12

Der Dämon Xanth

 

»Hier entlang«, sagte Humfrey. Bink hielt sein Schwert gezückt, während er dem Magier folgte. Juwel folgte ihnen schweigend. Sie trug den Golem auf dem Arm.

»Ach, übrigens«, sagte Humfrey. »Crombie hat dich nicht getäuscht. Das Gegenmittel, das du suchst, liegt tatsächlich in Richtung See – aber darüber hinaus. Die Koralle könnte dir dabei helfen, es zu finden – wenn alles klappen sollte.«

»Ich interessiere mich nicht für Bestechungsangebote des Gegners«, sagte Bink knapp.

»Nicht?« fragte Juwel. »Du willst das Gegenmittel gar nicht?«

»Entschuldige, ich wollte keinen Rückzieher machen«, sagte Bink zu ihr. »Es ist eine Frage des Prinzips. Ich kann dem Gegner nicht gestatten, mich zu korrumpieren, auch wenn ich dich nicht länger mit meiner Liebe belasten will als –«

»Aber das belastet mich doch gar nicht, Bink«, erwiderte sie. »Ich habe noch nie einen so tapferen –«

»Aber da das Gegenmittel offensichtlich nicht in Reichweite ist, hat es keinen Zweck, dich noch länger aufzuhalten. Es tut mir leid, daß ich dir solche Unannehmlichkeiten bereitet habe. Du kannst jetzt gehen, wenn du willst.«

Sie ergriff seinen Arm. Bink wich instinktiv mit dem Schwert aus. »Bink, ich –«

Schließlich gab Bink seinem Verlangen endlich nach und küßte sie. Zu seiner Verwunderung erwiderte sie den Kuß auf stürmische Weise. Der Duft gelber Rosen umhüllte sie.

Dann schob er sie sanft beiseite. »Paß gut auf dich auf, Nymphe. Diese Art von Abenteuer ist nichts für dich. Es ist mir lieber, wenn du in Sicherheit bist, bei deinen Edelsteinen und deiner Aufgabe, und zwar für immer.«

»Bink, ich kann aber nicht gehen.«

»Du mußt gehen! Hier unten herrschen nur Schrecken und Gefahr, und ich habe kein Recht, dich dem auszusetzen. Du mußt gehen, ohne von der Quelle der Magie zu erfahren, damit du auch keinen Feind hast.«

Jetzt duftete sie nach Kiefern an einem heißen Tag, stechend und frisch und leicht berauschend. Das Elixier hatte auch ihre Heiserkeit kuriert und die Ringe unter ihren Augen beseitigt. Sie war immer noch genauso schön wie am Tag ihrer ersten Begegnung. »Du hast aber auch kein Recht, mich wegzuschicken«, maulte sie.

Humfrey machte eine Bewegung. Sofort sprang Binks Schwert warnend empor. Juwel wich verängstigt zurück.

»Keine Sorge«, sagte der Magier. »Wir nähern uns der Quelle der Magie.«

Bink war immer noch mißtrauisch und mochte es nicht glauben. »Ich kann nichts Besonderes erkennen.«

»Siehst du den Fels dort?« fragte Humfrey zeigend. »Das ist das magische Felsgestein, das im Laufe von Jahrhunderten durch einen Riß in der Kruste nach oben vordringt. Oben wird es dann zu Staub. Das ist Teil der natürlichen oder auch magischen Veränderung der Erdkruste.« Er deutete in die Tiefe. »Unten wird er aufgeladen. In der Quelle der Magie.«

»Ja, aber wie?« wollte Bink wissen. »Warum hat die Koralle sich so vehement gegen mein Kommen gestellt?«

»Das wirst du bald erfahren.« Der Magier führte sie zu einem natürlichen, abschüssigen Tunnel. »Spürst du, wie die Magie hier intensiver wird? Selbst das allerkleinste Talent bekommt hier Magierausmaße. Aber durch die Umgebung werden alle Talente schließlich neutralisiert. Paradoxerweise ist es so, als existiere gar keine Magie, weil sie sich nicht richtig differenzieren läßt.«

Für Bink war das ein bißchen zu hoch. Er schritt weiter hinab und lauerte auf einen möglichen weiteren Verrat, des magischen Drucks seiner Umgebung bewußt. Wenn ein Blitzkäfer hier seinen winzigen Funken versprühte, dann würde das eine Explosion geben, die einen ganzen Berggipfel wegsprengen konnte. Sicher, sie näherten sich der Quelle – aber war das vielleicht auch eine Falle?

Der abschüssige Gang führte in eine gewaltige Höhle hinab, in deren gegenüberliegende Wand eine riesige Dämonenfratze eingemeißelt war. »Der Dämon Xanth, die Quelle der Magie«, sagte Humfrey schlicht.

