5. Ein Junge im Bücherschrank

Gelächter und Wiener Volksmusik hallen durch eine stille Gasse in Bukarest. Der Duft frisch gebrühten Kaffees und teuren Tabaks durchzieht die sommerliche Nachtluft und quält die von der Rationierung betroffenen Nachbarn. Der Zweite Weltkrieg hat Europa fest im Griff, doch im Hause Benbassat herrscht eine ausgelassene, gesellige Atmosphäre. So ist es immer, wenn der liebste Freund der Familie zu Gast ist. Mit seinen Witzen und Anekdoten über Begegnungen mit der SS, seinen improvisierten Gesangseinlagen oder auch nur mit seinem verschlagenen, ansteckenden Lächeln vertreibt Albert Göring jeden Anflug düsterer Grübelei.

Von der anderen Straßenseite sind plötzlich die Stimmen zweier singender Männer zu hören. Mit dem Weinglas in der einen, der Zigarette in der anderen Hand betritt einer der berüchtigtsten Bonvivants Europas den Balkon, um der Störung nachzugehen. Er sieht sich zwei reichlich angeheiterten Wehrmachtsoffizieren gegenüber, die auf einem anderen Balkon ihre eigene Interpretation eines Wienerlieds zum Besten geben.

»Grüß Gott«, ruft Albert hinüber und wird von einem der Offiziere nach seinem Namen gefragt. »Albert Göring«, antwortet er. Die Offiziere erkundigen sich halb im Scherz, ob er mit dem berühmten Hermann Göring verwandt sei. »Ja, das ist mein Bruder«, erklärt Albert gelassen. Die Offiziere werden schlagartig nüchtern und ernst, nehmen Haltung an und brüllen im Chor: »Heil Hitler!« Schließlich haben sie den Bruder des Reichsmarschalls vor sich. Der jedoch hat für den Hitlerkult und die Unterwerfungsrituale des Regimes nicht viel übrig. Er hebt sein Glas zum Gruß. »Leckt mich am Arsch«, sagt er beiläufig und verlässt den Balkon.48

 

Ich laufe im prallen Sonnenschein eine breite Straße hinunter. Links und rechts sind in säuberlichen Reihen schwere Pickups und Limousinen abgestellt. Ein Passant tippt sich freundlich an die Mütze und grüßt mich mit »How you doin’?«. Laute Hip-hop-Musik dringt aus einem Siebziger-Jahre-Cadillac, der gemächlich an mir vorüberrollt. Es ist ein brütend heißer Sommernachmittag in Greenville, South Carolina.

Da ich jede Chance begrüße, ein wenig Lokalgeschichte kennenzulernen, auch wenn sie so dramatisch und sinnlos tragisch verlaufen ist wie hier, folge ich spontan den Hinweisschildern zu einem Sezessionskriegs-Museum. Es gibt Leute, die die Vergangenheit einfach nicht ruhen lassen können. Der angegraute Kurator mit dem Stonewall-Jackson-Rauschebart und der typischen Vietnamveteranen-Kleidung scheint ebenfalls zu dieser Sorte zu gehören. »Viele wissen gar nicht, dass es in der Konföderierten-Armee ein großes Kontingent von Schwarzen gab. Man sagt immer, dass es im Bürgerkrieg um die Abschaffung der Sklaverei ging, dabei haben eine Menge freie Sklaven auf unserer Seite gekämpft«, erklärt er mit einem persönlich verletzten Unterton. Dann beugt er sich mit funkelnden Augen konspirativ zu mir herüber, als könnte ein Spion der Yankees unser Gespräch belauschen, und flüstert: »Hätten Sie gewusst, dass der Norden die Sklaverei erst 1865 abgeschafft hat? Lincolns Erklärung galt nämlich nur für die Rebellenstaaten.« Willkommen in Amerikas tiefstem Süden – weit, weit weg von dem gleichgeschalteten Österreich, Rumänien unter Antonescu und Albert Göring. Doch genau hier lebt ein weiterer wichtiger Zeuge für Albert Görings Geschichte: Jacques Benbassat. Als Angehöriger der Familie, die auf der Liste der Geretteten an vierter Stelle steht, ist er einer der wenigen, die Albert Göring noch selbst als Freund und Mentor kannten.

 

»Hello-o«, ruft eine Frau mit nasalem New Yorker Akzent und öffnet die Tür. Das muss Doris sein, Jacques’ Frau, eine Dame in den Vierzigern. Sie ist zierlich, trägt ihr graumeliertes Haar in einer Bobfrisur und mustert mich angestrengt durch ihre dicken Brillengläser.

»Hi, ist Jacques zu Hause?«, frage ich vom Fuß der Eingangstreppe.

»Nein, Jacques ist nicht da. Er ist beim Arzt. Wer sind Sie denn eigentlich? Und was wollen Sie von ihm?«

»Ich habe mich gestern mit Jacques für heute um elf zum Interview verabredet. Ich glaube, Sie und ich haben telefoniert.«

»Nein, davon hat er mir nichts gesagt.«

»Okay, und wissen Sie vielleicht, wann er zurück sein wird?«

»Keine Ahnung«, sagt sie. Es folgt ein betretenes Schweigen, bis ich sie frage, ob ich ihn auf seinem Handy anrufen dürfte, und sie mich hereinbittet.

Ich folge ihr durch einen dämmrigen Flur in die Küche und stolpere unterwegs fast über einen merkwürdig niedrig eingebauten Treppenlift. Es riecht wie im Haus meiner Großeltern. Die Küche sieht wie ein weiß gekacheltes Aquarium aus – Schwärme tropischer Fische schwimmen die Wände entlang und blicken respektvoll auf ein amerikanisches Propagandaposter aus dem Zweiten Weltkrieg, auf dem eine Frau den Ärmel ihres Overalls aufkrempelt und ihren riesigen Bizeps präsentiert. Darüber steht in großen Lettern »We can do it!«. Doris geht zu dem museumsreifen Telefon neben dem ebenso antiken Kühlschrank und fragt, welche Nummer ich anrufen möchte. »Jacques’ Handynummer«, sage ich, in dem Glauben, sie hätte mich an der Tür nicht richtig verstanden. Doris sieht mich merkwürdig an und kichert: »So ein Unsinn, Jacques hat doch kein Handy!« Wieder fixiert sie mich mit diesem rätselhaften Blick, bis mir klar wird, dass er pure Verständnislosigkeit ausdrückt. Diese Frau ist nicht einfach nur vergesslich, sie leidet offensichtlich an Alzheimer.

