9. Bredowstraße

Am 20. Juli 1944 nahm der einäugige Graf von Stauffenberg an einer Lagebesprechung in der Wolfsschanze bei Rastenburg in Ostpreußen teil. Alles, was im Militär Rang und Namen hatte, war dort versammelt, nicht zuletzt Adolf Hitler als Oberbefehlshaber der Wehrmacht. Mitten in der Sitzung, gegen 12.30 Uhr, verließ Graf von Stauffenberg unter einem Vorwand den Raum und ließ seine mit Plastiksprengstoff gefüllte Aktentasche zu Hitlers Füßen zurück. Zehn Minuten später erschütterte eine Detonation den Lageraum und tötete einen Generalleutnant, einen Oberst, einen General und einen Stenographen, doch der Oberbefehlshaber blieb am Leben. Offenbar hatte sich die Aktentasche selbständig gemacht. Noch in der darauffolgenden Nacht wurde der Graf auf Anordnung von Generaloberst Friedrich Fromm standrechtlich erschossen. Fromm war selbst Mitwisser der Verschwörung gegen Hitler und versuchte durch die überstürzte Hinrichtung seine Haut zu retten. Dennoch wurde auch er acht Monate später hingerichtet. In der Folgezeit wurden etwa 5000 Personen als mutmaßliche Mitverschwörer inhaftiert. Um die zweihundert Menschen wurden getötet, viele von ihnen auf besonders grausame Weise: durch langsames Erdrosseln mit einer Stahldrahtschlinge.

Als Dr. Josef Charvát, Albert Görings tschechischer Freund und Prager Widerstandskämpfer, von dem Attentatsversuch hörte, traute er seinen Ohren kaum, nicht nur, weil so ein folgenschweres Ereignis stattgefunden hatte, sondern auch, weil damit eine von Albert Görings Vorhersagen eingetroffen war. Bereits »Anfang 1944« hatte Göring Charvát »etwas ausgesprochen Faszinierendes über Hitler« mitgeteilt, nämlich, dass ein Anschlag auf ihn geplant sei. »Ich glaubte zwar nicht daran, dass so ein Attentat je stattfinden würde, machte aber dennoch Mitteilung in London«, schrieb Charvát in seinen Memoiren. Interessanterweise fügte er noch hinzu: »Auch als ich zeitig von der V1 und ihrem geplanten Einsatz hörte, schickte ich eine weitere, entsprechende Nachricht nach London.«161

Albert Görings privilegierter Status und sein Talent, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, führten mitunter dazu, dass er Informationen besaß, von denen selbst die SS keine Kenntnis hatte. Sein Name und seine Position bei Škoda wirkten wie ein Universalschlüssel, mit dem er fast überall im besetzten Europa Zutritt hatte. Er pflegte Umgang mit hochrangigen Militärs; vertrauliche Informationen waren immer nur einen Telefonanruf oder einen Besuch bei Hermann Göring entfernt. Und, was noch wichtiger war, er zögerte nie, seine Informationen mit seinen Freunden und Vertrauten zu teilen, von denen er genau wusste, dass sie für den Widerstand tätig waren. Allerdings ging er dabei immer diskret und umsichtig vor, denn was er tat, war Landesverrat, eine Anklage, gegen die nicht einmal sein Bruder ihn hätte verteidigen können. Sollte er je ertappt werden, dann erwartete auch ihn die Stahldrahtschlinge.

 

Besonders einen Mann namens Karel Staller verband mit Albert Göring mehr als bloße Freundschaft. Staller, ein Ingenieur, der wegen seiner technischen Genialität auch »das Ass« genannt wurde, hatte sich bei der Škoda-Tochterfirma Československá Zbrojovka bis 1939 zum Generaldirektor hochgearbeitet. Auf sein Konto gingen nicht nur die Erfindung des Bren-Maschinengewehrs, sondern auch einige tschechische Widerstandsaktivitäten. Radomír Luža, der bei diesen Aktionen häufig mit Staller zusammenarbeitete, charakterisierte ihn so: »Er war in seinem Engagement für den Widerstand genauso exzessiv wie überall sonst und hätte alles getan, um den Nazis zu schaden, obwohl er als einer ihrer wichtigsten technischen Spezialisten direkt vor ihrer Nase arbeitete.« Staller war auch einer der wichtigsten Geldgeber, der die Bewegung teils aus eigener Tasche unterstützte, teils aber auch »Geldmittel aus Hermann Görings Konzern« abschöpfte.162