»Diese Statue? Bloß die Maske da?« fragte Bink ungläubig. »Was soll denn das für ein Witz sein?«

»Das ist wohl kaum ein Witz, Bink. Ohne diesen Dämon wäre unser Land nicht anders als Mundania. Ein Land bar jeder Magie.«

»Und mehr können Sie mir nicht bieten? Das soll ich glauben?«

»Ich erwarte gar nicht, daß du das glaubst. Du mußt dir erst einmal das Prinzip erklären lassen, erst dann wirst du die Bedeutung dessen, was du siehst, auch erfassen – und begreifen, welch ein unerhörtes Risiko deine Gegenwart hier für unsere Gesellschaft bedeutet.«

Bink schüttelte resigniert den Kopf. »Ich habe gesagt, daß ich zuhören würde, also höre ich auch zu. Aber ich garantiere nicht dafür, daß ich Ihnen Ihre Geschichte auch glaube.«

»Du wirst gar nicht anders können«, erwiderte Humfrey. »Es geht vielmehr darum, ob du sie annimmst. Die Information geht uns auf folgende Weise zu: Wir werden durch diese Höhle schreiten und einige von den magischen der Gedankenstrudel des Dämons abfangen. Dann werden wir alles begreifen.«

»Ich habe kein Bedürfnis nach weiteren magischen Erfahrungen!« protestierte Bink. »Ich will nur wissen, was es mit der Quelle auf sich hat.«

»Das wirst du ja auch, das wirst du ja auch«, sagte Humfrey. »Geh einfach mit mir mit, das ist alles. Es gibt keinen anderen Weg.« Er machte einen Schritt nach vorn.

Mißtrauisch folgte Bink ihm, denn er wollte nicht, daß der Magier außer Reichweite seines Schwerts kam.

Plötzlich verspürte er einen Schwindel, als würde er in die Tiefe stürzen, dabei stand er mit beiden Beinen fest auf dem Höhlenboden. Er blieb stehen, um sich gegen etwas zu rüsten, das er nicht zu definieren vermochte. War das ein weiterer Sieg des Wahnsinns? Wenn das die Falle sein sollte –

Da erblickte er Sterne. Nicht die armseligen Fünkchen am Nachthimmel, sondern monströse und fremdartige Kugeln aus einer lodernden und doch nicht verbrennenden Substanz, aus einem Gas, das dichter war als Wasser, und aus Gezeiten ohne Gewässer. Sie waren so weit voneinander entfernt, daß nicht einmal ein Drache die Entfernung in einem ganzen Leben ununterbrochenen Fluges zu überbrücken vermocht hätte, und so zahlreich, daß ein Mensch sie in einem Leben nicht alle hätte zählen können, und doch waren sie alle auf einmal zu sehen. Zwischen diesen magischen groß-kleinen, fern-nahen Gewißheiten unglaublicher Art flogen allmächtige Dämonen umher, die mal einen kleinen (gigantischen) Stern berührten, um ihn zum Flackern zu bringen, mal einen großen (winzigen) zum Glühen brachten und gelegentlich einen Stern so stark anhauchten, daß er mit einem grellen Blitzen zu einer Nova wurde. Das Reich der Sterne war das Spielfeld der Dämonen.

Die Vision verblaßte. Bink blickte sich verwirrt in der Höhle um. »Du bist aus diesem Gedankenstrudel herausgetreten«, erklärte Humfrey. »Sie sind alle äußerst schmal, aber dafür auch sehr tief.«

»Hm, ja«, meinte Bink. Er machte einen weiteren Schritt nach vorn – und stand einer hübschen Dämonin gegenüber, deren Augen so tief waren wie der Strudel der Ungeheuer, mit Haaren, die sich wie ein Kometenschweif hinter ihr ausbreiteten.

Sie war nicht im eigentlichen Sinne weiblich, da sich Dämonen nicht fortpflanzten und keine Geschlechtlichkeit besaßen, außer wenn sie sich damit amüsieren wollten. Sie lebten ewig, hatten immer existiert und würden es auch immer tun, solange Existenz noch einen Sinn hatte. Doch um der Abwechslung willen spielten sie manchmal mit dem Geschlecht, indem sie männliche, weibliche, dingmännliche, mannmännliche, weibmännliche, neutralmännliche und anonymmännliche Gestalt annahmen. Doch diese hier ließ sich durchaus als weiblich bezeichnen.

»???«, sagte sie und formulierte ein derart all-umfassendes Konzept, daß es Binks Fassungsvermögen überstieg. Und doch hatte ihre Aussage einen so tiefen Sinn, daß es ihn innerlich heftig aufwühlte. Plötzlich hatte er den Drang – aber so etwas wäre nach menschlichen Maßstäben unaussprechlich obszön gewesen, wenn es überhaupt vorstellbar oder gar möglich gewesen wäre. Letztlich stand sie doch nicht der Kategorie »weiblich« am nächsten …

Bink gelangte aus dem Gedankenstrudel und sah Juwel, die wie gebannt in einem anderen Strudel stand. Ihr Mund war geöffnet, und sie atmete schwer. Was sie wohl gerade erleben mochte? Bink reagierte auf vier Ebenen gleichzeitig: Entsetzen darüber, daß sie einem derart hochgeistigen und doch groben, betörenden Gedanken ausgesetzt werden könnte, wie er ihn gerade erfahren hatte, denn sie war doch nur eine unschuldige Nymphe; Eifersucht, daß sie auf solch entzückte Weise auf einen anderen reagierte, erst recht wenn es sich dabei um eine so anzügliche Emotion handeln sollte, wie sie ihm gerade zuteil geworden war; Schuldgefühle, weil er solche Gefühle für eine Nymphe hegte, die er doch nicht haben konnte, und schließlich intensivste Neugier. Angenommen, ein dingmännliches Wesen würde ihr einen Antrag – oh, entsetzlich! Und doch auch so verlockend!