 

Endlich kommt Jacques mit Hilfe eines Krückstocks hereingehumpelt. Es ist nicht viel, was die Gehhilfe zu tragen hat. Der Mann hat kein Gramm Fett und kaum Muskeln am Leib, die Haut scheint ihm zu groß geworden zu sein. Die wenigen Kopf- und Barthaare, die ihm geblieben sind, sehen aus, als könnten sie sich nicht mehr lange halten. In sein Gesicht haben sich die Furchen eines Lebens eingegraben, in dem er zwei Mal außer Landes fliehen, einen Weltkrieg überstehen und zwei brutalen Regimen entkommen musste. Er hat all das lange genug überlebt, um über die Grausamkeiten, die seine Familie und sein Volk erdulden mussten, Zeugnis abzulegen. Alles, was Menschen einander antun können, hat er durchgemacht, doch nun schickt sich die Natur an, das Werk zu vollenden – er leidet an Lungenkrebs. Benbassat hat nie viel geraucht und war beruflich keinen besonderen Risiken ausgesetzt; sein Leiden ist nur eine weitere unverdiente Strapaze.

Sehr langsam und behutsam nimmt Jacques mir gegenüber Platz und setzt sich eine dicke Brille auf die abstehenden Ohren. Er entschuldigt sich bei mir, als sei er selbst für seinen Gesundheitszustand verantwortlich zu machen, und ich versuche, das Gespräch in Gang zu bringen. Die Gegend sei so wunderbar grün, sage ich, eine Beobachtung, die Australier regelmäßig in Ländern machen, in denen Regen kein seltener Glücksfall ist. »Deshalb heißt es ja auch Greenville«, witzelt er. Ich fühle mich entsprechend dämlich, bin aber auch positiv überrascht: Trotz seiner lebensbedrohlichen Krankheit ist Benbassat noch immer in der Lage, Witze zu reißen.

Als er nun beginnt, amüsante Anekdoten aus Albert Görings und seinem eigenen Leben zu erzählen, fallen mir gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden Persönlichkeiten auf. Wie Albert scheint auch Jacques Benbassat ein liebenswerter Schwerenöter und Tunichtgut zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass Albert Göring ihn durch die prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend begleitet hat. Albert war häufig bei der Familie zu Gast und wurde zu einer Art Onkel für den kleinen Jacques. Auch nach dem Krieg fuhr er mit den Benbassats in den Skiurlaub in die österreichischen Alpen, als Jacques bereits als Rekrut der US-Armee in Deutschland Dienst tat, und versorgte den Jüngeren mit schlüpfrigen Anekdoten und rabenschwarzen Scherzen. »Einmal saßen wir so beieinander und plauderten über dies und das, und er war ein bisschen bedrückt, weil er keine Arbeit hatte«, erzählt Jacques von einem Gespräch, das die beiden in Bad Gastein hatten. »Und da sagt er zu mir: ›Weißt du, ich habe mir überlegt, alle meine Freunde, denen ich mal geholfen habe, die würden mir doch bestimmt teure Kränze kaufen, wenn ich tot wäre?‹ – ›Wahrscheinlich‹, sage ich. Und er sagt: ›Wäre es nicht viel besser, wenn sie mir das Geld jetzt gleich geben würden?‹«

 

Albert Göring und Albert Benbassat lernten sich wegen eines Krans kennen: Albert Benbassat – Jacques’ zukünftiger Stiefvater, ein aufstrebender Wiener Geschäftsmann – engagierte Albert Göring – den jungen Ingenieur und Verkaufsrepräsentanten der Junkers-Werke, der nachts die Bars unsicher machte –, um einen seiner Kräne zu warten. Doch dieser Kran war nur der Anfang, denn bald stellte sich heraus, dass die beiden vieles gemeinsam hatten. Ihre Liebe zu gutem Wein, starkem Kaffee und kurvenreichen Frauen nährte eine Freundschaft, die zwei totalitäre Regime und einen Weltkrieg überdauerte und die beiden Männer bis zu Albert Görings Tod miteinander verband. Beide verkehrten in der High Society von Wien, Prag und Budapest, neben Paris und Berlin die kulturellen Zentren Europas. »Der Mann hatte Charme! Und zu seinem Glück brauchte er nie mehr als eine Tasse Kaffee oder ein Gläschen Wein«, sagt Jacques. »Bei den Frauen kam er auch immer gut an … Er liebte es exotisch. Nur dünne Mädchen gefielen ihm nicht … Manchmal sah er einer hinterher und sagte zu mir: ›Viel zu dürr, ich hab sie lieber fett!‹«

Jacques spricht fast unhörbar leise. Die Therapiemaßnahmen gegen den Krebs haben ihm seine Stimme genommen, und manchmal schüttelt ihn ein Schluckauf, als würde ihn selbst das Atmen Überwindung kosten. Doch wenn er von aufregenden Erlebnissen berichtet, legen sich die Symptome; seine Stimme wird kräftiger und sein Gesicht hellwach. Es ist, als wäre es heilsam für ihn, sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen.

Bis zum »Anschluss« Österreichs an Hitler-Deutschland war Albert regelmäßig bei der Familie Benbassat zu Gast und gab immer eine Geschichte oder ein Lied zum Besten. »Ich weiß noch, dass er sehr oft bei uns war. Mein Vater freute sich immer über seinen Besuch … Er liebte das schöne Leben. Die Musik. Mal spielte er Gitarre, mal Klavier, immer irgendwie improvisiert, aber trotzdem souverän«, erinnert sich Jacques.

