7. Der König von Schweden

Das Café Slavia in Prag ist, ob während der deutschen Besatzung oder unter dem Kommunismus, immer ein Treffpunkt der Dissidenten gewesen, die hier ihre umstürzlerischen Pläne schmiedeten, und der Geheimagenten, die diese Pläne zu durchkreuzen suchten. Diese Beliebtheit hat es vor allem seiner Lage zu verdanken: Auf der einen Seite fällt der Blick durch hohe Bogenfenster auf die Moldau, die Prager Burg, den Aussichtsturm Petřín und die Karlsbrücke; mit der anderen liegt das Café an der Národní Třída, in unmittelbarer Nachbarschaft des Tschechischen Nationaltheaters und der Akademie der Wissenschaften. Hinter dem Café, in der Bartolomějská Ulice, befand sich in kommunistischen Tagen das Hauptquartier der Geheimpolizei.

An diesem Tummelplatz der Verschwörer und ihrer Verfolger will ich mehr über eine bestimmte Verschwörung erfahren, die vor Jahrzehnten nicht weit von hier angezettelt wurde. Schauplatz war das vom nationalsozialistischen Deutschland besetzte Prag unter »Himmlers rechter Hand« Reinhard Heydrich, und die Verschwörer waren zwei Freunde, die eine gemeinsame Verachtung für die Nationalsozialisten verband: Albert Göring und der Großvater des Mannes, den ich hier treffen möchte, Václav Rejholec. Václavs Großvater war seinerzeit einer der führenden Mediziner seines Landes, Leiter des tschechischen Pfadfinderverbands, Überlebender der KZ Dachau und Buchenwald und Nummer sechs auf der Liste der Geretteten. Er hieß Professor Josef Charvát.

Ich betrete das Café durch den Haupteingang und fühle mich sofort nach Wien versetzt. Mit der jadegrünen und mahagonibraunen Einrichtung und dem vielen Marmor ist das Slavia ein geradezu archetypisches Wiener Kaffeehaus, ein Überbleibsel aus der Zeit, als Prag noch das »Juwel« des Habsburgerreichs war. Ich schreite staunend über den roten Teppich zwischen kleinen Marmortischchen hindurch, bewundere die Porträts früherer Besucher – darunter Hillary Clinton und Václav Havel – und drehe mich im hinteren Teil des Cafés einmal um mich selbst, bis mein Blick an einem Mann mittleren Alters im grauen Anzug hängenbleibt, der mich amüsiert zu mustern scheint.

Václav ist, genau wie sein Großvater, ein schlanker, hochgewachsener Mann mit einer tadellosen, geschäftsmäßigen Kurzhaarfrisur. Er begrüßt mich mit festem Händedruck und dem strengen Blick eines Schuldirektors, der einen ungezogenen Schüler vor sich hat. Sein erster Kommentar lautet, er habe sich mich ein wenig anders vorgestellt – wie einen distinguierten, grauhaarigen Akademiker im Tweedanzug, nehme ich an. Das kann ja heiter werden. Doch als wir erst einmal ins Gespräch gekommen sind, legt er die strenge Haltung ab und erweist sich als liebenswürdiger Mensch mit einem gewissen Hang zu schwarzem Humor. Er lacht über den Eisernen Vorhang und die absurden bürokratischen Hürden, die zwischen ihm und seiner Tante in Deutschland stehen. Auch dass das Landhaus seines Großvaters von den SS-Funktionären, die es bewohnten, wohlbehalten zurückgelassen wurde, nur um anschließend von den eigenen Landsleuten geplündert zu werden, scheint ihn sehr zu amüsieren.

Die Bedienung stellt eine duftende Tasse Kaffee vor mir ab, und als ich gerade den ersten Schluck nehmen will, sagt Václav etwas, das klingt, als sei es bereits das Ende unseres Gesprächs. »Nein, nein, es war nicht Göring, der meinem Großvater geholfen hat, sondern der König von Schweden10*. Sie kannten sich über die Pfadfinderbewegung«, sagt er, als ich ihn frage, wie es zu Charváts Erwähnung auf der Liste der Geretteten gekommen ist. Mit glühend roten Wangen, Schweiß auf der Stirn und zugeschnürter Kehle ringe ich darum, diese Mitteilung zu verdauen. All die Vernehmungsprotokolle, die Interviews, das Filmmaterial, die bisherige Geschichtsschreibung werden mit diesen zwei Sätzen vom Tisch gefegt. Václav zufolge ist all das eine einzige Lüge.

 

Es war ein Freitag, genauer genommen Freitag, der 6. August 1897, als Dr. Josef Charvát zum ersten Mal ein Krankenhaus von innen sah. Er wurde in die bescheidenen Verhältnisse einer Familie aus dem unteren Mittelstand hineingeboren, die im Prager Stadtteil Královské Vinohrady lebte. Sein Vater, ein Schlosser und Schmied, verdiente den Lebensunterhalt der Familie in einem Umspannwerk und später in einem Transportunternehmen. Josef wurde auf ein Gymnasium geschickt, damit er die Möglichkeit hatte, zu studieren. Zwar war er auch in Mathematik und den Sprachen ein begabter Schüler, doch am wohlsten fühlte er sich im Labor. Und zu seinem Labor machte er bald auch die nahen Wälder, Flüsse und Seen. Dort rundeten nicht bebrillte Professoren mit weißen Kitteln seine Ausbildung ab, sondern junge Männer in Khaki-Shorts, bestickten Hemden, knielangen Socken und breitkrempigen Hüten – die Pfadfinder, deren Leiter er später werden sollte.