Doch Humfrey ging weiter, und Bink mußte ihm folgen. Er trat in ein Feld ewiger Erinnerung, die so lang war, daß sie einem magischen Pfad glich, der an beiden Enden in die Unendlichkeit mündete. Die Sichtlinie – obwohl es sich nicht wirklich um den Gesichtssinn handelte – in die Vergangenheit verschwand in einem weit, weit entfernten Blitz. Das Dämonenuniversum hatte mit einer Explosion begonnen und endete in einer weiteren, und Zeit und Materie waren nur eine Lücke zwischen beiden Explosionen – die wiederum nur zwei Aspekte ein und desselben Knalls waren. Offensichtlich handelte es sich um ein Universum, das völlig fremdartig war. Und doch wurde es nach und nach in diesem Strom der Bedeutungslosigkeit immer glaubwürdiger. Ein supermagischer Rahmen für die supermagischen Dämonen! Bink trat aus dem GEDANKEN heraus. »Aber was haben denn die Dämonen mit der Quelle der Magie von Xanth zu tun?« fragte er kläglich.

Da trat er in einen völlig neuen Strudel. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir unser A vergrößern, kommunizierte der pseudo-weibliche Dämon verführerisch. Jedenfalls war es das, was Bink einigermaßen sicher unter all den unterschwelligen und vielschichtigen Myriaden von Symbolen und Resonanzen heraushörte, die mindestens ebenso intensiv waren wie diffus und konfus. Meine Formel ist L(A/N)d und deine ist X(A/N)th. Unsere As passen zueinander.

Wenn man alles bedachte, war es ein ganz gutes Angebot, da ihre anderen Elemente sich zumindest teilweise voneinander unterschieden und nicht miteinander vergleichbar waren.

Bei deiner Existenz, nein! protestierte ein anderer. Es war E(L/A)n.

Vergrößere unser L und nicht unser A. Er würde durch das größer werdende A verlieren.

Vergrößere doch sowohl L als auch E, schlug ein anderer vor. Es war L(E/I)d, und E(L/A)n stimmte sofort zu. Auch L(A/N)d war dafür, weil sie in gewissem Umfang auch davon profitieren würde. Aber das ließ X(A/N)th außen vor. So kam es schließlich zu keinem Kontrakt.

Verwirrt trat Bink aus dem Strudel. Waren dies Namen oder Formeln? Hatten diese Buchstaben Werte? Was ging hier vor?

»Ah, du hast es gesehen«, sagte Humfrey. »Die Dämonen haben keine Namen, sondern Spielpunkte. Variable Eingaben werden substituiert, was die numerischen Werte beeinflußt – obwohl es eigentlich gar keine Zahlen sind, sondern Grade von Konzepten, mit Tiefe, Anziehungskraft, Ausstrahlung und anderen Dimensionen, die wir kaum begreifen können. Am wichtigsten ist das jeweilige Ergebnis.«

Diese Erklärung machte alles nur noch geheimnisvoller. »Dann ist der Dämon Xanth nur ein Spielergebnis?«

»Der Dämon, dessen Punktformel X(A/N)th ist – drei Variable und ein Exponentialfaktor, besser können wir das nicht verstehen«, sagte der Magier. »Die Spielregeln übersteigen unser Fassungsvermögen, aber wir sehen, wie ihre Spielergebnisse sich verwandeln.«

»Spielergebnisse sind mir egal!« rief Bink. »Was hat das alles für einen Sinn?«

»Was hat das Leben für einen Sinn?« gab Humfrey zurück.

»Na ja … na, wachsen, verbessern, irgend etwas Nützliches tun«, erwiderte Bink. »Aber nicht, mit Konzepten zu spielen.«

»Das siehst du so, weil du kein Dämon bist, sondern ein Mensch. Diese Wesen sind unfähig, zu wachsen oder sich zu verbessern.«

»Aber was ist denn mit ihren ganzen Zahlen, ihrer Beschleunigungspotenzierung, Viskositätserhöhung …«

»Ach so, ich dachte, du hättest das verstanden«, sagte der Magier. »Das sind keine Erweiterungen dämonischen Intellekts oder dämonischer Macht, sondern ihrer Stellung. Dämonen wachsen nicht, sie sind bereits allmächtig. Es gibt nichts, was sie sich vorstellen können, das sie nicht auch besitzen könnten. Nichts, was ihnen unmöglich wäre. Deshalb können sie nach unserer Definition auch nichts verbessern und nichts Nützliches tun, weil sie nämlich bereits absolut sind. Folglich gibt es keinerlei Grenzen, keinerlei Herausforderung.«

»Keine Herausforderung? Wird das nicht etwas langweilig mit der Zeit?«

»Ja, in einer Milliarde Jahre wird es sogar milliardenfach langweiliger«, meint der Magier.

»Und deshalb spielen die Dämonen Spiele?« fragte Bink ungläubig.

»Wie soll man die Zeit denn besser verbringen und das Interesse an der Existenz wiedererlangen? Da sie keine wirklichen Grenzen kennen, setzen sie sich selbst welche, freiwillig. Der Reiz künstlicher Herausforderung verjagt die Langeweile der Wirklichkeit.«

»Hm, vielleicht«, brummte Bink zweifelnd. »Aber was hat das alles mit uns zu tun?«

»Der Dämon X(A/N)th zahlt eine Spielstrafe, weil er die Formel nicht innerhalb der festgesetzten Runde vollendet hat«, sagte Humfrey. »Er darf sich nicht mehr bewegen und muß in völliger Isolation bleiben, bis man ihn freiläßt.«

Bink stand still und bewegte sich nicht, um in keine weiteren Gedankenströme zu geraten.