Staller etablierte und unterhielt ein ausgefeiltes Informationssystem, über das Geheimwissen zur tschechischen Exilregierung in London unter Präsident Beneš weitergeleitet werden konnte. Da Staller die Sondergenehmigung hatte, in die Slowakei zu reisen, konnte er sich in Bratislava, wo sein Sohn lebte, mit einem slowakischen Exporteur treffen, der »die Erlaubnis hatte, fünf Mal im Jahr in die Schweiz zu fahren«. Dieser Zuckerexporteur, Rudolf Frastacký, schmuggelte die meist auf Mikrofilm überlieferten Informationen dann in seinen Schuhsohlen über die Grenze und gab sie dort dem ehemaligen tschechoslowakischen Botschafter für die Schweiz Jaromir Kopecký.163 Kopecký konnte die Informationen schließlich von der Schweiz aus direkt nach London weiterreichen.

Die Freundschaft zwischen Karel Staller und Albert Göring begann mit einem derben Scherz, den Albert, Stallers neuer Kollege bei Škoda, schon nach den ersten zehn Minuten ihrer ersten Begegnung im Jahr 1939 wie nebenher einfließen ließ: Eine Zahnarzthelferin läuft mit einer Hutschachtel durch die Straßen und wird von einem Passanten gefragt, was sie da denn Schönes habe? »Ein preußisches Gebiss«, antwortet sie.164 Dieser unschmeichelhafte Verweis auf die Physiognomie der Machthaber im Dritten Reich machte Staller unmittelbar klar, was Albert Göring von dem Regime seines eigenen Bruders hielt. Daraus folgerte er ganz zu Recht, dass Albert ihm und seiner Sache nützlich sein könne.

In einem Brief an das 14. außerordentliche Volksgericht in Prag vom 6. Dezember 1947 erklärte Staller: »Er [Albert Göring] war ein gutes Barometer für die aktuelle Situation und kannte Gerüchte, die er von seinem Bruder zu hören bekam. Ich tat das in der Hoffnung, die Informationen, die ich von ihm bekam, an das Ausland weiterleiten zu können. Einmal hat es funktioniert. Das war bei der Vorankündigung des Angriffs auf Frankreich, die ich über Dr. Nowotný von der britischen Botschaft in Bukarest an den britischen Nachrichtendienst weitergeben konnte. Die Informationen waren sehr detailliert und stießen auf großes Interesse. Göring hatte mir ungefähr drei Wochen vor ihrem Beginn von der Invasion erzählt, und vier Tage darauf hatte Bukarest schon die genauen Daten.«165

Als Stallers verdächtiges, sprunghaftes Verhalten den Deutschen im Škoda-Verwaltungsrat zu Ohren gekommen war, gelang es Albert, ihn auf seinem Posten in der Československá Zbrojovka zu halten.166 Wegen dieser seiner Intervention hat er ihn unter der Nummer zweiunddreißig in die Liste der Geretteten aufgenommen.

 

Manchmal unterstützte Albert Göring die tschechische Widerstandsbewegung auch dadurch, dass er wegschaute und ihren Mitgliedern freie Hand ließ, wenn sie ihre Geheimaktionen direkt vor seiner Nase durchführten. Dieses einfache, doch keineswegs ungefährliche Arrangement kam besonders seinem tschechischen Vorgesetzten bei Škoda, Dr. Vilém Hromádko, zugute. Seine engen Kontakte nach Russland und seine einflussreiche Position in der besetzten Tschechoslowakei machten ihn für den russischen Geheimdienst zu einem wertvollen Informanten. Als Leiter eines großen Rüstungskonzerns hatte Hromádko die Aufgabe, den Russen Prototypen und Baupläne der neuesten technischen Innovationen in Škodas Waffenproduktion zukommen zu lassen. Meist erfüllte er diese Aufgabe bei Geschäftsreisen nach Belgrad, wo er sich mit sowjetischen Kontaktpersonen treffen konnte.

