9

Strudelungeheuer

 

Als der Morgen dämmerte, traten sie, jeder mit einem Stück Umkehrzauberholz in der Hand, aus dem Gebiet des Wahnsinns heraus. Ihre Reise war beschwerlich gewesen. Zwischendurch hatten sie immer wieder Crombie sein Holz abgenommen, um sich von ihm den nächstgelegenen sicheren Weg zeigen zu lassen. Dann hatten sie ihm das Holz zurückgegeben, damit er bis zur nächsten Ortung alle Gefahren richtig wahrnehmen konnte.

Als sie herauskamen, entdeckten sie ein einigermaßen sicheres Nest in einem Storchenbeinbaum, legten ihre Holzstücke im Kreis um seinen Stamm, damit jede sich nahende feindliche Magie umgekehrt wurde, und kletterten empor. Es war zwar kein perfekter Schutz, aber sie waren so müde, daß sie damit vorliebnehmen mußten. Einige Stunden später erwachte Bink, streckte sich und kletterte hinunter. Der Zentaur hing mit herabbaumelnden Hufen auf einem Ast. Offenbar hatte er bei ihrer Kletterpartie in der Nacht zuvor etwas durchaus Unmagisches dazugelernt. Der Magier lag zusammengerollt in einem großen Nest, das er aus einer Flasche hervorgezaubert hatte. Crombie war, ganz der gute Soldat, bereits auf und erkundete gemeinsam mit dem Golem die Gegend.

»Eins möchte ich gern wissen …« fing Bink an, als er an einer Scheibe Rosinenbrot kaute, das Crombie von einem Brotfruchtbaum gepflückt hatte. Es war etwas überreif, aber ansonsten ausgezeichnet.

Crombie krächzte. »… wer den Umkehrzauberbaum getötet hat«, beendete Grundy seinen Satz.

»Du übersetzt ja wieder!«

»Im Augenblick berühre ich ja auch kein Holz.« Der Golem zappelte unruhig.

»Aber ich glaube, daß ich nicht mehr so wirklich bin wie letzte Nacht, während des Wahnsinns.«

»Trotzdem, etwas Gefühl muß übriggeblieben sein«, sagte Bink. »So ist das manchmal, kurz vorm Ziel. Zwei Schritte vorwärts, einen zurück – aber man darf nie aufgeben.«

Grundy wirkte plötzlich lebhafter. »Vielleicht hast du damit gar nicht Unrecht, Matschhirn!«

»Woher wußtest du, was ich fragen wollte? Wegen des Baums –«

»Du stellst doch dauernd Fragen, Bink«, sagte der Golem. »Deshalb haben wir festgestellt, wo der Gegenstand deiner nächsten Frage zu finden ist. Er deckte sich mit dem Baumstumpf. Wir haben also nachgeforscht. Es war eine Herausforderung.«

Das war aber eine faszinierende Anwendungsmöglichkeit von Crombies Talent! Die Antworten auf zukünftige Fragen zu orten! Die Magie war doch nie frei von Überraschungen.

»Nur wirkliche Wesen mögen Herausforderungen«, meinte Bink.

»Wahrscheinlich. Es macht irgendwie Spaß, diese Herausforderung, wirklich zu werden. Jetzt, wo ich weiß, daß es vielleicht möglich ist. Trotzdem habe ich immer noch diesen Lumpenkörper, das wird keine Sorge der Welt ändern. Der Unterschied ist, daß ich jetzt Angst vor dem Tod habe, der früher oder später kommen wird.« Er machte eine wegwerfende Geste. »Jedenfalls ist der Baum von einem Fluch aus dieser Richtung dort getroffen worden.«

Bink blickte in die angezeigte Richtung. »Ich sehe nur einen Teich.« Dann, erschrocken: »Hat der Oger nicht etwas über – ?«

»Ungeheuer in einem Teich, die mit einem Fluch den ganzen Wald vernichtet haben«, sagte Grundy. »Wir haben es überprüft. Es ist derselbe Teich.«

Humfrey kletterte vom Baum herab. »Ich werde wohl besser etwas von diesem Holz abfüllen, wenn meine Magie das irgendwie schafft«, sagte er. »Man weiß ja nie, wann man es mal wieder gebrauchen kann.«

»Vielleicht verhängen Sie ja einen Zauber, der es von Ihrer Flasche fortwirbelt«, schlug Chester vom Baum herab vor. Nach einigen heiklen Manövern, die sein prächtiges Hinterteil mehrmals in Gefahr brachten, war auch er dann endlich unten angelangt. Zentauren gehörten wirklich nicht auf Bäume!