»Ich habe keine Fesseln gesehen, die ihn festgehalten hätten. Und was die Isolation angeht, so gibt es hier doch jede Menge Wesen.«

»Keine Fessel könnte ihn binden, denn er ist ja allmächtig. Er hält sich eben an die Spielregeln. Und wir beide zählen natürlich nicht als Gesellschaft, wie alles im Lande Xanth nicht zählt. Wir sind Parasiten und keine Dämonen.«

»Aber … aber …« Verzweifelt kämpfte Bink um den Sinn des Ganzen, konnte ihn aber einfach nicht fassen. »Sie haben doch gesagt, daß der Dämon die Quelle der Magie sei!«

»Das habe ich in der Tat. Der Dämon X(A/N)th ist seit über tausend Jahren hier gefangen. In dieser Zeit hat sein Körper geringe Mengen Magie verloren, die herausgesickert sind und seine Umgebung getränkt haben. Es ist so wenig, daß er es kaum bemerkt – so wie eine natürliche Abstrahlung, ähnlich wie unsere Körper Hitze abgeben.«

Bink fand das genauso phantastisch wie die Strudelgedanken des Dämons. »Seit tausend Jahren? Ein Heraussickern der Magie?«

»In einem solchen Zeitraum kann selbst ein kleines Leck eine ganze Menge hindurchlassen – jedenfalls nach den Maßstäben der Schmarotzer«, versicherte ihm der Magier. »Alle Magie im Lande Xanth rührt daher. Und diese ganze Magie zusammengenommen würde nicht einmal einen einzigen Buchstaben der Formel des Dämonen ausmachen.«

»Aber selbst wenn dem so sein sollte – warum hat dann die Gehirnkoralle versucht, mich daran zu hindern, das herauszufinden?«

»Die Koralle hat nichts gegen dich persönlich, Bink. Ich glaube, daß sie deine Entschlossenheit sogar achtet. Sie ist einfach nur dagegen, daß überhaupt irgend jemand die Wahrheit erfährt. Denn wenn jemand dem Dämon X(A/N)th begegnen sollte, könnte es sein, daß er in Versuchung käme, ihn freizulassen.«

»Wie könnte ein bloßer Parasit … ich meine, eine Person, eine solche Wesenheit freilassen? Sie haben doch selbst gesagt, daß der Dämon aus freier Wahl hier bleibt.«

Humfrey schüttelte den Kopf. »Was bedeutet jemandem, der allmächtig ist, freie Wahl? Er bleibt hier, weil das Spiel es so fordert. Das ist was ganz anderes.«

»Aber er spielt das Spiel doch nur zu seiner Unterhaltung! Er kann doch jederzeit aufhören!«

»Das Spiel gilt nur so lange, wie seine Regeln eingehalten werden. Wenn er schon über tausend Jahre darein investiert hat

und nun kurz vor dem Erfolg – im Rahmen der Spielregeln – steht, warum sollte er da plötzlich aufhören?«

Bink schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn für mich. Ich würde mich jedenfalls nicht auf solche Weise selbst quälen.« Doch in einem verborgenen Teil seines Bewußtseins nagte der Zweifel. Er quälte sich schließlich auch mit Juwel herum, indem er die menschliche Konvention seiner Ehe mit Chamäleon respektierte. Das würde einem Dämon vielleicht unsinnig vorkommen …

Humfrey blickte ihn verständnisvoll an.

»Also gut«, meinte Bink schließlich. »Dann wollte die Koralle also nicht, daß ich von dem Dämon erfahre, damit ich ihn nicht freilassen kann. Wie könnte ich denn ein allmächtiges Wesen freilassen, das gar nicht freigelassen werden will?«

»Oh, X(A/N)th will bestimmt freigelassen werden! Es ist lediglich notwendig, daß das Protokoll dabei eingehalten wird. Du könntest es ganz einfach dadurch tun, indem du den Dämon anredest und sagst: ›Xanth, ich lasse dich frei!‹ Jeder kann das, außer dem Dämon selbst.«

»Aber wir zählen doch für ihn gar nicht! Wir sind doch ein Nichts, reine Parasiten!«

»Ich habe die Regeln nicht geschaffen, ich deute sie lediglich auf der Grundlage der Erfahrung, die die Gehirnkoralle über Jahrhunderte hinweg hat sammeln können«, sagte der Magier mit gespreizten Händen und hochgezogenen Schultern. »Natürlich ist unsere Deutung recht mangelhaft. Aber ich wage zu spekulieren, daß der Dämon eine Wette eingegangen ist, daß irgendwann einer der Parasiten etwas Bestimmtes sagen wird. Das verleiht dem Ganzen eine unterhaltsame Zufälligkeit.«

»Wenn er so viel Macht hat, kann Xanth doch einen von uns dazu zwingen.«

»Das wäre das gleiche, als wenn er es selbst täte. Es wäre Schummeln. Die Spielregeln verlangen, daß er bleiben muß und kein anderes Wesen in seinem Interesse beeinflussen darf. Das ist keine Frage der Macht, sondern der Übereinkunft. Der Dämon weiß von allem, was hier vor sich geht, einschließlich unserer jetzigen Unterhaltung. Doch sobald er eingreift, verliert er den Punkt. Also sieht er nur zu und wartet ab, ohne etwas zu unternehmen.«

»Abgesehen vom Denken«, warf Bink ein, den die Tatsache beunruhigte, daß der Dämon sie beobachtete. Wenn Xanth Binks Gedanken gelesen hatte, während Bink Xanths Gedanken gelesen hatte, vor allem während dieser weibmännlichen Erinnerung … o weh!