Seit der Eingliederung der Škoda-Werke in die Reichswerke Hermann Göring AG 1938 wurden Hromádkos Ausflüge nach Jugoslawien jedoch zunehmend misstrauisch beäugt. Die nationalsozialistische Konzernleitung stellte ihm einen Aufseher namens Schmidt zur Seite, der auf Geschäftsreisen jede seiner Bewegungen kontrollierte. Das machte es Hromádko natürlich schwer, sein »Kulturprogramm« zu absolvieren. Doch wie das Schicksal so spielt, brach sich Herr Schmidt eines Tages ein Bein und musste vertreten werden. Die Reichsdeutschen im Verwaltungsrat wählten auch sogleich jemanden aus, der ganz sicher immer die Interessen seines Vaterlands wahren und jedes verdächtige Verhalten umgehend melden würde: den Bruder eines alten Kameraden aus den Tagen des Münchener Hitlerputschs – Albert Göring. Offenbar ahnten sie nichts von der dicken Gestapo-Akte, die sich zusehends mit Alberts subversiven Aktivitäten füllte.

So kam es, dass Vilém Hromádko und Albert Göring vom Mai 1940 an gemeinsam die Balkanstaaten bereisten. Albert erfüllte seine Aufgabe gewissenhaft, indem er Hromádko bis zur Bahnstation begleitete. Doch dort endete auch schon sein Pflichtgefühl, und die beiden gingen getrennter Wege. Albert zog sich meist in ein Café zurück, um bei einer Tasse seines Leibgetränks seiner eigenen Arbeit nachzugehen, während Hromádko sich mit sowjetischen Agenten traf und seinen geflohenen Landsleuten half. Vor dem außerordentlichen Volksgericht in Prag sagte Hromádko aus: »Göring gewährte mir im Ausland uneingeschränkte Bewegungsfreiheit, zum Beispiel in den Balkanstaaten, sodass ich unsere Emigranten finanziell unterstützen und mich darum kümmern konnte, dass unsere Leute in Jugoslawien jugoslawische Pässe bekamen.« Er ging sogar so weit, zu sagen: »Göring wusste ganz offensichtlich um meine Kontakte und meine Aktivitäten und auch um Stallers Verbindungen; er duldete sie und riet mir sogar, vorsichtig zu sein. Göring war es auch, der mir die Reise nach Moskau ermöglichte.«167 Die Reise, auf die Hromádko sich bezog, hatte er unternommen, um besonders heikle Informationen zu übermitteln, die er von Albert Göring selbst erhalten hatte.

Neben der exakten Position einer deutschen U-Boot-Werft hatte Albert Hromádko auch mitgeteilt, dass Deutschland plante, den Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 zu brechen. Diese Information vermittelte er schon vier Monate vor dem Beginn des »Unternehmens Barbarossa«, des Vernichtungsfeldzugs gegen Russland, am 22. Juni 1941. »Ich gab den Bericht sowohl an London als auch an Moskau weiter«, erklärte Hromádko in Prag, »und die Informationen waren sowohl für die Russen als auch für den Westen von größter Bedeutung, denn es wurden dementsprechend Fabriken bombardiert, und die Russen waren rechtzeitig gewarnt.«168

 

Als schließlich auch der letzte mutmaßliche Hitler-Attentäter gerichtet war, lag das Dritte Reich längst selbst im Sterben. Unter dem massiven Bombardement der Alliierten, die täglich Tausende Bomber nach Deutschland aussandten, mussten immer mehr Mütter ihre toten Kinder aus den Trümmern bergen, und die Kampfmoral an der Heimatfront war an einem Tiefpunkt angelangt. Im Osten lichteten sich unter dem massiven Ansturm der Roten Armee mit ihren überlegenen T-34-Panzern die Reihen. Ganze Garnisonen ausgemergelter deutscher Kriegsgefangener hatten den Todesmarsch in die sibirischen Arbeitslager angetreten. Wenn es Truppenteilen doch einmal gelang, den Sowjets zu entkommen, und sie ohne den passenden Marschbefehl angetroffen wurden, stellten die »Kettenhunde« der deutschen Feldjäger-Kommandos mit ihren improvisierten Galgen die Ordnung wieder her. Im Süden wurden deutsche und italienische Truppen ebenfalls immer weiter zurückgedrängt; am 4. Juni 1944 marschierten die Alliierten in Rom ein und zwei Monate später in Florenz. Im Westen brachten die Gegner eine französische und belgische Stadt nach der anderen unter ihre Kontrolle. Nur die Ardennenoffensive warf sie noch einmal zurück, bevor sie nach Deutschland einmarschieren konnten. Die Wehrmacht wirkte hilflos. Deutschlands Niederlage schien unausweichlich zu sein.

