2. Nimmerland

Von meinem Fenster blicke ich auf den Schwarzwald, den gerade dichter Nebel in eine märchenhafte Aura hüllt. Hier könnte jederzeit ein kleines Mädchen mit leuchtend roter Kappe vom Weg abkommen, und eine Prinzessin, weiß wie Schnee, könnte mit ihren kleinwüchsigen Verehrern hinter dem nächsten Hügel leben. Es ist das Reich der Brüder Grimm und seit neuestem mein Zuhause. Hier möchte ich meine Suche nach der wahren Geschichte der Göring-Brüder beginnen.

Ich lebe in einer Wohngemeinschaft in Wiehre, einem besonders pittoresken Viertel der Bilderbuchstadt Freiburg, nahe der französischen und der Schweizer Grenze. Wenn ich will, kann ich in Deutschland frühstücken, in der Schweiz zu Mittag essen und pünktlich zum Abendessen in Frankreich sein. Die Stadt ist eine Art Nimmerland für Hippies, Ökos, Punks, studentische Aktivisten in Palitüchern und allerhand Sonderlinge, die von der rauen Realität um sie herum nichts wissen wollen. Hier ist ihr Refugium, in dem sie sich selig treiben lassen und die Schlechtigkeiten und Verbindlichkeiten der Erwachsenenwelt getrost vergessen können.

Als ich beschloss, in diese altehrwürdige Universitätsstadt zu ziehen, malte ich mir aus, dass ich in ein geistiges Milieu eintauchen würde, aus dem der nächste Friedrich Nietzsche hervorgehen könnte, der nächste Günter Grass oder Karl Marx. Aber bis auf die andere Sprache und die Verbindungsfeten habe ich hier dieselbe bierselige Kumpanei vorgefunden wie in meiner letzten Studentenstadt: in »Happy Valley«, einem der Standorte der Pennsylvania State University, wo ich ein Austauschjahr zugebracht habe. Die europäische Kultiviertheit lässt also vorerst auf sich warten, doch Freiburg hat auch so einiges zu bieten. Jägermeister für unter einem Euro zum Beispiel.

 

Um meine Forschungen zu finanzieren, habe ich einen Job im hiesigen Irish Pub angenommen. Ein echter Traumjob mit nur einem Haken: Meine Chefin teilt mich immer nur für ein paar Schichten pro Woche ein. Seitdem bin ich unfreiwilliger Vegetarier. Mein Speiseplan besteht überwiegend aus Kohlenhydraten: Kartoffelpüree, selbstgemacht oder aus der Tüte, sowie Nudeln, Nudeln und Nudeln. Atkins und seine Low-Carb-Diät hin oder her – in den letzten sechs Monaten habe ich zehn Kilo abgenommen.

Doch diese finanzielle Unzulänglichkeit macht mein Job auf anderen Gebieten mehr als wett: mit endlosen Wortgefechten und Frotzeleien, Klatschgeschichten und einer Menge Spaß – oder craic, wie der Ire sagt. Die Stammbelegschaft und die Springer sind eine bunte Mischung von Expats: Iren, Kiwis, Schotten, Russen, Kanadier, Briten, Spanier, Walisen, Südafrikaner, Amis und Aussies. Alle haben sie ihre persönliche Auswanderergeschichte, sind vor einem tristen Leben geflohen, vor einer Exfrau, den dominanten Eltern oder sogar einem Haftbefehl. Dieser Irish Pub mitten in Nimmerland-City ist ihr inoffizielles Botschaftsgebäude, ihre Zuflucht in der Ferne und ihre Ersatzfamilie. Hier wärmen sie sich an dem, was sie gemeinsam haben: der provisorischen Existenz, der Sprache, der Tendenz zum Alkoholismus und vor allem ihrem Sinn für Humor. In der scheinbar humorfreien germanischen Kultur ist Letzterer besonders wichtig für die geistige Gesundheit – andererseits spielen sie alle, wenn sie genug deutsches Bier intus haben, völlig verrückt.

Das scheinen jedenfalls die entsetzten Gesichter der deutschen Gäste auszudrücken. Jeden Samstagabend fängt die Stammbelegschaft nach ihren ersten zehn Pints an, auf den Tischen zu tanzen, während die Deutschen wie erstarrt dasitzen, konsterniert die verrückten Ausländer beäugen und sich an ihrem warmen Kakao, ihrer Kiba oder ihrem Bananen-Weizen festklammern. Nach sechs Monaten in diesem Land kann ich es noch immer nicht fassen, dass ganze Horden junger Männer an einem Samstagabend in den Irish Pub einfallen, um dort heiße Schokolade zu bestellen … mit Sahne!