 

Jacques war damals noch zu jung, um es mitzubekommen, doch ungefähr um dieselbe Zeit begann Albert Görings Einsatz für die Opfer der NS-Diktatur. Doch zunächst tat nicht Hermann Albert einen Gefallen, wie es in den Jahren darauf immer wieder geschah, sondern Albert half Hermann. »Ich glaube, der erste Gefallen war, dass Hermann Göring Albert Göring bat, einer Freundin seiner Frau einen Job zu verschaffen«, erzählt Jacques.

Als Repräsentant der Junkers-Werke in Österreich, Ungarn und der südlichen Tschechoslowakei hatte Albert regelmäßig mit dem österreichischen Firmenzusammenschluss Tobis-Sascha Filmindustrie AG zu tun. Er versorgte das Unternehmen mit Chemikalien zur Konservierung des Filmmaterials. Doch bei seinen Besuchen drehte sich das Gespräch nicht nur um Chemikalien. Einmal, 1934, kam die Idee auf, Albert bei Tobis als technischen Direktor einzustellen. Albert sagte begeistert zu, allerdings nicht ohne sich zuerst des Einverständnisses seines alten Arbeitgebers zu versichern.

Albert lebte zu der Zeit in Österreich im freiwilligen Exil und hatte sich gerade einbürgern lassen. Dieser Schritt war eine direkte Reaktion darauf, dass die Nationalsozialisten 1933 in dem Land seiner Geburt die Macht an sich gerissen hatten. Obwohl er leicht die Privilegien der neuen Elite für sich hätte beanspruchen können, mied er alles, was mit der Partei zu tun hatte. Er war nicht nur theoretisch oppositionell eingestellt, sondern erkannte als einer der Ersten, welche Bedrohung die Nationalsozialisten darstellten, und handelte auch danach. Das war alles andere als üblich. Die Aussicht auf eine feste Stelle, Wohlstand und die Wiederherstellung der »Ehre der Nation« nach dem 1918 verlorenen Krieg verführte viele dazu, zu bleiben. Sie übersahen geflissentlich die Brutalität der Gleichschaltung und die Vorzeichen jener Gräuel, die noch kommen sollten. Selbst von den deutschen Juden beschlossen viele zu bleiben. Zwar wanderten direkt nach der Machtergreifung auffallend viele Juden aus Deutschland aus, doch in den Jahren darauf war der Trend zunächst rückläufig: 1933 waren es 37 000, 1934 23 000 und 1938 nur 20 000 jüdische Emigranten.49

Angeworben wurde Albert Göring vom Studioinhaber Oskar Pilzer. Zusammen mit seinen Brüdern Kurt, Severin und Viktor hatte Oskar die Sascha Filmindustrie AG und die Tobis-Tonbild-Syndikat AG aufgekauft und fusioniert. Seither war Tobis-Sascha Österreichs größte Filmproduktionsgesellschaft. Diese Position zog Neid und Begehrlichkeiten auf sich, besonders von Goebbels’ Propagandaministerium, das an dem Erfolg gern teilgehabt hätte. Die jüdischen Gebrüder Pilzer wussten um diese Bedrohung und ahnten auch, dass ihre Religionszugehörigkeit eines Tages gegen sie verwendet werden könnte. Dieses Bewusstsein dürfte bei ihrer Entscheidung, Albert, dem Bruder des Reichsmarschalls und NS-Gegner, eine Stelle anzubieten, eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Schon ein Jahr nach Gründung der neuen AG hatte das Propagandaministerium tatsächlich versucht, Tobis-Sascha zu übernehmen, was die Gebrüder Pilzer jedoch zunächst abwehren konnten. Goebbels gab sich nicht geschlagen und erwirkte ein Importverbot für Filme nicht-arischer Firmen, mit dem er dem Unternehmen seinen größten Absatzmarkt versperrte. Bald darauf konnte er der ins Trudeln geratenen Gesellschaft den K.-o.-Schlag versetzen. Er ließ ein Konto einfrieren, das Tobis-Sascha bei der parteitreuen Creditanstalt unterhielt und auf dem über eine Million Reichsmark lagen. Am 27. Januar 1937 sahen sich die Pilzers gezwungen, ihr Unternehmen an eben die Bank zu veräußern, die sie in die schwierige Lage gebracht hatte: die Creditanstalt. Obwohl es einen Nennwert von über 33 Millionen Schilling hatte, wurden sie gezwungen, ein Angebot über gerade mal eintausend Schilling anzunehmen. Selbst dieser symbolische Betrag wurde ihnen nie ausbezahlt.50

Albert war nicht der Einzige, der Beziehungen zur Filmbranche unterhielt. Vier Jahre nachdem seine ergebene Ehefrau und enge Vertraute Carin8* an Tuberkulose gestorben war, hatte Hermann Göring seine neue Liebe in Emmy Sonnenberg gefunden, einer Schauspielerin des renommierten Berliner Staatstheaters. Emmy hatte zahlreiche jüdische Freunde und Kollegen, die seit dem Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze auf ihre Hilfe und ihren politischen Einfluss hoffen mussten. Eine dieser Kolleginnen war Henny Porten, einer von Deutschlands ersten großen Filmstars. Hennys Ehemann, Dr. Wilhelm von Kaufmann, war jüdischer Abstammung, was sie nach den Rassegesetzen ebenso zum »Untermenschen« machte wie ihn. Henny, einst der gefeierte Liebling des deutschen Kinos, bekam plötzlich keine Rollen mehr.