»Denken ist gestattet. Das ist eine weitere angeborene Eigenschaft, genau wie seine kolossale Magie. Er hat nicht versucht, uns mit seinen Gedanken zu beeinflussen, denn wir haben sie aus eigenem Willen heraus abgefangen. Da die Koralle dem Dämon in diesem Jahrtausend am nächsten gestanden hat, hat sie auch mehr von X(A/N)th’s Magie und Gedanken aufgenommen als jedes andere eingeborene Lebewesen hier. Daher versteht sie ihn auch weniger mangelhaft als alle anderen Parasiten. Folglich ist die Gehirnkoralle zum Bewacher des Dämons geworden.«

.»Und verhindert eifersüchtig, daß irgend jemand anders eine ähnliche Magie oder ein ähnliches Wissen erlangt!« rief Bink.

»Nein. Es ist eine notwendige, aber langweilige Aufgabe, die die Koralle schon vor Jahrhunderten gerne wieder abgegeben hätte. Ihr dringlichster Wunsch ist es, einen sterblichen Körper zu bewohnen, zu leben und zu lieben und zu hassen und sich fortzupflanzen und zu sterben, wie wir es tun. Aber das kann

sie nicht, es sei denn, der Dämon wird befreit. Die Koralle ist ebenso langlebig wie der Dämon, besitzt aber nicht seine Macht. Es ist eine nicht eben beneidenswerte Situation.«

»Dann wollen Sie also damit sagen, daß der Dämon Xanth schon vor Hunderten von Jahren befreit worden wäre, wenn die Koralle nicht eingegriffen hätte?«

»So ist es«, sagte der Magier.

»Welch eine Anmaßung! Und der Dämon duldet das sogar?«

»Der Dämon duldet es, weil er sonst seinen Punkt verliert.«

»Na, für mich ist das jedenfalls eine eklatante Verletzung der Bürgerrechte des Dämons, die ich auf der Stelle aus der Welt schaffen werde!« rief Bink in gerechtem Zorn. Doch dann zögerte er.

»Was gewinnt die Koralle denn dadurch, daß der Dämon angekettet bleibt?«

»Das weiß ich nicht mit Sicherheit, aber ich kann Vermutungen anstellen«, erwiderte Humfrey. »Sie tut das nicht für sich selbst, sondern um den Status quo aufrechtzuhalten. Denk doch mal nach, Bink: Was würde denn passieren, wenn der Dämon freigelassen würde?«

Bink überlegte. »Wahrscheinlich würde er zu seinem Spiel zurückkehren.«

»Und was wäre dann mit uns?«

»Hm, ja, da wäre die Gehirnkoralle wohl in Schwierigkeiten. Ich weiß, daß ich jedenfalls ziemlich wütend wäre, wenn jemand mich jahrhundertelang daran gehindert hätte, befreit zu werden. Aber die Koralle muß doch vorher gewußt haben, welches Risiko sie damit eingeht.«

»Das hat sie auch. Der Dämon kennt keine menschlichen Gefühle. Er akzeptiert die Behinderung durch die Koralle als

Teil des natürlichen Spielrisikos. Er wird nicht nach Rache trachten. Aber es könnte trotzdem Konsequenzen haben.«

»Wenn Xanth keine menschlichen Gefühle kennt«, sagte Bink langsam, »dann kann ihn doch nichts daran hindern, uns alle zu vernichten, nicht wahr? Das wäre doch eine ganz leidenschaftslose, ja sogar vernünftige Methode, sicherzugehen, daß er hier nie wieder gefangengesetzt würde.«

»Jetzt beginnst du zu verstehen, was die Koralle bekümmert«, erwiderte Humfrey. »Unser ganzes Leben kann davon abhängen. Selbst wenn der Dämon uns ignorieren und einfach fortgehen sollte, hätte das mit Sicherheit Konsequenzen.«

»Das glaube ich auch«, meinte Bink. »Wenn Xanth die Quelle der ganzen Magie unseres Landes ist –« Bestürzt brach er ab. »Das wäre ja dann das Ende der Magie! Wir würden werden wie –«

»Ganz genau. Wie Mundania«, schloß Humfrey. »Vielleicht würde das nicht gleich sofort geschehen. Es könnte eine Weile dauern, bis die in tausend Jahren angesammelte Magie sich aufgelöst hat. Vielleicht geschähe der Verlust aber auch sofort und vollständig, das wissen wir einfach nicht vorher. Auf jeden Fall würde es zu einer Katastrophe gleich welchen Ausmaßes kommen. Jetzt begreifst du endlich, welche Last die Koralle ganz allein auf sich genommen hat. Sie hat unser Land vor einem noch schlimmeren Schicksal als der Vernichtung bewahrt.«