Im Jahr 1916 schrieb sich Josef an der renommierten Karls-Universität für ein Medizinstudium ein.100 Doch noch bevor seine erste Vorlesung begann, musste er den Kittel gegen eine Uniform tauschen und mit seinen Landsleuten in den Ersten Weltkrieg ziehen. Josefs Artilleriedivision bombardierte an den eisigen Hängen der Dolomiten die Italiener. Er ertrug die Ratten und Läuse, überstand Schützengrabenfieber und Ruhr, überlebte die Schrecken der Westfront und Ludendorffs Frühjahrsoffensive. »Ja, da hat er ganz schön Glück gehabt«, meint Václav mit seinem spöttischen Lächeln.

Zwar dürfte Josef Charvát auch an der Front reichlich medizinisches Anschauungsmaterial gehabt haben, doch sobald es ihm der Waffenstillstand erlaubte, kehrte er heim und nahm sein Studium wieder auf. Schon 1923 erlangte er den Doktorgrad und trat im Februar desselben Jahres eine Stelle an der Prager Zweiten Klinik für Innere Medizin an. Dort praktizierte er unter Professor Josef Pelnář, der ihn dazu ermutigte, wissenschaftliches Neuland zu betreten. Mit zwei weiteren jungen Ärzten gelangen Charvát entscheidende Fortschritte im damals neuen Bereich der Endokrinologie. Bald wurde er von renommierten Universitäten in ganz Europa zu Vorträgen eingeladen. Und 1933 gab er zusammen mit seinem Mentor Pelnář das erste Fachbuch über Endokrinologie heraus.101 »Er war recht … recht erfolgreich, würde ich sagen …« Beim Aufzählen der Errungenschaften seines Großvaters gerät Václav Rejholec plötzlich ins Stocken und sieht aus dem Fenster, als suchte er die Fortsetzung der Geschichte im dichten Berufsverkehr. Als die Ampel umschaltet und der Verkehr wieder fließt, fährt auch Václav fort: »Er war einer der Ersten, der im medizinischen Bereich mit streng wissenschaftlichen Methoden forschte. Er hat viel veröffentlicht«, sagt er. Nebenher gelang es Charvát irgendwie, im Stadtteil Podolí ein Sanatorium zu betreiben, und da der inzwischen renommierte Arzt fließend Deutsch, Französisch und Englisch sprach, zog diese Einrichtung zunehmend reiche, mächtige Ausländer an. Einer von ihnen war Albert Göring.

Albert hatte inzwischen der faschistischen italienischen Filmindustrie den Rücken gekehrt und eine Stelle in dem riesigen tschechischen Maschinenbaukonzern Škoda angetreten. Dieser war vor kurzem in das Industrieimperium seines älteren Bruders, die Reichswerke Hermann Göring AG, eingegliedert worden, wie so viele tschechische Industriebetriebe seit dem Einmarsch der Deutschen in Böhmen und Mähren. Schon damals erweckte diese nepotistische Stellenbesetzung Misstrauen, umso mehr aber nach dem Ende des Krieges.

»Ihre Stelle bei Skoda haben Sie durch Vermittlung Ihres Bruders bekommen, ist das richtig?«, bohrte Lieutenant Jackson bei einer Befragung im Rahmen der Nürnberger Prozesse. Doch Albert war stolz auf seine Qualifikationen als Ingenieur und bestritt diese Behauptung. »Nein, ganz im Gegenteil. Ich wurde von einigen tschechischen Herren gebeten zu kommen, und ein Mann namens Bruno Seletzky [sic] kam eigens nach Wien, um mich zu bitten, für die Skoda-Werke zu arbeiten.« Dann betont er: »Ich musste meinen Bruder um Erlaubnis bitten, um dort arbeiten zu können.«102 Jackson versuchte, Albert Göring eine Beteiligung an den Verbrechen seines Bruders nachzuweisen, doch Alberts Aussage lässt sich durchaus stützen.

Knapp zwei Monate nachdem die ersten deutschen Panzer am 15. März 1939 die tschechische Grenze überquert hatten, erfuhr Bruno Seletzky, Škodas damaliger Exportleiter für den Balkan, in Wien von geheimen Plänen der Reichswerke Hermann Göring AG. Demnach wollten Škodas neue Eigentümer nicht nur die tschechische Führungsriege beseitigen, sondern den gesamten Konzern auflösen und sein Kapital auf andere Reichswerke-Betriebe verteilen. Das konnte nur durch drastische Maßnahmen verhindert werden, und was hätte drastischer und mutiger sein können, als den rebellischen Bruder des Reichswerke-Leiters zu Hilfe zu holen?

Seletzky kannte aufgrund ihrer Bekanntschaft aus Wiener Zeiten Albert Görings Einstellung zum Nationalsozialismus. Er wusste, dass der österreichische Staatsbürger die geplanten Maßnahmen verhindern konnte. Albert würde Škodas Interessen vertreten, koste es, was es wolle. Deshalb besprach Seletzky sich im Škoda-Hauptquartier in Prag mit dem Präsidenten des Verwaltungsrats Vilém Hromádko und dem Generaldirektor Adolf Vamberský, die beide von seiner Idee begeistert waren, Albert eine Stelle anzubieten.