Doch nach einer zufälligen Begegnung mit Emmy Göring in einem Hamburger Hotel wendete sich das Blatt. Emmy war entsetzt, als sie von den Nöten des Ehepaars hörte, und beschwerte sich bei Hermann. Der half, indem er seinen jüngeren Bruder in Wien kontaktierte. »Albert, du hast doch was zu sagen beim Film? Kannst du nicht für die Porten etwas tun? … Emmy meint, man müsse ihr helfen.« Für Hermann war es ungewohnt, seinen kleinen Bruder Albert um Hilfe zu bitten.51 Der jedoch tat ihm den Gefallen gern und sorgte dafür, dass Henny von seiner Produktionsgesellschaft einen Vertrag bekam. Sie konnte zwar an keiner Produktion mitwirken, doch waren sie und ihr Mann vorerst finanziell abgesichert.52 Der Name Porten steht auf der Liste der Geretteten an sechsundzwanzigster Stelle.

Als Henny Porten und ihr Mann im Januar 1945 aus ihrer Unterkunft in Neuruppin nordwestlich Berlins vertrieben worden waren, besorgten ihnen Emmy und Hermann Göring eine Wohnung im nahen, aber von der SS relativ unbehelligten Joachimsthal am Werbellinsee.53

Die Nachfahren der Familie Göring arbeiten hart daran, Hermann von dem Antisemitismus der Nationalsozialisten zu distanzieren. Sie berufen sich darauf, dass Albert bei seinem Eingreifen zugunsten der Verfolgten oft auf Hermanns Hilfe angewiesen war. Hermann Görings Tochter Edda erklärt: »Es war so, dass er [Albert] Leuten, die in Not waren, durchaus selbst helfen konnte – finanziell oder durch seinen Einfluss. Aber sobald dazu größere amtliche Autorität nötig war, brauchte er die Unterstützung meines Vaters, die er auch bekam.«54 Ohne den Schutz und das gelegentliche Eingreifen seines Bruders Hermann hätte Albert sich weder der Gestapo entziehen noch so viele Menschenleben retten können, besonders nicht in den prominenteren Fällen. Sein Handeln und sogar sein bloßes Überleben während der Kriegsjahre zeugen von dem Status, den der Name Göring ihm verlieh.

Doch Hermanns Bereitschaft, gelegentlich den Launen seiner Familienmitglieder nachzugeben und ihnen zu helfen, bedeutet nicht, dass ihn das Schicksal der Juden ernsthaft interessierte. Sie hatte vielmehr damit zu tun, dass er den Familienzusammenhalt über die Interessen der Partei stellte und es genoss, seine Macht zu beweisen. Zwar half er gelegentlich einem Verfolgten, um sein Ansehen innerhalb der Familie zu verbessern, doch sehr viel öfter trieb er die Verfolgung selbst voran, um seine Machtposition in der Partei zu festigen. Wenn es seiner Karriere nützte, antisemitische Propaganda zu verbreiten, tat er es auch.

 

Der Ausdruck »Anschluss« klingt, als sei Österreich freiwillig, als gleichberechtigter Bündnispartner in das Deutsche Reich eingetreten. Doch von Gleichberechtigung konnte keine Rede sein, und die Eingliederung geschah nicht ohne Zwang. Eher könnte man die Ereignisse des 12. März 1938 als militärische Annexion beschreiben, als einen von vielen Überfällen der deutschen Kriegsmaschinerie in ganz Europa.

Unter dem steigenden Druck von Hitlers Ultimaten hatte Österreichs Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg noch kurz zuvor einen letzten Versuch unternommen, Österreichs Unabhängigkeit zu bewahren. Er kündigte am 9. März eine Volksabstimmung für den 13. März an. Damit wollte er das Schicksal des Landes in die Hände seiner Bewohner legen, die selbst für oder gegen den »Anschluss« stimmen sollten. Hitler versuchte sich diese Institution sofort selbst zunutze zu machen. Er erklärte die Abstimmung für unrechtmäßig und unterstellte Betrugsabsichten. Schließlich setzte er am Morgen des 11. März Schuschnigg noch einmal ein Ultimatum und forderte ihn auf, die Macht an die österreichische nationalsozialistische Partei zu übergeben. Doch das war nur ein Täuschungsmanöver. Längst hatte er die Order erteilt, eine Stunde vor Ablauf des Ultimatums deutsche Truppen an der Grenze aufmarschieren zu lassen. Dann unternahmen die österreichischen Nationalsozialisten mit Hilfe deutscher Truppen einen Staatsstreich und setzten Schuschniggs Regierung ab. Am 13. März 1938 wurde ohne Beteiligung des Parlaments das »Gesetz zur Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich« erlassen. In dem Versuch, die Machtergreifung der Nazis und den »Anschluss« nachträglich zu legitimieren, holte Arthur Seyß-Inquart, der nicht gewählte neue Bundeskanzler, den von Schuschnigg geplanten Volksentscheid nach. Eine Sternstunde der Demokratie sollte die Abstimmung allerdings nicht werden.

Am Tag des Referendums versuchte Albert, sich der Wahlmanipulation entgegenzustellen. »In allen Wahllokalen waren SS- und SA-Leute«, erinnert sich Jacques Benbassat. »Es gab Kabinen, in denen man geheim abstimmen konnte, aber vorn in der Schlange standen meistens Nazis. Sie traten vor. Sie erklärten stolz: ›Ich brauche keine Kabine.‹ Und stimmten mit Ja. Die Leute hinter ihnen trauten sich dann nicht, in Gegenwart all der Militärs die Kabine zu benutzen. Als [Albert] Göring kam und sich auswies wie alle anderen auch, sagten sie zu ihm: ›Sie brauchen wohl kaum die Kabine.‹ Er sagte: ›Aber im Gegenteil, ich brauche sie‹, ging in die Kabine und wählte Nein. Dadurch konnten die Leute hinter ihm ohne Angst auch in die Kabine gehen und frei nach ihrem Gewissen wählen.«55 Doch Alberts Mühe war umsonst. Das Ergebnis des Volksentscheids war ein nachdrückliches »Ja« zum »Anschluss« mit überwältigenden 99,73 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Sobald Seyss-Inquart die Zügel fest in der Hand hielt und die Braunhemden und SS-Leute die Straßen bevölkerten, kamen auch die NS-Sympathisanten aus der Deckung. Schon im alten Habsburgerreich hatte es soziale Spannungen und Vorurteile gegen ethnische Minderheiten wie Polen, Tschechen, Ungarn, Ukrainer und auch Juden gegeben. Jetzt brachen die Konflikte offen auf, und die selbsternannten »wahren« Österreicher wollten sich die arische Vorherrschaft sichern.