»Aber vielleicht würde der Dämon ja gar nicht fortgehen«, warf Bink ein. »Vielleicht gefällt es ihm ja hier …«

»Würdest du für diese Annahme dein Leben aufs Spiel setzen?«

»Nein!«

»Verdammst du die Koralle immer noch, weil sie versucht hat, dich aufzuhalten?«

»Nein, ich hätte an ihrer Stelle vermutlich das gleiche getan.«

»Dann wirst du also umkehren, ohne den Dämon zu befreien?«

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Bink. »Ich habe zugesichert, mir die Schilderung der Koralle anzuhören, und das habe ich auch getan. Aber ich muß allein entscheiden, was richtig und was falsch ist.«

»Ist das noch eine Frage, wenn das Wohlergehen unseres ganzen Landes davon abhängt?«

»Ja, denn das Wohlergehen des Dämons hängt ebenfalls davon ab.«

»Aber für X(A/N)th ist das alles nur ein Spiel. Für uns geht es um unser Leben.«

»Ja«, pflichtete Bink unverbindlich bei.

Der Magier sah ein, daß es keinen Zweck hatte, weiter zu diskutieren. »Das ist das große Risiko, das wir nicht eingehen wollten – das Risiko einer individuellen Gewissenskrise. Alles liegt in deiner Hand. Die Zukunft unserer ganzen Gesellschaft.«

Bink wußte, daß das stimmte. Weder Humfrey noch die Koralle konnten ihn bei seiner Entscheidung beeinflussen. Er konnte eine Sekunde, eine Stunde oder auch ein Jahr darüber nachgrübeln, frei von jeder Beeinflussung. Er durfte keinen Fehler begehen.

»Grundy«, sagte Bink, und der Golem lief auf ihn zu, unbeeinflußt von den Gedankenstrudeln. »Willst du, daß der Dämon Xanth befreit wird?«

»Ich kann solche Entscheidungen nicht treffen!« protestierte Grundy. »Ich bin nur ein Wesen aus Bindfäden und Lehm, ein Wesen aus Magie.«

»Wie der Dämon auch«, entgegnete Bink. »Du bist nichtmenschlich, nicht richtig lebendig. Man könnte dich als Miniaturdämon bezeichnen. Ich dachte, daß du mir vielleicht eine Einsicht vermitteln könntest.«

Grundy schritt ernst hin und her. »Meine Aufgabe ist dasÜbersetzen. Ich mag zwar nicht dieselben Gefühlserfahrungen machen wie du, aber von dem Dämon habe ich eine erschreckend klare Vorstellung. Er gleicht mir tatsächlich, wie ein Drache einem Nickelfüßler gleicht. Ich kann dir eines sagen: Er besitzt weder ein Gewissen noch kennt er Mitleid.

Er spielt sein Spiel genau nach den Regeln, aber wenn du ihn freisetzt, wirst du weder Dankbarkeit noch eine Belohnung von ihm bekommen. Es hieße für ihn ja sogar, im Spiel zu betrügen, wenn er dir für deinen Dienst etwas gäbe, weil er dich damit ja beeinflussen könnte. Aber selbst wenn die Belohnung zulässig wäre, würde er sie dir nicht zuteil werden lassen. Er kann dich ebenso einfach zertreten wie dich beschnuppern.«

»Er ist wie du«, wiederholte Bink. »So, wie du warst, bevor du dich verändert hast. Jetzt bist du halb wirklich. Du sorgst dich – wenigstens ein bißchen.«

»Ich bin jetzt ein unvollkommener Golem. Xanth ist ein vollkommener Dämon. Für mich stellt das Menschwerden einen Fortschritt dar, für ihn wäre es ein Sündenfall. Er ist nicht wie du.«

»Und doch interessiert mich nicht, ob er ist wie ich oder ob er Dankbarkeit zeigt. Mich interessiert die Gerechtigkeit«, sagte Bink. »Ist es recht, daß der Dämon befreit wird?«

»Nach seiner Logik wärst du ein arger Trottel, wenn du ihn befreien solltest.«

Der Gute Magier, der etwas seitlich von ihnen stand, nickte zustimmend.

»Juwel!« sagte Bink.

Die Nymphe hob die Augen. Sie roch nach alten Knochen. »Mir macht nichts so viel Angst wie der Dämon«, sagte sie. »Seine Magie … er kann uns mit einem Wimpernzucken völlig auslöschen.«

»Dann würdest du ihn nicht freilassen?«

»O nein, Bink – niemals.« Sie stockte kurz und lieblich. »Ich weiß ja, daß du den Liebestrank zu dir genommen hast, deshalb ist das vielleicht unfair, aber ich habe eine solche Angst vor der Reaktion des Dämons, daß ich absolut alles für dich tun würde, nur damit du ihn nicht freisetzt.«

Wieder nickte der Gute Magier. Nymphen waren recht schlichte, direkte Wesen, von keinerlei komplizierten Gewissenskonflikten oder gesellschaftlichen Konventionen behindert. Eine wirkliche Frau hätte vielleicht ebenso empfunden wie Juwel, aber sie hätte sich wesentlich indirekter ausgedrückt und dafür eine zumindest oberflächlich überzeugende Begründung abgegeben. Die Nymphe hatte ihren Preis klar offenbart.