Nachdem Seletzky Albert im italienischen San Remo aufgesucht und ihm seinen Vorschlag unterbreitet hatte, fuhren die beiden zusammen nach Prag zurück, wo Göring Hromádko, Vamberský und den Rest des Verwaltungsrats kennenlernte. Da Albert die berufliche Veränderung suchte und Škoda einen Beschützer, wurde man sich bald einig und unterzeichnete am 4. Mai 1939 den Anstellungsvertrag. Später wurde auf Alberts Betreiben hin Generalmajor Karl von Bodenschatz, Hermann Görings persönlicher Adjutant und Vertrauter aus Zeiten des Ersten Weltkriegs, zum Treuhänder ernannt und diente dem jüngeren Göring als direkter Draht zu seinem Bruder nach Berlin.

Nach einem Jahr Einarbeitungszeit in Prag übernahm Albert Seletzkys Posten als Exportleiter für die Balkanstaaten (Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland) sowie für Italien und die Türkei. Sein Jahreseinkommen betrug 600 000 tschechische Kronen.103 Dazu kam später eine Verkaufsprovision von vier Prozent.104

Sobald Albert am 1. Juni 1939 seine Stelle in der Konzernzentrale angetreten hatte, zeigte sich, dass Seletzkys Umsicht sich auszahlen würde. Seletzky selbst, die Nummer achtundzwanzig auf der Liste der Geretteten, konnte unter Alberts Schutz in die Schweiz fliehen, als die SS ihm Umtriebe gegen die Interessen des Reichs anlastete.105 Wie erhofft, setzte sich Albert außerdem für die Souveränität der tschechischen Unternehmensleitung ein und stellte sich der Ausbeutung durch den Mutterkonzern entgegen.

Bereits vor Albert Görings Eintritt in das Unternehmen hatte das Deutsche Reich auf Škodas Führungsstruktur massiv Einfluss genommen. Unternehmensleiter war der SS-Mann Dr. Wilhelm Voss, der bis zu Bodenschatz’ Berufung auch Treuhänder gewesen war. Im Verwaltungsrat saßen bereits sieben Reichsdeutsche, darunter zwei Vertreter der Dresdner Bank sowie der Leiter der Abteilung Wirtschaft des Protektorats Böhmen und Mähren, Walter Bertsch. Hromádko und Vamberský waren die einzigen verbliebenen Tschechen. Auch die meisten Geschäftsführungspositionen in Škodas Tochterunternehmen waren mit Deutschen besetzt.106 Und dann gab es noch Albert Göring.

»80 000 Tschechen arbeiteten in den Fabriken, und sie wollten unter tschechischer Leitung arbeiten, während diese Leute [die deutschen Eigentümer] den Konzern ganz unter deutsche Leitung stellen wollten; und ich reiste öfter nach Berlin, um mit meinem Bruder Hermann zu reden und ihm zu erklären, dass das unmöglich sei. Ich sagte ihm, wenn er aus den Skoda-Werken Nutzen ziehen wolle, müssten sie unter tschechischer Leitung bleiben, weil die Arbeiter sonst nicht kooperieren würden«, gab Albert in Nürnberg dem Vernehmungsoffizier Jackson zu Protokoll.107 Er wusste offenbar, wie er seinen Bruder zu manipulieren hatte, und legte sich regelmäßig mit Škodas deutscher Führungsriege an.

Doch nicht nur mit seinem Einsatz für die tschechische Konzernleitung sorgte Göring bei Škoda für Unruhe. Bei der Gerichtsverhandlung in Prag sagte der Zeuge Vilém Hromádko: »Göring sprach sich immer offen gegen den Nationalsozialismus aus, oft sogar so offen, dass ich lieber auf seine Gesellschaft verzichtete … Er setzte sich immer für die Interessen der Škoda-Werke und der tschechischen Belegschaft ein. Soweit ich weiß, hat er nie den Deutschen Gruß benutzt, und in seinem Büro hing kein Hitlerfoto, obwohl das obligatorisch war. In meiner Gegenwart und auch in der Gegenwart der anderen tschechischen Geschäftsführer hat er sich immer offen gegen Hitler ausgesprochen.«108

Von der ersten Begegnung mit Albert Göring blieb Josef Charvát nur in Erinnerung, dass dieser in Begleitung einer jungen hübschen Ungarin war. Das zweite Treffen war da schon folgenschwerer. Alberts zweite Frau Erna, mit der er die längste seiner vier Ehen führte, litt an einer Form von Lungenkrebs. Auf Empfehlung seines neuen Vorgesetzten Hromádko bat Göring Charvát um Hilfe. Er wollte für Erna eine Überweisung in ein Schweizer Sanatorium und die notwendigen Papiere, damit sie durch das besetzte Österreich dorthin reisen konnte. Charvát hatte zunächst Vorbehalte, einem Bruder Hermann Görings behilflich zu sein. Doch als Albert ihm versicherte, er sei »ein österreichischer Staatsbürger und weder Parteimitglied noch überhaupt an Politik interessiert«, willigte er schließlich ein.109

Als die beiden Freunde wurden, gab Albert jede Zurückhaltung auf. Er sagte zu Charvát, »Hitler und seine Clique« seien »Lustmörder«, Hitler sei »kein Deutscher, sondern Österreicher« und Albert »schäme sich für Deutschland«. Zudem versorgte er Charvát mit wertvollen Informationen über die Kampfmoral der deutschen Truppen und den Kriegsverlauf.110