Der Magier stellte seine Flasche auf und legte das Holz daneben. Dann murmelte er eine Beschwörungsformel. Ein Blitz, eine Rauchwolke – dann wurde die Luft wieder klar.

Dort stand die verkorkte Flasche. Daneben lag das Holz. Der Gute Magier war verschwunden.

»Wo ist er hin?« fragte Bink.

Crombie wirbelte umher und zeigte mit seinem Flügel direkt auf die Flasche.

»O nein!« schrie Bink entsetzt. »Sein Zauber ist also umgekehrt worden! Jetzt ist er es, der in die Flasche gebannt wurde.« Er rannte zu der Flasche und riß den Korken heraus. Der entweichende Rauch verdichtete sich schließlich wieder zu dem Guten Magier. Ein Spiegelei lag auf seinem Kopf. »Ich hatte ganz vergessen, daß ich in dieser Flasche ja das Frühstück aufbewahre«, sagte er verlegen.

Grundy konnte seine neugewonnenen Gefühle nicht länger unterdrücken. Er brach in Gelächter aus, stürzte zu Boden und rollte prustend umher. »So was hab’ ich noch nicht gesehen«, keuchte er und bekam einen weiteren Lachanfall. »Ein belegter Gnom!«

»Sinn für Humor gehört auch zum Wirklichsein«, sagte Chester ernst.

»Ja, ja«, meinte Humfrey etwas kurzangebunden. »Gut, daß kein Feind die Flasche in die Hände bekommen hat. Wer sie besitzt, beherrscht den Inhalt.«

Der Magier versuchte es mehrmals wieder, bis er endlich wußte, wie er es bewerkstelligen mußte, um das Holz in die Flasche zu befördern. Bink hoffte nur, daß es die Sache auch wert war. Wenigstens wußte er jetzt, woher der Gute Magier seine gewaltige Sammlung hatte: Er füllte einfach alles in Flaschen, was ihm als nützlich erschien.

Da entdeckte Bink wieder einen Erdhaufen. »He, Magier!« rief er. »Es wird Zeit, diese Dinge zu untersuchen. Was erzeugt diese Erdhaufen? Gibt es die in ganz Xanth oder immer nur dort, wo wir uns aufhalten?«

Humfrey trat zu ihm, um den Erdhaufen zu mustern. »Hm, das muß ich wohl tatsächlich untersuchen«, meinte er säuerlich. »Auf der Sireneninsel war auch einer und in unserem Knochenlager ebenfalls.« Er holte seinen magischen Spiegel hervor. »Was ist das für ein Ding?« bellte er ihn an.

Der Spiegel bewölkte sich nachdenklich und zeigte schließlich das Bild eines wurmähnlichen Wesens.

»Das ist ja ein Zappler!« rief Bink entsetzt. »Sind die Zappler etwa wieder da?«

»Das ist kein Zappler«, widersprach ihm Chester. »Schau dir doch nur mal die Größe an. Das Ding ist doch zehnmal zu groß.« Worauf im Spiegel ein Meßstab erschien, der ihnen zeigte, daß das Wesen zehnmal größer war als ein Zappler. »Kennst du dich denn nicht mehr in der Artenbestimmung aus? Das ist ein Grabbler.«

»Ein Grabbler?« fragte Bink. Er mochte nicht zugeben, daß er noch nie von dieser Tierart gehört hatte. »Mir erscheint er wie ein überdimensionaler Zappler.«

»Es sind Verwandte«, erklärte Chester. »Die Grabbler sind größer, langsamer und treten nicht in Schwärmen auf. Es sind Einzelgänger, die sich unter der Erde bewegen. Sie sind harmlos.«

»Aber die Erdhaufen …«

»Ich hatte es vergessen«, sagte Chester. »Ich hätte sie schon vorher an ihrer Form erkennen müssen. Sie werfen beim Tunnelgraben die Erde hinter sich auf, und wo sie an die Oberfläche kommen, entsteht ein Haufen. Je weiter sie graben, desto mehr verstopfen sie dann den hinter sich liegenden Tunnel, so daß nichts übrig bleibt als ein schlichter

Erdhaufen.«

»Aber was machen sie denn?«

»Sie bewegen sich durch den Boden und werfen Erdhaufen

auf, sonst nichts.«

»Aber warum verfolgen sie mich? Ich habe doch nichts mit Grabblern zu schaffen.«

»Das könnte Zufall sein«, meinte Humfrey. Er befragte den Spiegel: »Ist es Zufall?«

Der Spiegel zeigte sein unglückliches Säuglingsgesicht.