Doch auch Albert Görings Daueroffensive gegen Hitler ging, sehr zum Missfallen der SS, in die nächste Runde. In einem Bericht des SD von 1944 wurde Albert Göring als besonders schwerer Fall bezeichnet und seine »Vergehen« gegen das Reich aufgelistet. Eins davon hatte mit dem »politisch fragwürdigen« Verkaufsrepräsentanten der Československá Zbrojovka, einem Herrn Novotný, zu tun. Albert hatte wieder einmal den Willen des Regimes unterlaufen, indem er Novotný und seine Familie unter seine Fittiche nahm und ihnen die Flucht über Bukarest in die USA ermöglichte.169

Auch der Ehefrau eines griechischen Škoda-Direktors, Michail Kopelianos, kam Albert zu Hilfe, als sie sich bei einem »Zornesausbruch« in den Büros der Škoda-Verwaltung »abfällig« über Hitler äußerte und denunziert wurde.170 Einmal zog Kopelianos selbst die Aufmerksamkeit der SS auf sich, als sich herausstellte, dass in seinem Ariernachweis nicht genügend Arier nachgewiesen waren. Wieder fand Albert eine Lösung. »Als ich davon erfuhr, schickte ich ihn unter einem Vorwand nach Budapest und dann nach Bukarest, wo er bis zum Ende des Krieges arbeiten konnte, ohne dass jemand ihm Schwierigkeiten gemacht hätte«, brachte Albert in Prag zu seiner Verteidigung vor.171

Eine weitere Führungskraft bei Škoda, Vilém Mašek, hatte ebenso wie Albert eine »politisch inakzeptable« Ehefrau, die allerdings nicht nur Slawin, sondern auch Jüdin war. Dieses »Vergehens« wegen verlor Mašek seine Arbeitsstelle und musste mit seiner Frau vor der Gestapo fliehen. Bevor die beiden gefunden werden konnten, stöberte Albert sie auf und brachte sie in einem Versteck in Bukarest unter, wo sie bis zum Kriegsende blieben. Auch Jirí Kantor13*, ein Ingenieur, hätte als ungarischer Jude fast seine Arbeit verloren, doch Albert »verhinderte dies, indem [er] ihn in eine Dependance nach Budapest versetzte«.172 In Budapest blieb Kantor lange unbehelligt, bis ihr berüchtigter Perfektionismus die Deutschen dazu trieb, ihr Werk vollenden zu wollen, und SS-Obersturmbannführer Adolf Otto Eichmann, der größte Perfektionist von allen und »Architekt des Holocaust«, sich im Hotel Majestic in Budapest einquartierte, um die letzten europäischen Juden zu »erledigen«. Kantor wurde verhaftet, wurde jedoch nicht, wie 400 000 seiner Landsleute, ins Vernichtungslager Auschwitz transportiert, sondern nach Buchenwald. Dort konnte ihm Albert Göring ein wenig das Leben erleichtern, indem er ihm Geld und Essenspakete schickte.173 Auf Alberts Liste ist Kantor an dreizehnter Stelle aufgeführt.

Als er gegen Ende des Krieges miterleben musste, wie Hunderttausende Menschen mit unmenschlicher Effektivität in den Tod geschickt wurden, überkam Albert Göring ein lähmendes Gefühl der Hilflosigkeit. Selbst er, der schon so vieles für so viele erreicht hatte, begann zu verzweifeln und sich vielleicht auch zu fragen, ob er nicht mehr hätte tun können. Elsa Moravek Perou de Wagner beschreibt in ihrer Autobiographie, wie er einmal in Gegenwart ihrer Mutter die Fassung verlor: »Einmal wurde er sehr emotional, als er von dem Leid der Häftlinge sprach, besonders der Kinder. Mit Tränen in den Augen sprach er von den furchtbaren Qualen der Opfer in den Konzentrationslagern.«174 All dies ließ ihn immer wagemutigere Aktionen unternehmen, um die Vernichtungspläne der Nationalsozialisten wirkungsvoller zu hintertreiben. Er begann, eine tollkühne Befreiungsaktion ins Werk zu setzen.