Also rieten sowohl die logischen als auch die gefühlsbetonten Berater ihm, den Dämon X(A/N)th nicht freizulassen. Und doch war Bink noch unentschieden. Irgend etwas an dieser riesigen, supermagischen, spielenden Wesenheit –

Da hatte er es! Ehre! In seinem eigenen Rahmen war der Dämon ehrenhaft. Er verstieß nicht gegen die Spielregeln – nicht einmal im kleinsten Detail, obwohl niemand von seinen Genossen da war, um es zu bemerken, und das schon seit tausend Jahren. Eine Integrität, die jedes menschliche Vermögen überstieg. Sollte er dafür etwa bestraft werden?

»Ich respektiere Sie«, sagte Bink schließlich zu Humfrey. »Und ich respektiere auch das Motiv der Gehirnkoralle.« Er wandte sich an den Golem. »Ich meine, du solltest deine Chance haben, voll und ganz wirklich zu werden.« Und zu der Nymphe sagte er: »Und dich liebe ich, Juwel.« Er machte eine Pause. »Aber ich könnte nichts und niemanden respektieren, wenn ich nicht auch die Gerechtigkeit respektierte und achtete. Wenn ich es zuließe, daß meine persönlichen Bindungen und Wünsche über meine eigene Rechtschaffenheit siegten, dann dürfte ich mich nicht mehr als moralisches Wesen bezeichnen. Ich muß tun, was ich für richtig halte.«

Die anderen antworteten nicht, sondern blickten ihn stumm an.

»Das Problem ist folgendes«, fuhr Bink nach einer kurzen Pause fort. »Ich bin mir nicht sicher, was wirklich richtig und Rechtens ist. Die Grundprinzipien des Dämons sind derart kompliziert und die Folgen eines Magieverlusts für unser Land sind derartig gewaltig … daß ich nicht weiß, was Recht und was Unrecht ist.« Er stockte erneut. »Ich wünschte, Chester wäre hier, damit ich mich mit ihm verständigen könnte, sowohl Vernunft- als auch gefühlsmäßig.«

»Du kannst den Zentauren retten«, sagte Humfrey. »Das Wasser des Korallensees tötet nicht, es konserviert nur. Er schwebt im Salzwasser und kann nicht fliehen, aber er lebt. Die Koralle kann ihn nicht befreien, denn das Salzwasser konserviert sie selbst auf ähnliche Weise. Aber wenn du die Magie unseres Landes rettest, kannst du mit Hilfe der phänomenalen Kraft dieser Umgebung hier deinen Freund wieder hervorholen.«

»Sie bieten mir schon wieder eine Verlockung persönlicher Art an«, erwiderte Bink. »Ich darf mich nicht von Ihnen beeinflussen lassen!« Denn nun begriff Bink, daß er den Kampf gegen die Gehirnkoralle immer noch nicht gewonnen hatte. Äußerlich war er zwar der Sieger, aber innerlich blieb die Sache noch unentschieden. Wie konnte er sichergehen, daß die Entscheidung, die er treffen würde, auch tatsächlich seine eigene sein würde?

Dann hatte er eine brillante Idee. »Argumentieren Sie doch mal für die Gegenseite, Magier! Sagen Sie mir, warum ich den Dämon freilassen sollte!«

Humfrey winkte erschrocken ab. »Du sollst den Dämon aber nicht freilassen!«

»Das sagen Sie. Das glaubt auch die Koralle. Ich kann aber nicht feststellen, ob das wirklich Ihr Wille ist oder nur das Produkt einer Beeinflussung durch Ihren Herrn. Also werden Sie jetzt für den Dämon argumentieren, und ich argumentiere dafür, daß er angekettet bleibt. Vielleicht finden wir auf diese Weise ja zur Wahrheit.«

»Du hast selbst etwas von einem Dämon an dir«, murmelte Humfrey.

»Jetzt werfe ich also ein, daß diese meine Freunde wichtiger sind als irgend so ein unpersönlicher Dämon«, sagte Bink. »Ich weiß zwar nicht, was für X(A/N)th gut ist, aber ich weiß auf jeden Fall, daß meine Freunde nur das Beste verdienen. Wie kann ich sie verraten, indem ich den Dämon befreie?«

Humfrey sah aus, als hätte er sein Böser-Blick-Auge verschluckt, aber er machte dennoch gute Miene zum bösen Spiel. »Das ist doch keine Frage des Verrats, Bink. Keines dieser Wesen hätte jemals die Magie kennengelernt, wenn der Dämon nicht hier gewesen wäre. Jetzt ist X(A/N)th’s Zeit der Gefangenschaft zu Ende, und er muß freigelassen werden.