»Dann hat irgend jemand oder irgend etwas die Grabbler also darauf angesetzt, uns auszuspionieren«, sagte Humfrey, und der Spiegel lächelte.

»Die Frage ist: Wer?«

Der Spiegel verdunkelte sich. »Die Quelle der Magie etwa?« wollte Humfrey wissen. Doch der Spiegel stritt das ab. »Binks Feind also?« Wieder lächelte der Säugling.

»Doch wohl nicht derselbe wie die Ungeheuer im Teich?« fragte Bink.

Der Säugling lächelte.

»Heißt das, daß es tatsächlich derselbe ist?«

»Verwirr den Spiegel nicht mit deiner Unlogik!« fuhr der

Magier ihn an.

»Er hat bestätigt, daß es nicht derselbe ist!«

»Äh, klar«, sagte Bink. »Aber wenn uns unser Weg an den Ungeheuern vorbeiführt, dann stehen wir vor einem Problem. Wenn der Feind uns die ganze Zeit ausspioniert und uns Hindernisse in den Weg legt, dann wird er auch nicht zögern, die Ungeheuer zu etwas Bösem anzustacheln.«

»Ich glaube, da hast du recht«, sagte Humfrey. »Wahrscheinlich ist es an der Zeit, daß ich wieder etwas von meiner Magie opfere.«

»Nur keine Umstände!« meinte Chester ironisch.

»Halt’s Maul, Pferdehintern!« fauchte Humfrey. »Ich will mal sehen. Müssen wir an den Seeungeheuern vorbei, wenn wir unser Ziel erreichen wollen?«

Der Spiegel lächelte.

»Und die Ungeheuer besitzen eine Fluchmagie, die ganze Wälder auslöschen kann?«

Der Spiegel stimmte zu.

»Wie kommen wir da am besten ohne Schwierigkeiten vorbei?«

Der Spiegel zeigte Bink, wie er einem Theaterspiel zusah.

Humfrey hob den Blick. »Versteht das einer von euch?«

Crombie krächzte. »Wo bin ich?« übersetzte Grundy.

»Die Frage will ich mal eben umformulieren«, sagte Humfrey hastig. »Wo ist Crombie, während Bink das Spiel beobachtet?«

Der Spiegel zeigte eine der Flaschen des Magiers.

Der Greif stieß ein Potpourri wütender Krächzer aus. »Nun hör schon auf, Vogelhirn!« sagte Golem. »Du weißt doch ganz genau, daß ich so was nicht in aller Öffentlichkeit übersetzen kann. Nicht, wenn ich jemals wirklich werden will.«

»Schnabelhirns Sorgen sind ganz verständlich«, meinte Chester. »Warum sollte er ins Innere einer Flasche verbannt werden? Vielleicht kommt er ja nie wieder heraus!«

»Ich mache hier die Übersetzungen«, maulte Grundy und vergaß seine Zurückhaltung.

Humfrey steckte den Spiegel fort. »Wenn du meinen Rat nicht befolgen willst«, sagte er zu Crombie, »dann versuch’s doch auf eigene Faust.«

»Ihr wirklichen Leute laßt euch mal wieder von eurem Temperament leiten!« brummte Grundy. »Vernünftig wäre es, sich die Ratschläge anzuhören, die Alternativen zu untersuchen, darüber zu diskutieren und dann zu einer Einigung zu kommen.«

»Der kleine Wicht besitzt wirklich ungesund viel Menschenverstand«, sagte Chester.

»Welcher kleine Wicht?« wollte Grundy wissen.

»Ich glaube«, sagte der Magier grimmig, »daß dieser unerträgliche Golem in einer Flasche am besten aufgehoben wäre.«

»Jetzt zanken wir uns schon wieder«, sagte Bink. »Wenn der Spiegel meint, daß wir die Geister am besten umgehen, indem wir in Flaschen reisen, dann würde ich das lieber riskieren als den Mist, den wir gerade erst durchgemacht haben.«

»Du brauchst ja auch nichts zu riskieren«, meinte Grundy. »Du mußt dir doch bloß so’n blödes Stück angucken.«

»Ich glaube an meinen Spiegel«, sagte Humfrey, und der Spiegel errötete so stark, daß er leicht durch seine Jacke hindurchschimmerte. »Um es zu beweisen, werde ich mich selbst in eine Flasche einsperren lassen. Ich glaube, Beauregards Flasche ist recht bequem gepolstert und groß genug für zwei. Wie wär’s, wenn Crombie, Grundy und ich in die Flasche steigen und Bink sie trägt? Dann kann er auf Chester zu der Vorführung reiten.«

»Ich bin einverstanden«, sagte Bink. Er überlegte, ob der Gute Magier wohl alle anderen Flaschen mit in seine Flasche nehmen würde. Das schien zwar ein bißchen paradox, war aber zweifellos möglich. »Aber ich weiß nicht genau, wo diese Geister sind, und ich möchte ihnen lieber nicht unvorbereitet begegnen. Wenn wir uns ihnen ein bißchen vorsichtiger nähern und nicht so direkt bei ihnen hereinplatzen, sind diese

Ungeheuer vielleicht nicht ganz so ungeheuerlich.«

Crombie zeigte zum See.