Doch an diesem Wendepunkt seines Lebens wurde Alberts moralischer Kompass durch den Beginn einer neuen Liebesaffäre außer Kraft gesetzt. Kurz nachdem die schwerkranke Erna in die Schweiz aufgebrochen war, ließ er sich nach sechzehn Ehejahren von ihr scheiden. Während sie im Sanatorium hilflos den Verfall ihrer Ehe und ihrer letzten Lebensenergien mit ansehen musste, warb er um die ehemalige tschechische Schönheitskönigin Mila Klazarová. Sie war zwanzig Jahre jünger als er, aus elitärer Familie, ein Liebling der High Society und der Haute Couture. Das perfekte Gegenstück zu Albert. »Meine Mutter war sehr, sehr hübsch. Mein Vater hat sich sofort in sie verliebt«, erinnert sich Elizabeth Goering11*, Alberts einzige Tochter. »Und nach dem, was ich in den Papieren nachlesen kann, von den Briefen und dem, was er hinterlassen hat, haben sie sich sehr geliebt.«111

Albert lernte seine spätere dritte Ehefrau bei einem Ball in der Schweizer Botschaft über den Botschafter, Konsul Greub, und dessen Verlobte Berta Stranska kennen. Mit Greubs Hilfe sollte Albert später einen Geldschmugglerring aufbauen: Die Verbindungen des Botschafters zur Schweizer Bankenwelt und seine Privilegien als Diplomat ermöglichten es Albert, Geld auf Schweizer Konten zu transferieren, um jüdischen Flüchtlingen zu helfen.112 Aus einem Bericht des Sicherheitsdienstes (SD)12* geht hervor, dass man dort um diese Aktivitäten wusste. Vor dem Hintergrund von Himmlers ständigen Versuchen, Hermann Görings Macht zu untergraben, ging der SD jedoch davon aus, der Transfer solle dazu dienen, Hermanns Vermögen in der Schweiz in Sicherheit zu bringen.113

Nicht lange nachdem im Ballsaal der Schweizer Botschaft der Funke übergesprungen war, kam es zur Verlobung. Mila Klazarová besaß die Proportionen amerikanischer Pin-up-Models und dazu ein Engelsgesicht mit großen Augen und Apfelbäckchen. Doch für die Gestapo war sie als Slawin nichts als ein »Untermensch«. Reinhard Heydrich, der Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, war entsetzt darüber, dass der Bruder eines Vorzeigeariers jemanden wie sie heiraten wollte. Um sein Missfallen angemessen zum Ausdruck zu bringen, sandte er einen Gestapo-Trupp aus, der das Haus ihrer Familie auf den Kopf stellte.

Dieses Ereignis löste auch im Berliner Büro von Hermann Göring Erschütterungen aus. Hermann hatte von der Verlobung seines Bruders bis dahin gar nichts gewusst. Göring, der mit dem sogenannten Forschungsamt (FA) einen eigenen Überwachungsdienst leitete, war bloßgestellt. Sofort zitierte er seinen Bruder zu sich. Doch Albert Göring blieb standhaft: Er erklärte, da er kein Parteimitglied sei, könne er tun, was er wolle. Offenbar gelang es ihm tatsächlich, Hermann zu überzeugen, denn der beauftragte seinen Adjutanten Bodenschatz damit, die Sache mit Heydrich zu bereinigen.114

Albert und Mila ließen sich nicht beirren. Am 23. Juni 1942 gaben sie sich in Salzburg das Jawort und verbrachten ihre Flitterwochen auf Burg Mauterndorf, dem Märchenschloss aus Alberts Kindheit. Hermann Göring blieb der Zeremonie fern. Er hatte das Paar zwar gegen Heydrich verteidigt, doch seinen Segen gab er ihrer Beziehung nicht. Albert bemerkte später: »Er hat mir zur Hochzeit nicht einmal ein Geschenk geschickt und ebenso wenig zur Taufe meiner Tochter.«115

 

»Frühmorgens um sechs kamen zwei oder mehr deutsche Soldaten in Uniform, um meinen Vater festzunehmen. Sie befahlen ihm, sich anzuziehen, denn er war noch nicht angezogen. Meine Mutter war sehr, sehr verzweifelt. Sie wäre fast ohnmächtig geworden. Sie nahmen meinen Vater mit, und niemand wusste, was da vor sich ging oder wo sie ihn hinbrachten«, erinnert sich Jiřiná Rejholvová, die Tochter Josef Charváts und verstorbene Mutter meines Gesprächspartners Václav, in einem Interview.116 Am Tag des Einmarsches in Polen, am 1. September 1939, wurde Charvát zusammen mit zahlreichen anderen tschechischen Intellektuellen und Politikern in Heydrichs Folterkeller im Pancrác-Gefängnis verschleppt.

Er wurde weder angeklagt, noch bekam er je einen Gerichtssaal von innen zu sehen, sondern fristete die Tage im Dunkel seiner Zelle, ohne auch nur zu ahnen, warum er dort war. Doch selbst wenn seine Bewacher ihm den Grund genannt hätten, wäre es ihm schwergefallen, ihnen zu glauben. Ihm wurde zur Last gelegt, Anführer einer Vereinigung von Kindern und Jugendlichen zu sein. Der deutsche Staatssekretär beim Reichsprotektor Böhmen und Mähren, Karl Hermann Frank, hatte die tschechische Pfadfinderorganisation Junák, die drittgrößte ihrer Art in Europa, mit Beginn der deutschen Besatzung sofort als Konkurrenz zur Hitlerjugend begriffen und verboten. Damit war Charvát zum Anführer einer illegalen Vereinigung und zur »politischen Bedrohung« für das Reich geworden.