Wenn du das nicht tätest, würde das bedeuten, daß du deine Rolle im Spiel des Dämonen verrätst.«

»Ich habe keine Verpflichtung, am Spiel des Dämonen teilzunehmen!« gab Bink zurück. Langsam bekam er ein Gespür für die Diskussion. »Mich hat der reine Zufall hierher gebracht.«

»Das ist doch gerade die Rolle! Daß du, als bewußtes, denkfähiges Wesen, ohne vom Dämonen beeinflußt worden zu sein, aus eigenem Ansporn und per Zufall hierher kommst, um ihn zu befreien. Du hast gegen uns alle gekämpft, um zu dieser Entscheidung zu finden, und du hast auch gewonnen. Willst du jetzt alles einfach wegwerfen?«

»Ja, wenn es das beste sein sollte.«

»Wie kannst du dir anmaßen zu wissen, was das beste für ein Wesen wie X(A/N)th ist? Befreie ihn und laß ihn sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.«

»Auf Kosten meiner Freunde, meines Landes und meiner Geliebten?«

»Die Gerechtigkeit ist absolut. Du darfst keine persönlichen Faktoren dagegen aufwiegen.«

»Die Gerechtigkeit ist aber nicht absolut! Sie hängt von der jeweiligen Situation ab. Wenn in beiden Waagschalen Recht und Unrecht liegen, dann ist der Ausschlag –«

»Du kannst doch nicht Recht und Unrecht mit einer Waage gegeneinander aufwiegen, Bink!« sagte Humfrey heftig. Er hatte sich inzwischen in seine Rolle als Dämonenadvokat hineingesteigert. Jetzt war Bink überzeugt davon, daß es der Gute Magier selbst war, der zu ihm sprach, und nicht die Gehirnkoralle. Der Feind hatte Humfrey zumindest in diesem Umfang freigeben müssen, damit er das Spiel vorläufig mitspielen konnte. Weder Verstand noch Gefühl des Magiers waren ausgelöscht worden, und das war ein Teil dessen, was Bink wissen mußte. »Recht und Unrecht finden sich weder in Dingen noch in der Geschichte, und sie lassen sich auch nicht in menschliche oder dämonische Begriffe fassen. Es sind lediglich Standpunkte. Die Frage lautet vielmehr, ob man dem Dämon gestatten soll, seinen Weg auf seine Weise zu gehen.«

»Aber genau das tut er doch bereits!« wandte Bink ein. »Wenn ich ihn nicht befreie, dann entspricht das doch auch seinen Spielregeln. Ich bin doch zu nichts verpflichtet!«

»Die Ehre des Dämons zwingt ihn, eine Beschränkung hinzunehmen, die kein Mensch dulden würde«, meinte Humfrey. »Es ist nicht verwunderlich, daß dein eigenes Ehrgefühl, an diesem vollkommenen Maßstab gemessen, minderwertiger ist.«

Bink hatte das Gefühl, als habe ihn ein Waldvernichtungszauber mit einem Schlag getroffen. Der Magier war wirklich ein vernichtender Nahkampfgegner, selbst bei einer Sache, die er ablehnte! Nur daß dies vielleicht die wirkliche Meinung des Magiers sein konnte, die die Koralle ihn gezwungenermaßen vertreten ließ. »Meine Ehre gebietet es mir, mich an den Kodex meiner Art zu halten, so unvollkommen er auch sein mag.«

Humfrey spreizte schulterzuckend die Hände. »Dagegen kann ich nicht argumentieren. Der einzige wirkliche Kampf zwischen Gut und Böse findet im Innern deines Ichs statt – wer immer du auch sein magst. Wenn du ein Mensch bist, mußt du auch als Mensch handeln.«

»Ja«, sagte Bink. »Und mein Kodex verlangt –« Er hielt verwirrt und entsetzt inne. »… er verlangt, daß ich keine lebende, fühlende Kreatur durch meine Untätigkeit leiden lassen darf. Es spielt gar keine Rolle, ob der Dämon mich an meiner Stelle auch befreien würde oder nicht. Ich bin jedenfalls kein Dämon und werde auch nicht wie einer

handeln. Wichtig ist vielmehr, daß ein Mensch es nicht zulassen darf, daß ein Unrecht, das ihm bewußt wurde, fortgesetzt wird. Nicht, wenn er etwas ändern kann.«

»Aber Bink!« rief Juwel, die plötzlich nach Myrrhe duftete. »Tu’s nicht!«

Er blickte sie erneut an. Sie war so hübsch, selbst in ihrer Furcht, und doch so fehlbar! Chamäleon hätte seine Entscheidung unterstützt, nicht etwa weil sie ihm hätte gefallen wollen, sondern weil sie ein Mensch war, der, wie er auch, daran glaubte, daß man das Richtige tun mußte. Doch obwohl Juwel, wie alle Nymphen, keinerlei überwältigendes Gefühl sozialer Verpflichtung kannte, war sie innerhalb ihrer eigenen Grenzen ein gutes Wesen. »Ich liebe dich, Juwel. Ich weiß zwar, daß das nur einer von den Versuchen der Koralle ist, mich von meinem Vorhaben abzuhalten, aber … na ja, wenn ich den Liebestrank nicht eingenommen hätte und nicht bereits verheiratet wäre, wäre es mir auch so sehr leichtgefallen, mich in dich zu verlieben. Wahrscheinlich wird es dich nicht sonderlich trösten, wenn ich dir sage, daß ich auch das Leben meiner Frau und meines ungeborenen Kindes und meiner Eltern und aller, die ich liebe, aufs Spiel setze. Aber ich muß tun, was ich tun muß.«

»Du Narr!« rief Grundy. »Wenn ich wirklich wäre, würde ich die Nymphe packen und diesen Dämonen zur Hölle fahren lassen. X(A/N)th wird es dir nicht lohnen.«

»Das weiß ich«, sagte Bink. »Niemand wird mir dafür danken.«

Dann drehte er sich zu dem riesigen Dämonengesicht um. »Ich befreie dich, Xanth«, sagte er.