Als Drittklässler an der Grundschule erlebte Jacques diese stürmischen Zeiten hautnah. »Jeden Morgen mussten wir das Vaterunser sprechen, und dann wurde aus Mein Kampf vorgelesen«, erinnert er sich. »Und furchtbare Schauergeschichten, in denen die Juden immer eine üble Rolle spielten. Und es gab einen Jungen in meiner Klasse, der nicht jüdisch, aber [als Jude] getauft war. Zu seinem Unglück war er auch noch der Klassenstreber. Er war der Einzige, der lange Socken tragen musste, und hatte eine viel zu große Brille.«

Als Jacques gerade zu der Pointe seiner Geschichte ansetzt, kommt Doris herein. In ihrer Ausstrahlung erinnert sie mich entfernt an George Costanzas Mutter aus Seinfeld, und die Alzheimer-Erkrankung verleiht ihrem resoluten Auftreten einen gewissen morbiden Charme.

»Warum flüsterst du? Darf ich nicht mithören?« Doris macht Jacques’ leise Stimme nach, als sei sie in ein konspiratives Treffen hineingeraten.

»Weil ich nicht sprechen kann«, versetzt er schroff.

»Was haben sie im Krankenhaus zu deiner Stimme gesagt?«

»Dass sie wunderschön ist.«

»Wann bekommst du sie wieder?«

»In ein paar Tagen.«

»Ein paar Wochen?«

»Ein paar Tagen!«, korrigiert er sie, so laut er kann.

»Ach, Tagen. Ich mag nun mal nicht Lippen lesen.«

»Was magst du nicht?«

»Ich höre lieber.«

»Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen.«

Nach diesem kleinen Schlagabtausch ist Jacques’ Stimme noch heiserer als vorher. Dennoch fährt er mit seiner Geschichte fort. »Wir hatten da einen Lehrer, der sofort nach dem ›Anschluss‹ anfing, das Hakenkreuz zu tragen. Und der erwischte sie [die Klassenrowdys] jetzt, wie sie den Streber über den Hof jagten, und knöpfte sie sich vor. Er sagte: ›Das ist nicht der wahre Nationalsozialismus. Es geht nicht darum, Menschen zu unterdrücken.‹« Es sollte sich noch herausstellen, wie sehr dieser Lehrer sich irrte. »Ich glaube, eine Menge Leute wussten nicht, was passieren würde«, fügt Jacques hinzu. »Sie wussten nicht, wie schlimm alles werden würde.«

 

Doch selbst auf den Straßen Wiens waren bestimmte Anzeichen der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten nicht zu übersehen. Immer wieder kam es vor, dass SA-Angehörige oder Zivilisten die jüdische Bevölkerung öffentlich demütigten, zum Beispiel, indem sie orthodoxen Juden die Pejes, die Schläfenlocken, abschnitten. Ein besonders sadistisches Ritual bestand darin, Menschen auf Knien die gepflasterten Straßen schrubben zu lassen.

»Einmal erlebte Albert Göring eine dieser Szenen«, erinnert sich Jacques. Er hat diese Geschichte von seinem Stiefvater gehört. »SA-Soldaten und eine Menschenmenge standen um ein paar ältere Damen herum, die die Straße schrubbten, feuerten sie an und verspotteten sie. Göring kam also dazu. Er zog seine Jacke aus. Schnappte sich eine der Bürsten, kniete sich hin und fing an zu schrubben. Und als ein SS-Mann ihn packte und nach seinen Papieren fragte und als er sie ihm zeigte, da war die ganze Chose sofort beendet.«56

Für jeden anderen wäre dieses Eingreifen Selbstmord gewesen. Die Angst, Prügel einzustecken, es den Gedemütigten gleichtun zu müssen oder, noch schlimmer, selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und als einer von »denen« behandelt zu werden, hielt jeden Normalsterblichen davon ab, sich einzumischen. Doch Albert Göring war nicht irgendein Normalsterblicher. Er trug einen der größten Namen der NS-Elite, und zugleich scheute er sich nicht, diesen Namen mit seinen Hilfsaktionen in Verbindung zu bringen. Trotz seines gehobenen Status sollte man nicht verkennen, wie mutig er sich verhielt. Göring oder nicht – wer öffentlich die Autorität auch des kleinsten SA-Schergen in Frage stellte, konnte mit körperlichen Misshandlungen oder einer Verhaftung rechnen. Jüdische Überlebende berichten einhellig, dass es selbst für jemanden wie Albert Göring nicht leicht war, sich zu widersetzen.

Bei dem nächsten Einsatz für die entrechteten Bürger Wiens wurde Albert tatsächlich von der Gestapo verhaftet. Er war einer »75-jährigen Großmutter« zu Hilfe geeilt, deren Enkel das »Farbengeschäft S. Raber in der Wehringerstraße« betrieb, das von Schaulustigen belagert wurde. Einige SA-Schläger demütigten unter den Anfeuerungsrufen der Menge die alte Frau und hängten ihr ein Schild mit der Aufschrift »Ich bin eine Saujüdin« um den Hals. Als Albert begriff, was vor sich ging, war er fassungslos. Sofort regte sich sein Impuls, das Unrecht ausgleichen zu wollen. Er »boxte sich durch die Menge« in das Zentrum des Geschehens vor.57 »Ich ging sofort hinein und befreite sie, und dabei kam es zum Handgemenge mit zwei SA-Männern; ich schlug sie und wurde sogleich verhaftet«, gab Albert während einer Vernehmung in Nürnberg gegenüber Lieutenant William (Bill) Jackson zu Protokoll.58

Anders als die meisten Unglücklichen musste Albert Göring die Gastfreundschaft der SS nicht allzu lange auskosten. Sein Nachname und seine einflussreichen Freunde sorgten dafür, dass er gleich wieder freigelassen wurde – jedoch nicht ohne die Warnung, dass sich so etwas nicht wiederholen dürfe.59 Offenbar nahm er sich die Drohung nicht allzu sehr zu Herzen, denn dieses Spiel, dass Haftbefehle ausgestellt und wieder zurückgenommen wurden, wiederholte sich im Laufe des Krieges insgesamt vier Mal.

