kandidat, da er einen radikal sozialistisch und antifaschistisch eingestellten Bruder hatte, der einer sozialistischen Untergrundbewegung aus »einfachen Industriearbeitern und intellektuellen, linksgerichteten Demokraten« angehörte und, so vermutete man, Verbindungen zum ungarischen Widerstand unterhielt.95 Diese Informationen dürften Major Dunlop zumindest dazu veranlasst haben, interessiert den Blick zu heben. Doch erst am Ende von Kovács’ Geschichte fiel ihm die Kaffeetasse aus der Hand – es muss für ihn geradezu unvorstellbar gewesen sein, dass der Bruder des Reichsmarschalls humanitäre Akte beging. Alles, was ihm dazu einfiel, war die knappe Aktennotiz: »Dieser Bericht sollte gründlich überprüft werden.«96 Die SOE hätte nicht einmal lange suchen müssen, um diese Überprüfung durchzuführen. Sie hätten den Fall im Handumdrehen abschließen und Albert möglicherweise seine zweijährige Odyssee durch amerikanische und tschechische Haftanstalten ersparen können, wenn sie sich nur die Mühe gemacht hätten, sich an einen ihrer eigenen Soldaten zu wenden.

Major Frank Short, der im Zweiten Weltkrieg als Fernmeldetechniker der britischen Armee nach Kairo gehen sollte, lebte in den 1930er Jahren mit seiner Frau, einer Ballerina, als Leiter der österreichischen Niederlassung der Bickford & Co. AG in Wien. Diese in den 1830er Jahren gegründete Firma, die später in das gigantische Chemiekonglomerat Imperial Chemical Industries eingegliedert wurde, stellte damals »Zündschnüre und Verschlüsse« für Sprengvorrichtungen her.97 Es lässt sich nicht mehr feststellen, ob Albert Göring Frank Short über seine Tätigkeit bei Junkers oder über das Netzwerk der Wiener High Society kennenlernte und was den Ausschlag dazu gab, dass Short ihm 1936 eine Stelle im Vertrieb der Bickford & Co. AG anbot – Alberts einnehmende Persönlichkeit, seine berufliche Vorerfahrung oder seine vorteilhafte politische Einstellung. Alberts plötzliche Beförderung zum Vorstandsvorsitzenden im Jahr 1939 lässt sich dagegen leicht erklären: Grund waren der »Anschluss« Österreichs und die Gefahren, denen infolgedessen Frank Shorts jüdische Ehefrau ausgesetzt war.

Albert kam dem Ehepaar zu Hilfe. Er ermöglichte ihnen die Flucht nach Kairo und wahrte Shorts finanzielle Interessen, indem er bis zum Ende des Krieges die offizielle Führung seiner Firma übernahm. Es gelang ihm nicht nur, die nationalsozialistische Kriegsindustrie von der Übernahme des ausländischen Betriebs abzuhalten, sondern konnte, als er nach Kriegsende das Unternehmen wieder an Short übergab, sogar »für die sechs Jahre unter seiner Leitung Profite vorweisen«.98 Frank Short steht als einziger Brite auf der Liste der Geretteten, an neunundzwanzigster Stelle.

 

In Italien jedoch musste Albert Göring Anfang 1939 feststellen, dass sich alle faschistischen Diktaturen in ihrem Umgang mit der Filmindustrie ähnlich waren. Wieder musste er wie ein Zirkusclown mit einem aufgeschminkten Lächeln nach den Weisungen eines Propagandaministers Kunststückchen vollführen. Dennoch genoss er seinen Aufenthalt in Italien. Er liebte den starken Kaffee, den Wein und die Siesta-Kultur. Und er liebte die strahlende italienische Sonne, die die Schatten seines Bruders und des NS-Terrors, wenn auch nur kurzfristig, auf Distanz zu halten schien.

 

Als ich später das Interview mit Christine Schöffel noch einmal Revue passieren lasse, geht mir besonders ihre abschließende Bemerkung im Kopf herum: »Es ist wie diese Geschichte von Spielberg, wissen Sie, dieser – wie hieß noch der Film? – Schindlers Liste. Es ist dieselbe Geschichte. Es gab nämlich viele, die jüdischen Menschen geholfen haben. Es ist nicht wahr, dass niemand geholfen hat.« Aber warum haben diese Menschen so gehandelt, wie sie es taten? Oskar Schindler hatte zunächst seinen Profit im Sinn, entwickelte dann aber bald moralische Motive und wurde zum Retter vieler Juden. Sophie Scholl und ihr Bruder Hans, die Mitglieder der Weißen Rose, wurden dafür hingerichtet, dass sie in München Flugblätter gegen Nationalsozialismus und Krieg verteilten. Sie wurden von religiösen Motiven und ihrem jugendlichen Idealismus angetrieben. Raoul Wallenberg, der als schwedischer Diplomat über 15 000 ungarischen Juden das Leben rettete, erlebte den Holocaust aus nächster Nähe und wurde vielleicht von seinem humanistischen kulturellen Erbe dazu bewegt, zu handeln.

In Princeton führten 1973 zwei Sozialpsychologen eine Studie durch, um den Zusammenhang altruistischen Verhaltens mit Religiosität und verschiedenen situativen Variablen zu untersuchen. Sie fanden heraus, dass der wichtigste Faktor für einen »barmherzigen Samariter« weder die religiöse Gesinnung noch der explizit geäußerte Wunsch war, sich altruistisch zu verhalten. Entscheidend waren vielmehr die subjektiv wahrgenommenen Kosten einer altruistischen Handlung. Die Versuchsgruppe bestand aus Theologiestudenten, von denen viele nach dem Universitätsabschluss in den Kirchendienst eintreten wollten und daher besonders zu altruistischem Verhalten neigten. Die Forscher wiesen die Studienteilnehmer dazu an, in einem anderen Gebäude einen kurzen Vortrag über verschiedene mit der Kirche zusammenhängende Themen zu halten, unter anderem über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Auf dem Weg zum Vortragsort begegnete ihnen ein Schauspieler, der vorgab, Hilfe zu benötigen. Bevor sie aufbrachen, war ihnen noch mitgeteilt worden, sie seien entweder schon spät dran oder hätten bis zu ihrem Vortrag noch reichlich Zeit. Nur zehn Prozent aus der »verspäteten« Gruppe hielt an, um dem Mann zu helfen, während von der zweiten Gruppe 63 Prozent Anstalten machten, sich um ihn zu kümmern. Viele der Teilnehmer, die im Begriff waren, einen Vortrag über den barmherzigen Samariter zu halten, trampelten geradezu über den Hilflosen hinweg.99

Doch Albert Görings Verhalten scheint von jeglichen Abwägungen der Kosten und Gefahren unabhängig gewesen zu sein. Mit den Parametern der Princetoner Studie ist es nicht zu erfassen; es lässt sich keine unabhängige Variable finden, die es wissenschaftlich erklären würde. Die Erklärung für seine Handlungen liegt in seinem Innern verborgen.

Wie alle Schindlers, Scholls und Wallenbergs dieser Welt besaß Albert einen außergewöhnlich starken Sinn für Gerechtigkeit. Weder religiöse Gebote noch soziale Normen oder juristische Kenntnisse spielten dabei eine Rolle, sondern sein angeborener Gerechtigkeitssinn, der ihn zwang, zu handeln, ohne Rücksicht auf die Folgen. Dieser war weder rational noch intellektuell begründbar, sondern das Grundprinzip seiner gesamten Existenz. Diesen Teil seines Wesens zu verleugnen wäre für Albert Göring einer Selbstverleugnung gleichgekommen.