Aufgrund seiner geringen Entfernung von den Škoda-Standorten in Pilsen und Prag (circa sechzig Kilometer) bot sich für Albert Görings spektakulärsten Coup das KZ Theresienstadt mit seinem zynischen Spitznamen »Paradies-Ghetto« als Schauplatz an. Das Lager ist besonders dafür bekannt, dass es einmal vom Internationalen Roten Kreuz inspiziert werden durfte. Der Besuch der Inspektoren war jedoch eine reine Propagandafarce; sobald sie das Lager wieder verlassen hatten, fiel die Fassade, und Theresienstadt war wieder eine überfüllte Brutstätte für Epidemien und Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtungslager. 33 000 Insassen kamen in dem Lager um, und 88 000 weitere wurden deportiert, die meisten von ihnen nach Auschwitz.

Alberts Plan sah nun vor, mit einem Konvoi von acht Lastwagen unangemeldet bei dem Lager vorzufahren und dort, als Abordnung seines Konzerns getarnt oder einfach kraft seines Namens, so viele Häftlinge wie möglich auf die Lastwagen zu verladen. Ein ebenso simpler wie dreister Plan, doch laut Jacques Benbassat, dem Sohn von Alberts Freund Albert Benbassat, führte er zum Erfolg. »Er sagte: ›Ich bin Albert Göring, Škoda-Werke. Ich brauche Arbeiter.‹ Er füllte die Lastwagen mit diesen Arbeitern. Der Leiter des Konzentrationslagers stimmte zu, weil es Albert Göring war. Er fuhr sie in den Wald und ließ sie frei. Und auf diese Weise rettete er vermutlich ziemlich viele Menschenleben.«175

Dieser gutgläubige – oder unglaublich umsichtige – Lagerkommandant war vermutlich Karl Rahm, der letzte Mann in dieser Position vor der Befreiung. Da er wusste, dass die Rote Armee im Anmarsch war, und um sein Leben fürchtete, soll er Himmlers Anweisung, die im Lager verbliebenen Juden zu vergasen, absichtlich verzögert haben. Am 30. April 1947 wurde er unter der tschechoslowakischen Nachkriegsregierung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehängt.

Dieser Einsatz gegen den Nationalsozialismus sollte Albert Görings letzter werden, denn inzwischen brachte ihn sein mutiges Verhalten zunehmend selbst in Gefahr.

 

Am 23. August 1944 um zehn Uhr abends wurde Dr. Josef Charvát vom Schrillen seiner Türglocke aufgeschreckt. Sofort ergriff ihn Panik, weil dieses Geräusch um diese Uhrzeit nur eins bedeuten konnte: dass die Gestapo vor der Tür stand. Sie sind wieder da, um mich zu holen, schoss es ihm durch den Kopf. »Ich ging allein zur Tür und öffnete, und da stand Albert in einem furchtbaren Zustand, zerlumpt, erschöpft, und sagte: ›Ich renne um mein Leben!‹«, erinnerte sich Charvát später.176

Ein paar Wochen vor dieser Begegnung hatte Albert sich bei einem Bankett mit einem deutschen Diplomaten unterhalten. Dieser fragte ihn nach einer Weile, warum er immer wieder die Einladungen Manfred von Killingers, des deutschen Botschafters in Rumänien, ausschlug, der bei mehreren offiziellen Anlässen um seine Anwesenheit gebeten hatte. Albert antwortete mit den Worten: »Ich würde mich eher mit einem Taxichauffeur an einen Tisch setzen als mit einem Mörder.«177

Als ehemaliger Kommandant eines Torpedobootes hatte sich Manfred Freiherr von Killinger 1919 wie so viele Veteranen des Ersten Weltkriegs den Freikorps und ihren Versuchen angeschlossen, die neue – und sehr fremdartige – demokratisch legitimierte Weimarer Regierung zu stürzen. Nach dem Scheitern des Kapp-Putsches 1920 trat er der Organisation Consul (OC) bei, einer rechtsgerichteten, antisemitischen und monarchistischen Terrororganisation. 1921 und 1922 war die OC in Mordanschläge gegen mehrere hochrangige Politiker der Weimarer Regierung verwickelt, unter anderem gegen den Reichsfinanzminister Matthias Erzberger und den jüdischen ehemaligen Industriellen, dem sogenannten »Novemberverbrecher« und Reichsaußenminister Walther Rathenau. Rathenau war der OC wegen seiner Bereitschaft, den Versailler Vertrag zu erfüllen, verhasst und starb am 24. Juni 1922 in Berlin in einem Hagel aus Handgranaten und Maschinenpistolensalven. Albert Göring, der wie so oft Zugang zu Hintergrundinformationen hatte, war der Ansicht, von Killinger sei für das Attentat auf Rathenau verantwortlich gewesen. Daher betrachtete er ihn schlicht und einfach als Mörder. Als sein Ausspruch über Mörder und Taxifahrer von Killinger zu Ohren kam, wollte dieser sich mit Hilfe der Gestapo an Albert rächen.