Nicht weit von meiner Wohnung ist die Goethestraße, und passend zu ihrem Namenspatron prunkt sie mit dem verwinkelten Backsteincharme der Romantik. Ein schlankes, malerisches Häuschen reiht sich an das nächste, Türmchen und Giebel zieren die Dächer, und pastellfarbene Fassaden mit ausladenden Balkonen werden von dunkelbraunen Ecksteinen gerahmt. Fehlen nur noch die goldbeschlagenen Kutschen und ihre vornehmen Passagiere in gepuderten Perücken. Aber man sollte sich nicht täuschen lassen; keins dieser Gebäude ist wirklich alt.

Genaugenommen wurde im Zentrum von Freiburg außer dem Münster fast alles erst nach 1945 erbaut. Die Stadt hatte im Zweiten Weltkrieg zwei schwerwiegende militärische Fehler auszubaden. Zehnter Mai 1940: Dichter grauer Nebel verhüllte den Schwarzwald. Kinder tummelten sich auf den Spielplätzen, Bauern boten auf dem Münsterplatz ihre Waren feil, die Glocken der Herz-Jesu-Kirche in Stühlinger waren gerade verklungen, als ein Kruppstahlhagel auf die Umgebung des Hauptbahnhofs niederging. Kein Fliegeralarm hatte die Bevölkerung gewarnt, keine offizielle Verlautbarung, nicht einmal Gerüchte über einen bevorstehenden Angriff. Wer hätte auch alarmiert sein sollen, wenn das beruhigende Grummeln von Heinkel He 111ern ertönte und durch die Wolken das schwarzweiße Balkenkreuz auf ihren Tragflächen zu erkennen war? Doch Balkenkreuz oder nicht, an diesem trüben Frühlingstag ließen 57 Freiburger ihr Leben, darunter 22 Kinder. Warum? Wegen der unterentwickelten Navigationstechnik und der schlechten Sicht. Übereifrige Piloten hatten den Führer durch einen Überraschungsangriff beeindrucken wollen und die Stadt für das französische Dijon gehalten. Manche besaßen damals die Dreistigkeit, die »verfluchten Tommys« für den Angriff verantwortlich zu machen – nicht zuletzt Propagandaminister Goebbels.

Gut vier Jahre später waren es tatsächlich die »verfluchten Tommys«, denen der zweite Fehler unterlief. In der fälschlichen Annahme, in Freiburg hielte sich eine größere Anzahl Truppen auf, luden über 300 Kampfflugzeuge der Royal Air Force knapp 2000 Tonnen Bomben auf Freiburgs Eisenbahnanlagen ab. Zur Definition von »Eisenbahnanlagen« gehörten offenbar auch Wohnhäuser und Kirchen, Buchläden, Restaurants, Bäckereien, Cafés und Parks, Universitäten und Schulen – das gesamte Stadtzentrum. Aber nur fast, denn Freiburgs höchstes Gebäude, das imposante Münster, blieb stehen und dominiert bis heute die Silhouette der Stadt. Nach dem Angriff ragte das Gotteshaus einsam und trotzig aus den rauchenden Trümmern hervor.

Anders als bei dem Bombenangriff von 1940 wurden die Bürger von Freiburg diesmal vorgewarnt. Es waren jedoch nicht die Luftschutzsirenen oder das Radio, das sie veranlasste, in die Bunker zu fliehen, sondern, so will es die Legende, ein Erpel. Ein ganz alltäglicher Vogel, wenn auch einer von ungewöhnlicher Voraussicht und Überzeugungskraft. Noch bevor – zumindest für die menschlichen Sinne – die ersten Bomber zu hören oder zu sehen gewesen wären, hatte – so die Legende – dieses Tier mit den Flügeln zu schlagen begonnen, hoch aufgerichtet seine Vorahnungen in die Welt hinausgekrächzt und sich so auffällig benommen, dass die beunruhigten Passanten in die Schutzräume flüchteten. Zahlreichen Freiburgern soll der tapfere Erpel so das Leben gerettet haben, während er selbst nach dem Angriff tot unter den Trümmern gefunden wurde.

Gleich jenseits der Altstadt, auf der anderen Seite des Leopoldrings, gibt es im Stadtgarten, in einem kleinen Teich hinter dem Freilufttheater und der Schienenbahn, eine kleine Statue, die jenen berühmten Erpel im entscheidenden Augenblick porträtiert: Den Schnabel himmelwärts gereckt, scheint er gerade seine verzweifelte Warnung auszustoßen. »Die Kreatur Gottes klagt, klagt an und mahnt«, ist in den Sockel eingraviert.