Charvát verbrachte neun Tage im Pankrác-Gefängnis und wurde dann mit zahlreichen anderen Gefangenen per Zug ins Konzentrationslager Dachau deportiert.117 Das bereits 1933 durch den damaligen Münchner Polizeipräsidenten Heinrich Himmler errichtete Lager war inzwischen ein wichtiges Werkzeug zur Ausschaltung Oppositioneller und zur Gleichschaltung der deutschen Bevölkerung. Da in Dachau hauptsächlich politische Häftlinge untergebracht wurden, waren die Bedingungen dort graduell besser als in anderen Konzentrationslagern. Dennoch erlebten die Häftlinge Folter, Zwangsarbeit, Krankheiten, Selektion, Mangelernährung und willkürliche Exekutionen. Ein ehemaliger Insasse beschreibt die Haftbedingungen wie folgt: »Während der Arbeit wurden die Bewegungen unsicherer, manchen fiel das Werkzeug aus den Händen – in unserer Gruppe wurden solche Sachen mit einem Schlag mit dem Gewehrkolben bestraft. Es gab auch solche, die von Gerüsten fielen, Schwellen schleppend über die Schienen stolperten und unter die Räder der Züge gerieten.«118 Glücklicherweise wurde Charvát schon bald in eine Abteilung für »Sonderhäftlinge« verlegt, wo ihm die mörderische Zwangsarbeit erspart blieb.

Ab dem 27. September 1939 wurde das KZ Dachau vorübergehend als Trainingslager für die SS-Totenkopfverbände genutzt, eine vor allem in Konzentrationslagern eingesetzte Sondereinheit. Die Insassen wurden nach Mauthausen, Flossenbürg und Buchenwald verlegt. Letzteres wurde Josef Charváts neuer Aufenthaltsort.

Als Charvát in Buchenwald eintraf, wurde das Lager gerade von Masern und Ruhr heimgesucht. Charvát ließ sich von den widrigen Umständen nicht schrecken und etablierte zusammen mit anderen tschechischen Ärzten ein Hygiene- und Behandlungsschema, um die Epidemien unter Kontrolle zu bringen. Einmal impfte er eine ganze Zugladung voller polnischer Gefangener gegen die Masern.119 »Und er hat mir erzählt, dass sogar die deutschen Ärzte seine Leistungen anerkannten, weil er ihnen damit Arbeit und Sorgen ersparte, wissen Sie«, erzählt Václav und flüchtet sich wieder in seinen grimmigen Sinn für Humor. Zwei Monate lang übernahm sein Großvater die Rolle des Lagerarztes, bis er plötzlich, am 23. November 1939, wie durch ein Wunder freikam. Mit ihm wurde ein weiterer Häftling gleichen Namens entlassen. Wenig später saßen die beiden ausgemergelten Gestalten bereits im Zug nach Prag und grübelten, was zu ihrer überraschenden Freilassung geführt haben könnte.

»Plötzlich hörte ich lautes Weinen aus dem Flur. Wir hatten damals noch eine Hausgehilfin. Ich sprang aus dem Bett, und mein erster Gedanke war: Papa ist tot!«, erzählt Jiřiná Rejholvová, Charváts Tochter. »Ich rannte also barfuß, im Nachthemd in den Flur. Meine Mutter und die Hausgehilfin weinten beide. Und der Hund sprang bellend um sie herum. Mein Vater war da, in geliehener Kleidung. Er war sehr dünn. Unser Hausmädchen, das seit elf Jahren für uns arbeitete, hatte ihn nicht erkannt. Als er klingelte, öffnete sie die Tür und sagte: ›Was wollen Sie?‹ Und er sagte: ›Slavka, erkennst du mich denn nicht?‹«120 Nach den Beschreibungen seines Aussehens bei der Entlassung aus dem Lager konnte man es der Hausgehilfin kaum vorwerfen, dass sie ihren Arbeitgeber nicht erkannte. Václav ringt nach Worten: »Ich habe eine Art Skulptur … eine kleine Figur, die einer seiner Mitgefangenen gemacht hat. Daran kann man gut sehen, wie dünn er war. Seine Nase … kein Gesicht, wissen Sie!« Charvát war also frei, doch wer hinter seiner Freilassung steckte, blieb ein Rätsel.

 

Ich hatte meinen ersten Eindruck von Charváts Fall dem britischen Dokumentarfilm The Real Albert Goering zu verdanken. Dieser vertritt, gestützt auf Interviews mit Jiřiná Rejholvová und mit Christine Schöffel, der Tochter von Alberts gutem Freund Ernst Neubach, die These, Albert Göring habe Charváts Freilassung erwirkt. »Er fand den Briefkopf seines Bruders Hermann Göring, und er schrieb in Hermann Görings Namen einen Brief an den Lagerkommandanten in Dachau, Dr. Charvát solle freigelassen werden. Das Problem war nur: Als der Lagerkommandant diesen Brief bekam, wusste er nicht, was er tun sollte, weil es zu der Zeit in Dachau zwei Dr. Charváts gab. Also ließ er beide frei.« So schildert Christine Schöffel in dem Dokumentarfilm die Ereignisse.121 Nach dieser Aussage und einer Überleitung mit triumphaler Musik beschreibt Jiřiná Rejholvová die Heimkehr ihres Vaters, was den Eindruck erweckt, ihre Familie sei derselben Ansicht.