»Ja, ich weiß. Aber wo genau am See? Am Ufer? Auf einer Insel? Ich meine, bevor ich nichtsahnend in einen Zauber hineinrenne, der ganze Wälder vernichtet –«

Crombie krächzte und spreizte die Flügel. Seine stolzen Farben blitzten, als er sich emporschwang und auf den See zuflog.

»He, warte doch, Federhirn!« rief Chester. »Die sehen dich doch in der Luft! Damit verrätst du uns doch alle!«

Doch der Greif ignorierte ihn. Sie sahen zu, wie er mit stolzen Schwüngen über das Wasser schwebte und sein Gefieder rot, blau und weiß aufleuchtete. »Ich muß zugeben, daß dieser sture Schrat wirklich ein ganz hübsches Tier abgibt«, brummte Chester.

Da legte der Greif die Schwingen an den Körper und jagte kopfüber auf die Wasseroberfläche zu, wobei er sich um seine eigene Längsachse drehte. »Ein Fluch!« rief Bink. »Sie haben ihn mit einem Fluch abgeschossen!«

Doch da breitete der Greif auch schon wieder seine Schwingen aus, gewann an Höhe und kam zurückgeflogen. Crombie wirkte völlig unversehrt.

»Was ist passiert?« fragte Bink, als der Greif aufsetzte. »War das ein Fluch?«

»Skwaak!« entgegnete Crombie. Grundy übersetzte: »Was für ein Fluch? Ich bin lediglich eine Wende geflogen, um mir die Jungs mal näher anzuschauen. Sie leben unter der Wasseroberfläche.«

»Unter Wasser?« rief Bink. »Wie kommen wir denn dort hin?«

Humfrey holte eine Flasche hervor und reichte sie Bink. »Mit diesen Pillen. Unter Wasser alle zwei Stunden eine. Das wird – «

»He, da wird gerade ein Erdhaufen aufgeworfen!« rief Chester. »Ein Spion!«

Humfrey hatte schon eine weitere Flasche aus seiner Jacke gerissen und entkorkt. Er richtete sie auf das sich aufhäufende Erdreich. Ein Rauchstrahl fuhr in den Haufen, und Eiskristalle bildeten sich, bis der Auswurf eingefroren war.

»Feuerlöscher«, erklärte der Magier. »Sehr kalt. Dieser Grabbler hockt jetzt steifgefroren in seinem Tunnel.«

»Ich will ihn töten, solange ich ihn noch erwischen kann!« sagte Chester eifrig.

»Einen Augenblick!« warf Bink ein. »Wie lange wird er gefroren bleiben?«

»Nur ein paar Minuten«, erwiderte Humfrey. »Dann wird der Grabbler weitermachen, als sei nichts geschehen.«

»Und er wird sich nicht an die fehlenden Minuten erinnern?«

»Die Lücke sollte ihm eigentlich nicht bewußt sein. Grabbler sind nicht besonders schlau.«

»Dann bring ihn nicht um! Geht aus seinem Beobachtungsradius raus. Dann wird er davon überzeugt sein, daß alles nur ein falscher Alarm war und daß wir nie hier gewesen sind. Das wird er seinem Herrn melden, und schon ist der Feind getäuscht.«

Der Magier hob eine Augenbraue. »Recht intelligent, Bink. Jetzt denkst du schon eher wie ein Anführer. Wir werden uns in der Flasche verstecken, und du und Chester könnt sie mit euch tragen. Schnell, bevor er wieder auftaut.«

Der Greif war zwar nicht überzeugt, willigte aber dennoch ein. Der Magier stellte die Flasche auf, murmelte seine Formeln – und schon waren Magier, Greif und Golem verschwunden.

»Schnapp dir die Flasche und spring auf!« rief Chester. »Die Zeit ist fast um! Halt dich fest!«

Bink gehorchte, und der Zentaur galoppierte davon. Einen Augenblick später planschten seine Hufe auch schon durch das seichte Wasser, »’ne Pille her!« rief Chester.