In dem frisch beförderten Prager General der Polizei und der Waffen-SS, dem SS-Obergruppenführer Karl Hermann Frank, fand Manfred von Killinger einen willigen Verbündeten. Der hochaufragende, schwer mit Orden behängte Sudetendeutsche mit dem ledrigen Wieselgesicht und dem schwarzen Mantel, der einmal stolz verkündet hatte, in der »gesamten tschechischen Nation [sei] nicht ein Einziger, der mich nicht hasst oder mein Feind ist«, war ein nicht zu unterschätzender Gegner.178 Franks Brutalität war Albert Göring hinreichend bekannt, seit er als Vergeltung für das Attentat auf Reinhard Heydrich 1942 angeordnet hatte, das tschechische Dorf Lidice unter dem Vorwand, es habe den Attentätern Unterschlupf gewährt, dem Erdboden gleichzumachen. Alle männlichen Bewohner und ein Drittel der Frauen wurden gleich vor Ort exekutiert, und die anderen wurden, ebenso wie ihre Kinder, in Konzentrationslager deportiert. Über dreihundert Dorfbewohner starben. Zudem wusste Albert, dass es Frank schon seit langem wurmte, ihn der Gestapo immer wieder entwischen zu sehen. Vor Karl Hermann Frank zitterte selbst ein Mann wie Albert Göring.

Frank wandte sich umgehend an Himmler, um Albert wegen »Defaitismus« und anti-nationalsozialistischen Verhaltens verhaften zu lassen. In einem Fernschreiben an den Reichsführer-SS vom 24. August 1944 schrieb er: »Herr Albert Göring, den ich persönlich mindestens für einen Defaitisten übelster Art halte, ist gestern mit Greuelnachrichten aus Bukarest in Prag eingetroffen und hält sich mit seiner tschechischen Frau bei seiner Schwiegermutter hier auf. Da er Beziehungen zu unzuverlässigen tschechischen Großindustriellen unterhält, halte ich seine Freizügigkeit für politisch gefährlich und bitte daher, ihn staatspolizeilich sicherzustellen und nach Berlin zur Vernehmung und Klärung schwerwiegender Verdachtsmomente in das Reichssicherheitshauptamt überstellen zu dürfen.«179

Doch noch bevor Frank dieses Schreiben aufsetzte, hatte Albert Göring erfahren müssen, dass »der Geheimdienstabteilung Informationen vorlagen, wonach der Gesandte Killinger Order aus Berlin hatte, ihn zu erschießen«.180 Zu dieser Bedrohung kam noch der unaufhaltsame Vormarsch der Roten Armee durch Rumänien hinzu. Die Sowjets hatten bereits die bedeutende rumänische Stadt Iaşi eingenommen und näherten sich immer schneller. Nur die zahlenmäßig um die Hälfte unterlegenen deutsch-rumänischen Truppen standen noch zwischen ihnen und Bukarest. Antonescus Regierung stand kurz vor der Auflösung, und Gerüchte über einen geplanten monarchistischen Staatsstreich wurden laut. Rumänien versank in Chaos und Anarchie von Hobbes’schen Ausmaßen. Alles wartete auf den Einmarsch der Russen. »Als wir Braşov erreichten, waren die Straßen wie ausgestorben«, berichtete Elsa Perou, die Ehefrau von Albert Görings Freund Jan Moravek, von ihren Erfahrungen in Rumänien kurz vor Kriegsende. »Zuerst dachte ich, es hätte wieder einen Luftangriff gegeben. Als wir uns dem Stadtzentrum näherten, wurde die Leere immer bedrückender … Endlich begriffen wir, dass die meisten Läden sehr wohl Geschäfte machten, wenn auch hinter halb geschlossenen Türen: ihre Besitzer spähten auf die Straße hinaus, mit allem bewaffnet, was sie hatten. Wir sahen Gewehre, Pistolen, sogar Maschinengewehre. Am schwersten bewaffnet waren die Läden, die Deutschen gehörten. Der ganze Ort war kampfbereit.«181

Mit von Killinger, Karl Hermann Frank und den Russen dicht auf den Fersen musste Albert seinen bisherigen Zufluchtsort Bukarest verlassen. Doch entkommen konnte er nicht; wenn er seinen Ausweis benutzte, musste er befürchten, aufgrund des Haftbefehls von Gestapo-Agenten verhaftet zu werden. Sein berühmter Nachname und sein Charme ebneten ihm den Weg zum Hauptbahnhof und sicherten ihm die Gunst einiger deutscher Soldaten, die ihn mit falschen Papieren ausstatteten und an Bord eines Frachtzugs nach Berlin mit Zwischenhalt in Prag schmuggelten.