 

Es klingelt an der Tür, und Jacques rappelt sich auf, um zwei Handwerker hereinzulassen. »Halloo, naa, dann wolln wir mal«, sagt einer von ihnen mit einem breiten Südstaatenakzent.

»Was macht denn der Mann? Sag schon, was hat er vor?«, fragt Doris ängstlich und sieht sich wachsam nach den vermeintlichen Eindringlingen um.

»Sie reparieren die Klimaanlage. Vielleicht ist dir aufgefallen, wie warm es ist? Sie ist ausgefallen«, erklärt Jacques beschwichtigend.

»Ich muss sofort hoch. Was machen die da oben?« Doris hat die Handwerker die Treppe hochgehen sehen und scheint kurz davor, in Panik auszubrechen.

»Reparieren die Klimaanlage«, wiederholt Jacques geduldig.

»Sollte ich nicht lieber nachsehen?«

»Ja, meinetwegen, ja!«

Am Fuß der Treppe dreht sich Doris noch einmal um. »Was sollen sie reparieren?«, fragt sie.

»Die Kli-ma-anlage!!«

Ja, Alzheimer ist eine grausame Krankheit, aber Jacques und Doris scheinen sich in ihrer ureigenen Sitcom-Serie ganz gut eingerichtet zu haben. Er geht auf sie ein, solange er kann, und sie liefert mit dem resoluten Charme einer jüdischen Mame eine absurde Pointe nach der anderen. Lungenkrebs, neurodegenerative Erkrankungen und Holocaustüberlebende – bei Jacques und Doris wirkt all das irgendwie halb so tragisch.

 

Mit dem »Anschluss« stieg der Druck auf die Familie Benbassat in Wien. Albert Benbassat hatte sich mit fünf Mehrfamilienhäusern ein beachtliches Immobilienvermögen aufgebaut, doch der »Anschluss« hatte nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Folgen. Unternehmen wurden der Kriegswirtschaft einverleibt oder mussten nationalsozialistischen Richtlinien genügen. Wenige Monate nach dem »Anschluss« waren bereits 50 Prozent aller jüdisch geführten Unternehmen unfreiwillig aufgelöst worden.60 Die Benbassats verloren alle ihre Mietshäuser und behielten nur eine Villa am Stadtrand. Die »Nazi-Hypothekenbank«, wie Jacques sie nennt, annullierte einfach ihre Hypotheken. Aufgrund des bedrohlichen politischen und sozialen Klimas und weil Albert Göring ihnen dazu riet, zogen die Benbassats ins nazifreie Bukarest.

Bukarest hatte für die Benbassats den zusätzlichen Vorteil, dass ihr Beschützer immer in der Nähe war, denn auch Albert Göring lebte inzwischen dort. Jacques erinnert sich: »Das war uns eine große Stütze und sehr solidarisch von ihm, dass wir immer wussten, im Falle eines Falles ist jemand da.« Diese neugewonnene Sicherheit ermöglichte es Jacques endlich, so etwas wie eine Kindheit nachzuholen. Er erinnert sich an die Wasserrutschen und das Wellenbecken eines Erlebnisbads, das er gern besuchte. Interessanterweise war dieses Erlebnisbad von Albert Göring selbst entworfen worden. Er schuf damit möglicherweise das erste Erlebnisbad Europas, wenn nicht gar der Welt.

Und dann gab es noch etwas, womit Albert Göring den Benbassats das Leben leichter machte. Jacques’ Stiefvater hatte vor dem »Anschluss« eine große Sammlung seltener, wertvoller Bücher besessen, »all die großen Klassiker«. Sobald er lesen gelernt hatte, verschlang Jacques diese Bücher mit großem Genuss. Doch eines Tages stattete der Vertreter einer großen deutschen Buchhandelsfirma der Familie in Wien einen Besuch ab und wollte ihnen den gesamten Bestand für einen Bruchteil seines Werts abkaufen. Da die Firma der NSDAP nahestand und Albert Benbassat die Sicherheit seiner Familie nicht für eine Büchersammlung aufs Spiel setzen wollte, so kostbar sie auch sein mochte, blieb ihm nichts übrig, als das Angebot anzunehmen.

Einige Monate darauf, in Bukarest, hörte Albert Göring von diesem Übergriff und beschloss, sofort zu handeln. Er setzte sich mit der rumänischen Niederlassung jener Buchhandelsfirma in Verbindung und verlangte die Bücher wie selbstverständlich zurück. »Göring sagte: ›Was haben Sie bezahlt?‹ – ›Einhundert [Reichsmark].‹ – ›Ich kaufe Sie Ihnen für hunderteins wieder ab.‹ Sie haben es nicht gewagt, nein zu sagen«, erzählt Jacques. »Und sofort stand ein Lastwagen voller Bücher vor der Tür. Wir hatten einen begehbaren Kleiderschrank, der wurde bis unter die Decke mit Büchern vollgestellt. Das war eine echte Entdeckung für mich, ich verbrachte dort Stunden, ganze Tage mit meinen Büchern.«

 

Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis das politische Klima auch in Bukarest unerträglich wurde. Aufgrund immenser Gebietsverluste und der ständigen Bedrohung durch die Rote Armee geriet die Regierung König Karls II. zunehmend unter Druck. Im September 1940 ernannte Karl II. daher den »roten Hund« General Ion Antonescu zum Ministerpräsidenten. Dieser brauchte nur zwei Tage, um den Regenten zum Thronverzicht zu zwingen und durch einen Strohmann zu ersetzen: Karls Sohn Michael I. Damit war für Antonescu der Weg frei, sich selbst zum Führer, zum Conducător des Staates aufzuschwingen.

