1. Der Kompass

Der Name. Sein Name ist der Grund dafür, dass er in diesem finsteren Loch gelandet ist. Es ist Mai, man schreibt das Jahr 1945 – das genaue Datum kennt er nicht –, und er findet sich als Häftling der US Army im Seventh Army Interrogation Center (Verhörzentrum der 7. US-Armee) in Augsburg wieder. Das ehemalige Mietshaus im Stadtteil Bärenkeller wird jetzt von der jüngst inhaftierten NS-Elite bevölkert, die hier ihrem Prozess in Nürnberg entgegensieht. Zehn von ihnen werden ein Jahr darauf zum Tod durch den Strang verurteilt worden sein.

In einer der improvisierten Zellen macht er sich daran, seine Verteidigung vorzubereiten. Als er sich von der Pritsche erhebt, um sich an den Schreibtisch unter dem vergitterten Fenster zu setzen, durchzuckt ihn ein reißender Schmerz; ein Nierenleiden macht ihm zu schaffen, von dem seine Bewacher nichts bemerken. Seine Frau und die kleine Tochter, die nicht ahnen, wo er sich überhaupt befindet, warten daheim in Salzburg verzweifelt auf Nachricht von ihm.

Man hat ihn beschuldigt, ein Komplize des NS-Regimes zu sein – jenes Regimes, dem er sich mit all seiner Kraft entgegengestellt und das ihn nur fünf Monate zuvor der Subversion bezichtigt hat. Der Gestapo galt er als Staatsfeind, als Dorn im Fleisch des Volkskörpers. Juden und Nichtjuden, politische und apolitische Menschen, Arier wie Slawen, Reiche wie Arme hat er beschützt, hat sie aus Konzentrationslagern befreit oder ihnen zur Flucht über die Grenzen verholfen. Doch seine Bewacher wollen von alledem nichts wissen. Für sie zählt einzig und allein sein Name.

Denn es geht hier um den jüngeren Bruder eines weiteren Gefangenen: In Zelle fünf desselben Verhörzentrums sitzt der größte Fisch, der den Alliierten ins Netz gegangen ist, der ehemalige Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring. Albert Göring – so heißt der Mann, von dem in diesem Buch die Rede sein wird – hat sich gegen Ende des Krieges im amerikanischen Counter Intelligence Corps (der Spionageabwehr-Abteilung des Heeres) gemeldet und ist sofort verhaftet worden. Nun beginnt er, seine Geschichte zu erzählen, eine phantastische Geschichte voller Heldentaten, geheimer Missionen und unfassbarer Tollkühnheiten. Er erzählt, wie er auf die herrschaftlichen Privilegien einer Kaste verzichtete, die ihn seines Namens wegen jederzeit aufgenommen hätte, und behauptet, er habe seinen Status stattdessen genutzt, das Regime von innen her anzugreifen. Er unterhält die Befrager mit Anekdoten, in denen er nur knapp der Gestapo entgeht, sich in aller Öffentlichkeit schützend vor alte jüdische Damen stellt, einen Devisenschmuggel aufbaut oder für Flüchtlinge Papiere fälscht … und man glaubt ihm nicht. Einer der Amerikaner, Major Paul Kubala, kommt zu dem Schluss: »Das Ergebnis der Vernehmung von Albert GOERING, Bruder des REICHSMARSCHALLS Herman [sic], ist einer der plattesten Versuche der Reinwaschung und Ehrenrettung, die das SAIC [Seventh Army Interrogation Center] je erlebt hat. Albert GOERINGs Mangel an Raffinesse lässt sich allenfalls noch mit der Körpermasse seines fettleibigen Bruders vergleichen.«1

Deshalb trägt er jetzt in seiner Zelle auf fünf Seiten vierunddreißig Namen zusammen, die das Unglaubliche glaubhaft machen sollen. Als Titel wählt er »Menschen, denen ich bei eigener Gefahr (dreimal Gestapo-Haftbefehle!) Leben oder Existenz rettete«. Dann folgen, in alphabetischer Reihenfolge, die vierunddreißig Namen einer kleinen Auswahl von Menschen, denen er geholfen hat, der Verfolgung zu entgehen. Er fügt ihre Titel und Berufe, ihre früheren Adressen, die Staatsangehörigkeit, den Ort der letzten Begegnung, die aktuellen Adressen, die »Art der Hilfe« sowie die »Rasse« hinzu. Dann unterschreibt er und übergibt das Dokument seinen Bewachern. Sein Schicksal liegt nun in ihren Händen.