 

So kam es, dass Albert Göring an jenem 23. August spätabends als zerlumptes, unrasiertes, vor Angst zitterndes Häufchen Elend vor Josef Charváts Wohnungstür stand und gerade noch herausbrachte: »Ich renne um mein Leben.« Charvát bat ihn hastig herein und schickte ihn ins Badezimmer, damit er sich waschen und rasieren konnte, während Charváts Frau etwas zu essen machte. Als er einigermaßen wiederhergestellt war, begann Albert von seiner Odyssee zu erzählen. »Aber um Gottes willen, warum sind Sie denn nicht, wie besprochen, in die Alpen gefahren?«, unterbrach ihn Charvát.182 Er bezog sich damit auf einen Notfallplan, den die Männer für solche Situationen ausgeheckt hatten. Demnach hätte Albert in die österreichischen Alpen fahren und dort in einer Berghütte unterkriechen sollen, bis sich die Lage entspannte.

Gleich wurde ein neuer Plan entworfen. Albert sollte sich sofort wieder auf den Weg zum Bahnhof machen und den Nachtzug nach Linz nehmen. Doch noch bevor die Charváts ihm eine Reisetasche zusammenstellen konnten, klingelte ihr Telefon. »Bredowstraße.14* Ist Ingenieur Göring noch bei Ihnen?« Charvát lief ein Schauder über den Rücken, als er die Stimme der allgegenwärtigen Gestapo in der Leitung hörte. »Nein, er ist gerade gegangen«, antwortete er hastig. Der Anruf war eine Machtdemonstration, eine Nachricht an Albert Göring, dass er sich nicht vor Frank verstecken konnte. Daraufhin verschwand »Bertl«, wie Charvát ihn liebevoll nannte, aus der Wohnung.183

Doch Albert bestieg nicht den Zug nach Linz. Stattdessen kam er, wie Karl Hermann Frank seinem Vorgesetzten per Fernschreiben mitteilen sollte, bei seiner Schwiegermutter unter, wo er bald darauf Besuch von seinem Schutzengel General Bodenschatz bekam. Nachdem Franks Antrag auf einen Haftbefehl durch geheimdienstliche Kanäle auch bei Hermann Göring angekommen war, hatte sich dieser wie üblich um Schadensbegrenzung bemüht. Er hatte seinen Adjutanten Bodenschatz mit dem Auftrag nach Prag geschickt, Albert dort abzuholen, damit er persönlich in Berlin Rede und Antwort stehen konnte. »Als ich dort ankam, zeigte er mir Dokumente, aus denen hervorging, dass der deutsche Geheimdienst zwei Haftbefehle gegen mich ausgestellt hatte, einen davon wegen anti-national-sozialistischen Umtrieben und Defätismus«, erinnerte sich Albert nach dieser Begegnung in Berlin.184 Als Hermann Göring sich Alberts Erklärungen angehört und sich einen Überblick über die Situation verschafft hatte, ließ er den Haftbefehl aufheben und setzte Alberts Reiseerlaubnis wieder in Kraft. Bevor sein Bruder aufbrach, gab er ihm noch mit auf den Weg, dies sei das letzte Mal, dass er ihm helfen könne.

Karl Hermann Frank machte es rasend, dass er den unter dem Schutz des großen Bruders stehenden Albert Göring wieder nicht zu fassen bekommen hatte, doch er gab nicht auf. Im Oktober 1944 lancierte er weitere Vorwürfe, von denen einer Hermann Göring direkt betraf. In einem Schreiben aus dem Gestapo-Hauptquartier in Prag werden hauptsächlich vier Anschuldigungen gegen Albert erhoben:

»1. Beabsichtigte Flucht Albert Görings in die Schweiz,

2. Auffallende Geldabhebungen [774.000 Reichsmark] des Albert Göring,

3. Staatsfeindliche Äusserungen des Albert Göring,

4. Beabsichtigter Anschlag auf den Herrn Reichsmarschall durch Albert Göring.«185

Hauptquelle dieser Anschuldigungen war eine von Alberts Prager Sekretärinnen, Fräulein Hertha Auer von Randenstein. Sie war eine überzeugte Nationalsozialistin und sammelte als Informantin der Gestapo seit Jahren Beweise für Albert Görings Vergehen gegen das Reich, wobei sie sogar seine Privatkorrespondenz an sich genommen hatte. Albert selbst kommentierte: »Grund für diese Haftbefehle war eine Denunziation gegen mich vonseiten meiner Sekretärin, Fräulein von AUER, die mir zugeteilt worden war, in Wahrheit aber Gestapo-Informantin war und regelmäßig Berichte über mich einreichte, in denen unter anderem stand, dass ich mich abschätzig über die Partei äußerte, dass ich Juden geholfen hatte und so weiter.«186

Am 13. Oktober 1944 wurde die Angelegenheit schließlich bei einem Treffen im Berliner Hotel Adlon zwischen Albert Görings ständigem Widersacher Dr. Voss, der später wegen unlauterer Geschäftspraktiken selbst von der Gestapo verhaftet wurde, und Hermann Görings Leuten (Kriegsgerichtsrat Ehrhardt und SS-Obersturmbannführer Alfred Baubin, ein Verbündeter Alberts) beigelegt. Nach intensiven Diskussionen und massiven Machtdemonstrationen setzte sich Hermann Görings Seite durch, und die Beschuldigungen wurden für unbegründet erklärt.

Darüber hinaus schickte Ehrhardt am 30. Dezember 1944 ein Fernschreiben an das Prager Hauptquartier der Staatspolizei, in dem er den von General Bodenschatz ausgegebenen Befehl weitergab, Fräulein Auer von Randenstein »wegen wissentlich falscher Anschuldigung und Verleumdung« umgehend zu verhaften.187 Nachdem nun schon der zweite Versuch kläglich gescheitert war, Albert Göring vor Gericht zu bringen, ruderte die Gestapo zurück, enttarnte die Informantin Auer von Randenstein und sicherte Albert zu, seine Korrespondenz baldmöglichst zurückzugeben. Frank musste sich wieder geschlagen geben.

Dies sollte die letzte Gelegenheit werden, bei der Hermann Göring seinen Bruder vor der Gestapo beschützte. Görings Stern sank mit jeder abgestürzten Maschine der Luftwaffe und jeder Bombe, die über der Reichshauptstadt abgeworfen wurde. Er war ein nervliches Wrack, Tag und Nacht mit seinen vielen Ämtern und der Suche nach der ehrenrettenden Wunderwaffe beschäftigt. Dennoch hatte er auch dieses letzte Mal wieder alle anderen Sorgen und Pflichten beiseitegeschoben, um seinem jüngeren Bruder beizustehen, wenn auch nicht ohne eine Gardinenpredigt. »Mein Bruder sagte, dies sei das letzte Mal, dass er mir helfen könne, seine eigene Position sei ins Wanken geraten und er müsse bei HIMMLER persönlich vorsprechen, um die Angelegenheit zu bereinigen, und er wies mich an, nach Salzburg umzuziehen, wo meine Frau bereits wohnte, und nicht nach Prag zurückzukehren.«188 Diese Weisung erfüllte Albert gewissenhaft, fuhr nach Salzburg und lebte dort wieder mit seiner Familie vereint.

Gealtert und traumatisiert, aber doch zufrieden lebte Albert Göring von da an mit seiner jungen Familie in Salzburg. Er hatte den Krieg überstanden und die Verfolgung überlebt, doch seine Zufriedenheit hatte noch tiefere Gründe: Von seinem Refugium in Österreich aus hörte er deutlich das Knirschen und Krachen des in sich zusammenstürzenden NS-Regimes. Der Rauch der Krematorien verzog sich; Juden und Nichtjuden, Priester und Diebe, Kommunisten und Kapitalisten, Alte und Kinder, Hetero- und Homosexuelle, Polen und Deutsche wurden aus den Vernichtungslagern befreit. Hitlers Getreue schifften sich nach Südamerika ein. Hitler selbst hatte sich bereits in seine Gruft aus Beton zurückgezogen. Deutschland, die große Nation, die Alberts Vater mit geprägt hatte, sein Vaterland, konnte wieder aus dem Exil zurückkehren – so wie Albert selbst auch.