Ich hatte keinen Grund, an dieser Darstellung zu zweifeln, denn bei meinem Besuch im Nationalarchiv in Washington fand ich Dr. Charvát auf der Liste der Geretteten an sechster Stelle. In Deutschland besorgte ich mir dann die Kopie eines Zeitschriftenartikels von Ernst Neubach mit dem Titel »Mein Freund Göring«. Da Christine die ganze Geschichte von ihrem Vater gehört hatte, war es wenig verwunderlich, dass dieser Artikel sie bis auf kleinere Abweichungen stützte. Neubach wiederum hatte die Geschichte aus dem Mund Albert Görings gehört. Seiner Version nach entwendete Albert nicht das Briefpapier seiner Bruders und fälschte auch nicht seine Unterschrift, sondern benutzte Briefbögen, auf denen der Name und das Wappen der Familie abgebildet waren, und unterschrieb nur mit »Göring«.122 Wenn das stimmt, war Alberts Vorgehen geradezu genial. Technisch gesehen, konnte man ihm keinen Betrugsversuch nachweisen, folglich konnte er nicht belangt werden, wenn der Coup aufflog. Als Mitglied der Familie Göring hatte er das Recht, ihr Wappen im Briefkopf zu führen und mit »Göring« zu unterzeichnen. Den Brief zu interpretieren blieb allein dem Lagerkommandanten überlassen, und dieser ging offenbar davon aus, dass er von seinem mächtigen Vorgesetzten stammte, nicht von dessen findigem kleinem Bruder.

Und schließlich nahm ich im Tschechischen Staatsarchiv Einsicht in das auf den 17. Dezember 1946 datierte Vernehmungsprotokoll, welches im Auftrag des Innenministeriums erstellt worden war. Darin behauptete Albert Göring: »Zu einem Zeitpunkt, den ich nicht mehr genau benennen könnte, traten die Frau des Professors Josef CHARVÁT und der Arzt Dr. BLAZIL, der auch meine Frau betreute, an mich heran und baten, mich für ihren Mann einzusetzen … Ich schrieb einen Brief an die Lagerleitung und sorgte für CHARVÁTS Freilassung.« In demselben Dokument ist auch Alberts Aussage verzeichnet, er habe einem Dr. Diviš, dem Sohn eines weiteren Medizinprofessors, in ganz ähnlicher Weise geholfen: »Der Sohn von Professor DIVIŠ war während der Studentenunruhen 1939 verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht worden. Auch in seinem Fall wandte ich mich an die Lagerleitung und erwirkte seine Freilassung.«123 Professor Diviš steht auf Alberts Liste an siebter Stelle.

Angesichts all dieser Belege hatte ich erwartet, von Charváts Enkel eine ähnliche Geschichte zu hören …

Aber nein: »Es war nicht Göring, der meinem Großvater geholfen hat, sondern der König von Schweden. Sie kannten sich über die Pfadfinderbewegung.« Mit diesen simplen Sätzen zieht mir Václav unvermittelt den Boden unter den Füßen weg. »Das war 1939 oder 1940. Und einer der Anhänger dieser Pfadfinderbewegung war eben der König von Schweden, der in Deutschland Kontakte hatte. Also hat er über seine Geheimkanäle ein paar hochrangige Funktionäre darum gebeten, Charvát freizulassen.« Nach unserem Interview kaufte ich mir auf Václavs Empfehlung hin in einer Prager Buchhandlung eine Ausgabe von Charváts Memoiren. Erst in Freiburg, als ich einige Textpassagen hatte übersetzen lassen, lernte ich Charváts eigene Version der Ereignisse kennen. Auf S. 18 seiner Memoiren mit dem Titel Můj labyrint světa. Vzpomínky, zápisky z deníků (Mein Weltenlabyrinth. Erinnerungen und Tagebuchnotizen), die erst neunzehn Jahre nach seinem Tod 1984 erschienen sind, heißt es: »Es mag paradox klingen, doch die Pfadfinderei hat mir das Leben gerettet. Als Prinz Gustav Adolf von Schweden (der Vorsitzende des schwedischen Pfadfinderverbands und nach vielen Jamborees mein guter Freund) von meiner Verhaftung hörte, legte er bei Hitler persönlich Einspruch ein – und deshalb wurde ich aus Buchenwald entlassen.«124 Charvát schreibt also nicht nur, dass er von Schwedens Erbprinz Gustav Adolf gerettet wurde, sondern dass man ihn aus Buchenwald entließ, nicht aus Dachau, wie es meine bisherigen Quellen behaupteten.

Weitere Nachforschungen ergaben, dass Charvát den Prinzen bei dem Besuch mehrerer Jamborees (Pfadfindergroßlager) unter anderem in Budapest, Rumänien und Holland kennengelernt hatte. 1937 besuchte er sein letztes Jamboree als Vorsitzender der Junák das internationale Pfadfindergroßlager in Stockholm. Dort wurde er von Prinz Gustav Adolf und seiner Frau, Prinzessin Sybilla, zu einem königlichen Festmahl eingeladen. Es sollte ihre letzte Begegnung werden, denn am 26. Januar 1947 starb der Prinz bei einem tragischen Flugzeugunglück.

Gustav Adolf, von der schwedischen Öffentlichkeit der Tyskprins (der deutsche Prinz) genannt, hatte aufgrund seiner Deutschlandbesuche in den 1930er Jahren enge Verbindungen zu mehreren hochrangigen Nationalsozialisten. Es existiert sogar ein 1939 aufgenommenes Foto von Gustav Adolf mit seinem Großvater König Gustav V. und Hermann Göring, der seit seiner Heirat mit Carin von Kantzow seinerseits Beziehungen zum schwedischen Adel unterhielt. Dieser Variante zufolge müsste der Prinz also irgendwie von Charváts Lage erfahren und sich bei Hitler persönlich für seine Freilassung eingesetzt haben. Wenn es so war, dann hatte Charvát der Pfadfinderbewegung nicht nur seine Verhaftung, sondern auch seine Freilassung zu verdanken.