 

Sechzig Jahre später sitze ich in den National Archives in Washington und halte eben diese Liste in den Händen, die Albert damals zusammengestellt hat. Diese fünf unscheinbaren, fleckigen Seiten sind meine erste wahre Berührung mit Albert Göring.

Aber eins nach dem anderen. Besser beginne ich in meiner Heimatstadt Sydney in Australien, auf dem Campus der University of Sydney, bei meiner Abschlussfeier. Meine Eltern sind da und schlagen sich tapfer mit den Tücken ihrer Digitalkamera herum. Mein Betreuer schüttelt mir feierlich die Hand, wildfremde Menschen wünschen mir alles Gute. Und jetzt?, fragen sie alle. Eine Dissertation in Philosophie oder Finanzwissenschaft vielleicht? Nein, ich will mich weder mit dem Doktortitel noch mit dem Windsorknoten schmücken. Stattdessen erzähle ich ihnen von der Idee, die mich seit einiger Zeit beschäftigt, von einer Geschichte, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht, seit ich einen Dokumentarfilm über den Bruder von Hermann Göring gesehen habe2*: Göring, diese Personifikation des Terrorregimes, hieß es da, hatte einen Bruder, der Widerstand leistete.

Die Vorstellung, jenes Monster, das wir aus dem Geschichtsunterricht kannten, hätte einen Oskar Schindler zum Bruder gehabt, schien mir geradezu unglaublich. Ein kurzer Besuch in der Stadtteilbibliothek, ein längerer in der Bibliothek meiner Universität und eine Konsultation der allwissenden Suchmaschine Google hatten wenig zutage befördert, das die Geschichte hätte bestätigen oder widerlegen können. Da musste doch mehr zu finden sein! War es denn möglich, dass die Leistungen eines Mannes durch die Persönlichkeit seines Bruders vollkommen ausgelöscht wurden? Der Name Göring wurde plötzlich so vielschichtig, dass ich an der Geschichtsschreibung zu zweifeln begann.

Einen Monat nach jener Abschlussfeier buchte ich ein Around-the-World-Ticket und verließ Sydney mit einem klaren Ziel vor Augen, jedoch ohne zu wissen, wie ich es erreichen sollte. Von außen betrachtet, sah alles nach einem typischen Backpacker-Abenteuertrip aus oder wie die pubertäre Weigerung, erwachsen zu werden. Doch ich hatte eine Mission: Ich wollte endlich die Spekulationen und Gerüchte von den Fakten trennen, bis Alberts wahre Geschichte zutage trat.

Und diese Mission beginnt hier, in den US National Archives, mit diesen fünf eselsohrigen Papierbögen in meiner Hand. Ich sitze in dem klinisch sauberen Lesesaal zwischen Tweedsakko- und Schnurrbartträgern und versuche mich in Albert hineinzuversetzen, der sie vor so vielen Jahren in seiner Zelle beschrieben hat. Ich frage mich, warum er aus den Hunderten von ihm geretteten Menschen gerade diese Namen wählte. Der Habsburger Erzherzog Joseph Ferdinand ist an zwölfter Stelle dabei und der glücklose österreichische Kanzler Dr. Kurt von Schuschnigg als Nummer siebenundzwanzig. Es sind alles Prominente, wird mir klar, Menschen, die man leicht finden und befragen kann, selbst heute noch.

In dem Moment beginne ich die Liste der Geretteten als Landkarte zu begreifen: als hätte Albert die gesamte Geschichte seiner Kriegsjahre in kondensierter Form in diese vierunddreißig Namen gelegt, als wäre die Liste ein Koordinatensystem. Meine Reise ins Ungewisse bekommt auf einmal eine Richtung. Die angestaubten Aktenstapel und papierenen Spuren, die ein Mensch hinterlässt, sind nur tote Überbleibsel. Doch diese Liste ist weit mehr als Papier. In ihr melden sich die Menschen zu Wort, die Albert Görings lebendiges Andenken wahren. Ihre Stimmen, das weiß ich jetzt, werden auf dieser Reise mein Kompass sein.