Antonescu verbündete sich mit Deutschland und bot der Eisernen Garde, einer faschistischen und antisemitischen rumänischen Partei, Regierungsposten an, um sie auf seine Seite zu bringen. Doch der Machthunger der Organisation wurde dadurch nur kurzfristig gestillt, und am 21. Januar 1941 unternahmen ihre Anhänger, die sich inzwischen »Legionäre« nannten, einen Putschversuch. Die Benbassats wohnten mitten im Stadtzentrum und erlebten die Kämpfe aus nächster Nähe mit.

»In den Straßen wurde geschossen: die Armee gegen die Legionäre. Wir hatten ein Haus, das mit der Rückseite an einen öffentlichen Platz grenzte … Und dort auf dem Platz wurde ständig gekämpft. Wir konnten sie hören, wie sie schossen und wie jemand hurra, hurra, hurra schrie«, stößt Jacques aufgeregt hervor. Trotz der Kampfhandlungen bot ihre Köchin, die aus Deutschland stammte, der Familie an, Essen für die Kinder zu besorgen. Nicht lange darauf kehrte sie unverletzt und mit einem Armvoll Lebensmittel von draußen zurück. »Sie war unsere große Heldin, bis die Armee den Legionären ordentlich auf die Mütze gab … Ich konnte sie auf dem Dach gegenüber sehen …, wie sie ihre Verwundeten wegbrachten«, erinnert sich Jacques. Am folgenden Tag erklärte die Köchin den Benbassats, sie wolle sofort beurlaubt werden, weil ihre Mutter krank sei. Die Familie ließ sie gehen und wünschte ihr alles Gute. Doch kaum war sie gegangen, kam die Haushälterin tränenüberströmt ins Wohnzimmer. Sie erzählte, die Köchin habe die Familie an die Legionäre verraten. »Sie hatte diesen Kerlen gesagt, da wohnten Juden mit schönen Möbeln und so weiter.« Die Köchin hatte ihnen sogar genaue Anweisungen erteilt: »Wenn ihr hier mit der Armee fertig seid, kommt einfach nach gegenüber und bedient euch, und dann gebt mir einen Anteil davon ab.« Jacques beugt sich zu mir herüber und fügt leise hinzu: »Das wäre unser Tod gewesen. Für diese Leute hätten wir genauso gut Spanier oder Chinesen sein können.«

Antonescu rettete zwar die Benbassats vor der unmittelbaren Bedrohung durch die Eiserne Garde, war aber alles andere als ein Freund des jüdischen Volkes. Er erhob den bereits latent vorhandenen Antisemitismus zur Staatsdoktrin und begann im Sommer 1941 mit der Verfolgung und Deportation »staatenloser« Juden in Konzentrationslager in Transnistrien, das damals von Rumänien besetzt war. Ein Jahr darauf waren in diesen Lagern bereits ungefähr 180 000 Häftlinge interniert.61 Auch in Rumänien selbst wurden in den folgenden Monaten Arbeitslager errichtet. Antonescus Rumänien war der einzige Bündnispartner, der die Vernichtung der Juden ebenso konsequent vorantrieb wie Deutschland selbst. Das größte Massaker ereignete sich am 24. Oktober 1941 in Odessa. Als Reaktion auf eine Explosion, die zwei Tage zuvor die Kommandozentrale des rumänischen Militärs zerstört hatte, wurden 25 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet. Alexe Neacşu, ein Reserveleutnant des 23. Infanterie-Regiments, sagte später aus:

»Dann feuerten sie mit Maschinenpistolen auf die in den vier Baracken … Die Baracken wurden eine nach der anderen abgearbeitet, und die Operation dauerte bis zum Dunkelwerden. … Nachdem sie die Baracken seit einigen Stunden unter Feuer hatten, … beschwerte sich der Leiter der Operation darüber, dass sie die Insassen nur so liquidieren konnten; sie waren sichtlich verärgert darüber, dass es keine schnellere Methode gab, solche Operationen abzuschließen. Sie holten Öl und Benzin, gossen es auf die Baracken und zündeten sie an. … Einige von ihnen tauchten an den Fenstern auf und flehten, um den Flammen zu entkommen, mit Handsignalen darum, erschossen zu werden, und zeigten auf ihren Kopf oder ihr Herz … Manche der Frauen warfen ihre Kinder aus dem Fenster.«62

 

Jacques’ Stiefvater wäre beinahe selbst in einem von Antonescus Lagern gelandet. Einmal stürmte ein Schlägertrupp das Haus der Familie und schickte sich an, Albert Benbassat mitzunehmen. Nachdem »einiges Geld den Besitzer gewechselt« hatte, zogen sie wieder ab. Dieses Erlebnis und die Berichte von Gräueltaten im Nordosten machten den Benbassats klar, dass Rumänien für sie zu gefährlich wurde. Bestechungsgelder und Albert Görings Einfluss würden sie nicht ewig schützen können. Also musste die Familie ein zweites Mal fliehen. Wieder wählten sie eine Diktatur als neue Heimat: Francos Spanien. Francisco Franco zeigte sich den europäischen Juden gegenüber wohlgesonnen. Er verfügte, dass Juden, die nachweislich aus Spanien stammten – zum Beispiel entsprechende Sprachkenntnisse vorweisen konnten –, spanische Staatsbürger werden durften. Da Jacques’ Stiefvater von den Sephardim abstammte (von der Iberischen Halbinsel stammende Juden, die im Mittelalter von dort vertrieben wurden) und noch immer eine alte Variante des Spanischen beherrschte, bekamen seine Familie und er die Staatsbürgerschaft verliehen. Nun brauchten sie noch ein Ausreisevisum für Rumänien sowie Transitvisa für Ungarn, Kroatien, Italien, die Schweiz und Vichy-Frankreich. Diese Visa sowie Devisen für die Reise besorgte ihnen der Liste der Geretteten zufolge Albert Göring.63