Um herauszufinden, welche der zwei Versionen stimmte, suchte ich anschließend nach Belegen für Charváts Sicht der Dinge. Ich erkundigte mich nach Experten für die Geschichte der schwedischen Königsfamilie und stieß auf Per Svensson, dessen Werk Han som aldrig fick bli kung – Berättelsen om Carl XVI Gustavs pappa (Er, der nie König werden sollte. Die Geschichte von dem Vater Gustavs XVI.) sich ausschließlich mit dem Leben Prinz Gustav Adolfs befasst. Auf meine Fragen hin bestätigte er, dass der Prinz ein begeistertes Mitglied der Pfadfinderbewegung war und während des Zweiten Weltkriegs als Vorsitzender ihres internationalen Komitees fungierte. Svensson wusste auch zu berichten, dass sich Gustav Adolf für Pfadfinderorganisationen einsetzte, die unter deutscher Besatzung verboten worden waren. Was Josef Charvát anging, konnte er jedoch nur sagen, dass ihm der Name in seiner bisherigen Forschungsarbeit nicht untergekommen war, geschweige denn Hinweise auf eine Intervention Gustav Adolfs zugunsten des tschechischen Mediziners.125

Als Nächstes untersuchte ich, ob Charváts Peiniger in Buchenwald hilfreiche Dokumente hinterlassen hatten. Ich kontaktierte die Archivarin der Gedenkstätte Buchenwald, die jedoch nur bestätigen konnte, dass Josef Charvát am 27. September 1939 zusammen mit 2000 weiteren Häftlingen von Dachau nach Buchenwald verlegt wurde. Seine Häftlingsnummer lautete 35163, und er wurde, wie in seinen Memoiren beschrieben, am 23. November aus Block 47 desselben Lagers in die Freiheit entlassen.126 Beide Quellen konnten also die Beteiligung des schwedischen Erbprinzen weder bestätigen noch widerlegen.

Eine Zeitlang wusste ich nicht weiter, bis ich mich noch einmal näher mit Charváts Memoiren befasste und eine weitere Schlüsselstelle fand: »Er [Albert Göring] war ein aufrichtiger Kerl, an den ich mich gern erinnere. Von ihm erfuhr ich später, warum ich ins Konzentrationslager geschickt und wie ich so plötzlich wieder daraus entlassen wurde.«127 Also stammte die Behauptung, Gustav Adolf habe Charvát aus dem Lager befreit, von niemand anderem als Albert Göring. Nur er und vielleicht der Lagerkommandant kannten die Wahrheit. Doch warum hätte Albert Josef Charvát eine andere Geschichte erzählen sollen als allen, mit denen er später über den Fall sprach?

Es wäre durchaus möglich, dass Albert bei seiner Vernehmung in Prag von dem Einsatz für den renommierten, allseits beliebten tschechischen Mediziner erzählte, um seine Position zu stärken. Vielleicht fand er anschließend selbst Gefallen an der Geschichte und erzählte sie deshalb nach dem Krieg seinen Freunden weiter, die ihrerseits zu ihrer Verbreitung beitrugen. Allerdings gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass so ein Manöver typisch für ihn oder überhaupt notwendig gewesen wäre. Während der Verhandlungen gab es zahllose Zeugenaussagen angesehener tschechischer Bürger, die von seinem Einsatz für ihre Landsleute berichteten. Alberts Kollegen aus den Škoda-Werken, Geschäftspartner, denen er als Exportleiter begegnet war, und Freunde aus seinen Tagen bei Tobis-Sascha in Österreich bestätigten seine Beteuerungen. Zudem war Albert kurz zuvor von den Amerikanern freigesprochen worden, die, sosehr sie ihm an den Kragen wollten, in fünfzehn Monaten nichts fanden, was sie ihm hätten anlasten können. Warum hätte er also lügen und seine Glaubwürdigkeit gefährden sollen? Die Rettung eines weiteren tschechischen Staatsbürgers hätte seine Verteidigung nicht wesentlich überzeugender gemacht, somit waren die Kosten dafür, bei einer Lüge ertappt zu werden, weit größer als deren potentieller Nutzen.

Dagegen scheint es nicht unwahrscheinlich, dass Albert Göring Charvát selbst die Wahrheit vorenthielt, um keinen der Beteiligten in Gefahr zu bringen. Schließlich hatte er mit seinem Brief an die Lagerleitung bewusst den erklärten Willen des Regimes unterlaufen. Auch ist offensichtlich, dass Himmler und die SS spätestens seit Alberts Verhaftung 1938 begierig auf eine Gelegenheit warteten, ihn – und mit ihm seinen Bruder – zu Fall zu bringen.

Bereits vor seinem Arbeitsantritt in den Škoda-Werken 1939 stapelten sich bei der SS Berichte über Alberts »terroristische Akte« gegen das Reich. Von Kriegsgerichtsrat Ehrhardt, Hermann Görings persönlichem Berater, hatte Albert erfahren, dass die Gestapo in einem ihrer Berichte bereits die Frage stellte: »Wie lange soll dieser Staatsfeind noch so weitermachen dürfen?« Zudem war ihm bekannt, dass die Gestapo von einer Äußerung wusste, die er im engsten Freundeskreis gemacht hatte: Albert hatte mit einem subtilen Sprachspiel Adolf Hitler nicht als GRÖFAZ, als größten Feldherrn aller Zeiten bezeichnet, sondern als größten Verbrecher aller Zeiten, also GRÖVAZ.128 Er wusste daher nur zu gut, was ihm blühte, wenn die SS jemals von seiner Widerstandstätigkeit erfuhr. Haft, Folter oder die Todesstrafe wären für ihn und seine Komplizen die Folge gewesen. Im nationalsozialistisch besetzten Europa war Schweigen lebensnotwendig. Himmler hatte einen Polizeistaat errichtet, dessen raffiniertes System aus Überwachung und Denunziation Orwell’sche Ausmaße hatte.