Diese Inschrift würde auch für eine Albert-Göring-Statue gut passen, wenn es sie denn gäbe. Wie jener Vogel besaß Albert einen sechsten Sinn für die heraufziehende Gefahr und sah sich verpflichtet, seine Zeitgenossen zu warnen. Er lebte in München, der Geburtsstadt des Nationalsozialismus. An der Universität teilte er den Vorlesungssaal mit Himmler und erkannte die ersten Vorzeichen der studentischen nationalistischen Bewegung. Er erlebte, wie sein Bruder sich mehr und mehr mit Hitler und seiner Clique einließ und wie seine Reden zu Hasstiraden verkamen. Kurz gesagt, ahnte er von Anfang an, wohin diese zukünftigen Staatenlenker Deutschland führen wollten. Also schlug er Alarm und mahnte seine Landsleute, sich vorzusehen. Doch im Gegensatz zu jenem prophetischen Erpel wurde Albert Göring von seinen Zeitgenossen ignoriert.

 

Vor meiner Zimmertür rumpelt und lärmt es. Offenbar haben meine Mitbewohner eine ihrer »Putzoffensiven« gestartet, wie sie es so schneidig nennen. Ich wohne mit vier deutschen Studenten in einer Dachgeschosswohnung: einem Punkrocker-Grundschullehrer, einem Linguisten, einem angehenden Opernregisseur und einem Violinisten. Eine eigenwillige Truppe, die es sich gleich auf die Fahnen geschrieben hat, mir Freiburg zu zeigen und mir im ewigen Kampf mit den städtischen Behörden Schützenhilfe zu leisten. Auf den ersten Blick sind sie ganz normale Männer Anfang zwanzig, wie sie überall in der westlichen Welt anzutreffen sind: trinkfest und immer für einen Spaß zu haben. Aber wenn es um Sauberkeit und Ordnung geht, können sie ihre Herkunft nicht verleugnen. Wie in den meisten deutschen WGs gibt es auch hier einen farbigen, tortenförmigen »Putzplan«, und immer wieder sonntags treten alle in Reih und Glied in der Küche an und stürzen sich in die Schlacht gegen Unordnung und Schmutz. Nur meiner gestrigen Ein-Mann-Mission im Badezimmer habe ich es zu verdanken, dass ich heute ausnahmsweise beurlaubt bin.

Da übertönt ein Klopfen das Geheul des Staubsaugers. »Vill?« – was nun? Habe ich nicht genug Ungeziefer vernichtet? Nein, der Linguist will mir nur einen Brief überreichen, den die Aufräumaktion zutage befördert hat. Er ist von Eckardt Pfeiffer, dem Lokalhistoriker und Herausgeber einer Regionalzeitung in Franken (der Region, in der Albert und Hermann Göring aufgewachsen sind), der in Fragen zur Familie Göring als Kapazität gilt. Vor über fünf Monaten hatte ich ihn angeschrieben in der Hoffnung, er könnte mir eine paar Anhaltspunkte liefern.

Der Brief ist formell, aber freundlich im Ton, inhaltlich jedoch wenig ergiebig. Alles, was Pfeiffer mitzuteilen hat, ist, dass Albert in Hersbruck zur Schule gegangen sei. Das Schreiben wirkt fast wie eine Kopie all der anderen Antworten, die ich seit Beginn meiner Forschungsbemühungen bekommen habe. Meist beginnen sie mit den Worten »lassen Sie mich Ihnen zunächst dazu gratulieren, dass Sie sich mit der Geschichte Albert Görings befassen wollen« und enden entweder auf »Leider sind die Informationen, die wir zu Ihrem Vorhaben beisteuern können, äußerst begrenzt« oder auf »Unglücklicherweise sind uns die gewünschten Informationen nicht mehr zugänglich, da unser/e [Name des Familienmitglieds] im Jahr [ Jahreszahl] verstorben ist und sein/ihr Wissen mit ins Grab genommen hat«. Ich befürchte allmählich, dass ich zwanzig Jahre zu spät gekommen bin.

Doch dann beschließe ich, die Strategie zu wechseln: Wenn die Informationen nicht zu mir kommen wollen, komme ich eben zu ihnen. Sofort rufe ich meine Chefin an und sage ihr, dass ich eine mehrwöchige Reise nach Franken plane. »Wann?«, fragt sie in ihrer typisch irischen, pragmatischen Art. – »Sobald Sie mir mehr Schichten zuteilen, damit ich das Geld dafür sparen kann.« Sie legt auf.