Auf der Reise mussten sich die Benbassats wie spanische Staatsbürger verhalten, vor allem also ausschließlich Spanisch sprechen. Jacques hatte an der spanischen Botschaft in Bukarest Unterricht genommen und beherrschte die Sprache einigermaßen, doch manchmal verfiel er unwillkürlich in die deutsche Sprache zurück, erinnert er sich. Zum Glück war dann immer seine Mutter zur Stelle und rückte ihm mit einem kräftigen Klaps den Kopf zurecht. Bis auf diese Unannehmlichkeiten und gelegentliche Probleme mit dem gefälschten chilenischen Pass seiner Großmutter verlief die Fahrt bis zu ihrer ersten Zwischenstation in Venedig einigermaßen reibungslos. Dort erwartete sie mit einer Suite in einem der schönsten Hotels der Stadt Albert Göring. »Er wollte sich nur vergewissern, dass wir gut angekommen waren«, schmunzelt Jacques.

Von Venedig aus fuhren sie mit dem Nachtzug über Mailand in das sichere Genf. Es sollte nach kurzem Aufenthalt weitergehen, doch eine Entzündung am Fuß von Albert Benbassat hielt sie auf. Noch während er in Behandlung war, besetzte Hitler am 11. November 1942 zusammen mit Italien den bis dahin halbautonomen Südteil Frankreichs. Damit waren die Transitvisa der Familie für Vichy-Frankreich ungültig geworden, und sie mussten die letzten Kriegsjahre in der Schweiz verbringen. Dieses eine Mal sollte eine Handlung Hitlers über eine verwickelte Ereigniskette den Benbassats tatsächlich zugutekommen.

Denn die Familie war in der Schweiz nicht ganz hoffnungslos gestrandet: »Albert Göring half Juden in Rumänien und anderen von Deutschland besetzten Ländern, ihr Geld in die Schweiz zu transferieren. Und in unserem Fall bedeutete das, dass wir in der Schweiz ein Konto hatten, als wir dort ankamen.«64

 

So verschlafen und friedlich der Flughafen von Greenville bei meiner Ankunft war, so hektisch und chaotisch ist er jetzt. Die Schlange vor einem der Check-Ins geht fast bis zur Tür. Die Airline-Mitarbeiter haben ein Festnetztelefon an dem einen, ein Handy am anderen Ohr und lauschen mit dem dritten ihren aufgebrachten Kunden. Trotz allem scheint zunächst alles bestens zu sein: Für meinen Flug ist keinerlei Verspätung gemeldet. Doch am Gate sieht die Sache schon anders aus. Ein Gewitter in Washington D.C. hat offenbar ein Chaos ausgelöst und wird unweigerlich verhindern, dass ich dort meinen Anschlussflug nach London erwische.

»Wann geht denn der nächste Flug nach London?«, frage ich eine Mitarbeiterin der Fluggesellschaft am Gate. »Wie wäre es mit Samstag?«, sagt sie. Heute ist Dienstag. Okay, kriege ich ein Hotel? Nein, die Airline kann für höhere Gewalt keine Haftung übernehmen. Was ist mit Wartelisten für andere Flüge? Nein, das funktioniert nur von Washington aus. Und Essen? Tut uns leid, die Läden sind schon zu. Willkommen in der Flughafenhölle!

Wenn man erst einmal die Sicherheitskontrollen hinter sich hat, sind Flughäfen auf der ganzen Welt einander ähnlich: ein gesichtsloses Niemandsland zwischen dem Bekannten und dem (noch) Unbekannten. Sie sind, wie Krankenhäuser, wahre Schmelztiegel, in denen sich die unterschiedlichsten Lebenswege unvermittelt kreuzen. Manchmal kann das rührend sein: Die Wiedersehens- und Abschiedsszenen auf Flughäfen sind besser als jeder Hollywoodfilm. Doch wenn das ganze System in sich zusammenbricht, wenn arrogantes Personal, hysterische Sicherheitsleute und gereizte Passagiere aufeinandertreffen, erlebt man hier die Menschheit von ihrer schlimmsten Seite. Genau so ist der Greenville Airport heute. Und so himmelweit der Unterschied auch ist, scheint es mir nicht der schlechteste Ort zu sein, über die Abgründe des 20. Jahrhunderts nachzudenken.

Ich sehe meinen Mitreisenden dabei zu, wie sie im allgemeinen Chaos zunehmend den Kopf verlieren, und versuche Ordnung in die Geschichte zu bringen, die mich schon so lange in ihrem Bann hält: die Lebensgeschichte Albert Görings. Mir schwirrt noch der Kopf von den vielen Anekdoten, die Jacques dazu beigetragen hat. Jacques hat über sechs Jahrzehnte Zeit gehabt, seine Erinnerungen zu verarbeiten und sich zu fragen, warum Albert sich dem System widersetzte, das so viele andere zur Passivität zwang. Was hat ihn dazu getrieben, sich aufzulehnen und seine Freiheit, sein Leben zu riskieren? Und warum hat er das nicht nur für seine engsten Angehörigen, sondern auch für völlig Fremde getan?

Bei einem ihrer Familienurlaube in den Alpen, den die Benbassats mit Albert Göring verbrachten, ist Jacques zufällig über die Antwort auf diese Fragen gestolpert. Mitten im Gespräch bat Albert ihn, zu definieren, was Freundschaft sei. Jacques war damals noch ein Teenager und antwortete: »Na ja, Freundschaft ist, wenn man jemanden gern in der Nähe hat und Zeit mit ihm verbringt.« Doch Albert schüttelte lächelnd den Kopf und flüsterte ihm ins Ohr: »Es bedeutet viel mehr. Ein Freund, das ist jemand, der sein Vermögen, seine Sicherheit, sogar sein Leben aufs Spiel setzt, wenn du ihn brauchst.« Offenbar sah sich Albert Göring als Freund aller Menschen.