Auch lange nach Kriegsende und Himmlers Selbstmord erzählte Albert Göring nur engen Freunden und seiner Familie von seinen Aktivitäten während des Krieges. Einige seiner Schützlinge erfuhren sogar nie, wer ihnen geholfen hatte. Diesen Hang zur Geheimhaltung illustriert die Aussage von Jarmila Modra, der Schwiegertochter des stellvertretenden kaufmännischen Leiters der Škoda-Werke Josef Modrý, in dem Dokumentarfilm The Real Albert Goering. Mit Bezug auf die Verhaftungswelle als »Vergeltung« für das Attentat auf Reinhard Heydrich am 27. Mai 1942 berichtete sie: »Er [ Josef Modrý] hat erzählt, dass Albert vor allem finanziell den Familien der verhafteten Škoda-Arbeiter half. Und dass er sie auf jede erdenkliche Weise unterstützte. Aber niemand wusste, dass er es war. Selbst die, die Geld bekamen, wussten nicht, woher es kam und wer es geschickt hatte.«129 Als ich selbst mit Jarmila sprach, stellte sich zudem heraus, dass ihr Schwiegervater ihr ebenfalls erst nach dem Krieg von Albert Göring und seinen Aktivitäten erzählt hatte; vorher war es einfach zu gefährlich gewesen, solche Informationen zu verbreiten.130

Ein gewisses Maß an Vertraulichkeit war also notwendig, damit Albert auf freiem Fuß blieb und seinen Widerstand gegen das NS-Regime fortsetzen konnte. Wenn er tatsächlich hinter Charváts Freilassung steckte, war es im Interesse aller Parteien, dass er seine Beteiligung leugnete, selbst wenn er dazu einen angeblichen blaublütigen Wohltäter ins Spiel bringen musste.

 

Tags darauf beschließe ich, mir Charváts ehemalige Adresse in der Resslova Ulice unweit des Café Slavia anzusehen. Dort erwartet mich kein neugotisches, neobarockes oder Jugendstil-Wohngebäude, sondern ein Höhepunkt der architektonischen Moderne. Václav hatte mir, wieder mit einem finsteren Glucksen, bereits erzählt, dass gegen Ende des Krieges, am 14. Februar 1945, während eines fehlgeleiteten amerikanischen Luftangriffs eine Bombe das Wohnhaus zerstörte. 1996 erzitterte hier wieder die Erde, doch diesmal im Namen der Kunst und der Musik. Die von dem berühmten kanadischen Architekten Frank O. Gehry entworfene Touristenattraktion, welche nach Jahren die Baulücke schloss, sieht aus wie das legendäre Tanzpaar Ginger Rogers und Fred Astaire und wird deshalb auch das Tanzende Haus genannt.

Ich laufe die Straße weiter hinunter und komme an eine orthodoxe Kirche. In ihrer grauen, verwitterten Sandsteinfassade gibt es ein schmales horizontales Fenster, das an eine Schießscharte erinnert. Um das Fenster herum ist das Mauerwerk von Einschüssen gesprenkelt, die von großkalibriger Maschinengewehrmunition zu stammen scheinen. Darüber hängt eine Gedenkplatte zur Erinnerung an zwei in England geschulte tschechische Agenten, Jan Kubiš und Jozef Gabčík, die an dem Attentat auf Reinhard Heydrich beteiligt waren. Sie wurden mit Fallschirmen über der besetzten Tschechoslowakei abgesetzt, legten sich an einer Kreuzung im Prager Vorort Libeň auf die Lauer und griffen Heydrichs Cabriolet mit einer Panzerabwehrgranate an. Sofort begann die Jagd auf die Täter, die schließlich hier, in dieser Kirche, mit einem Feuergefecht und dem Selbstmord der beiden Märtyrer endete.

Vor diesem Showdown hatte die Gestapo sämtliche umliegenden Wohnhäuser nach den Agenten durchsucht. Als das Gebell ihrer Schäferhunde durch die Nachtluft hallte, vernichtete Josef Charvát alle Notizen, Adresslisten, Tagebücher und Briefe, die er vor und während des Krieges angesammelt hatte. Mit ihnen verschwanden auch die Planungen der tschechischen Widerstandsbewegung – seit seiner Freilassung aus Buchenwald war er aktives Mitglied dieser Bewegung und half seinen Landsleuten, aus der besetzten Tschechoslowakei zu fliehen.

Dass Charvát die Lagerhaft überlebte, ermöglichte es ihm, ebenso wie Albert Göring das nationalsozialistische Regime zu bekämpfen. Er und viele andere, die Albert rettete, wurden Teil einer Kettenreaktion, die zahllose Menschen in ganz Europa erfasste. Die Namen auf der Liste der Geretteten ergeben, wenn man die Schicksale dahinter kennt, ein Netzwerk von Überlebenden, die andere unterstützten und sie dazu inspirierten, es ihnen gleichzutun. Albert hat vielen Menschen geholfen, doch er war sich immer bewusst, dass ihr Überleben – und nicht seine Anerkennung als Retter – die entscheidende Voraussetzung war, um noch unzählige andere zu retten.