Bink fummelte eine Pille aus der Flasche und betete darum, daß er beim Reiten nicht alle auf einmal verschüttete. Er nahm selbst eine und legte Chester eine in die ausgestreckte Hand. »Hoffentlich funktionieren die auch!« rief er.

»Das hätte uns gerade noch gefehlt!« rief Chester. »Eine Isolierschaumpille zu nuckeln …«

Bink wünschte, der Zentaur hätte nicht daran gedacht. Isolierung oder Eislöcher – o weh!

Er blickte zurück. Lag es an seiner Einbildung, oder war der Erdhaufen tatsächlich wieder größer geworden? Waren sie noch rechtzeitig entkommen? Was, wenn der Grabbler ihre Fußstapfen gesehen hatte?

Da gelangte Chester an eine Senke, und sie verschwanden im Wasser. Bink würgte instinktiv, als das Wasser in seinen Mund eindrang – aber das Wasser erwies sich als eine Art Atemluft. Sie konnten tatsächlich unter Wasser atmen!

Chester bahnte sich vorsichtig seinen Weg durch das unvertraute Unterwasserterrain. Mit seinen Beinen wirbelte er dunkle Schlammwolken auf. Neugierige Fische musterten die beiden von Kopf bis Fuß. Chester hatte den Bogen gezückt für den Fall, daß sie auf ein Seeungeheuer treffen sollten. Doch von dieser Furcht abgesehen, erwies sich die Strecke als recht langweilig.

Bink zog die Flasche mit dem Magier hervor und spähte hinein. Undeutlich waren ein winziger Greif und ein noch winzigerer Mann zu erkennen. Sie befanden sich in einem mit Teppichen ausgelegten Raum wie in einem Palast und betrachteten bewegliche Bilder im magischen Spiegel. Es sah

alles recht gemütlich aus. Viel gemütlicher, als sich einen Weg durch den Schlamm in Richtung Ungeheuer zu bahnen …

Bink steckte die Flasche zurück. Seinen Freunden schien es gut zu gehen. Er fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er die Flasche heftig schüttelte, aber er widerstand der Versuchung, es auszuprobieren. »Dann wollen wir mal die Ungeheuer besuchen gehen«, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit.

Kurz daraud näherten sie sich einem prächtigen Meeresschloß. Es war aus Muscheln gebaut worden – was wiederum hieß, daß es vermutlich magisch war, da sich Muscheln in Seen nur selten ohne magische Hilfe bildeten. Von seinen Türmen stiegen kleine Strudel empor, die offenbar die Bewohner mit Luft versorgten. Anstelle eines Wassergrabens besaß das Schloß einen dicken Schutzwall aus Seetang, der von einem scharfäugigen Schwertfisch bewacht wurde.

»Na ja, hoffen wir, daß die Ungeheuer wenigstens nett zu Reisenden sind«, sagte Bink. Er sprach ohne jede Blasenbildung. Durch die Pille hatte er sich voll und ganz seiner Umgebung angepaßt.

»Hoffen wir, daß der magische Spiegel auch wußte, was er tat«, meinte der Zentaur grimmig. »Und daß die Ungeheuer diesen blöden Greif nicht mit uns in Verbindung bringen, wenn sie ihn gesehen haben sollten.«

Sie schritten auf das Haupttor zu. Ein Behemoth erhob sich aus dem Schlamm. Er bestand fast nur aus Maul.

»Haaaaaalt!« brüllte der Behemoth. »Wer daaaaaaa?« Langgezogene A’s beherrschte er wirklich gut. Der Klang erfüllte das höhlenartige Maul.

»Chester und Bink, Reisende«, sagte Bink, nicht ohne zu beben. »Wir suchen Unterkunft für die Nacht.«

»Ach jaaaaaaa?« fragte das Ungeheuer. »Dann kommt reeeiiin!«

Es sperrte das Maul noch entsetzlicher auf.

»Das ist wohl wie bei dem Wasserspeier«, sagte Bink. »Ich glaube, wir müssen durchs Maul.«

Der Zentaur spähte mißtrauisch in den tunnelähnlichen Rachen hinein. »Ich will verdammt sein, wenn ich auch noch bei meiner eigenen Vertilgung mithelfe!«

»Aber das ist der Eingang zum Schloß!« rief Bink. »Der Behemoth selbst.«

Chester starrte ihn an. »Lieber laß ich mich kastrieren!« Dann galoppierte er ohne weiteres Zaudern in die Öffnung.

Tatsächlich führte der Schlund ins Innere des Schlosses. Am Ende des Tunnels erblickten sie Licht und traten kurz darauf in eine prunkvolle Empfangshalle. Raffiniert gewobene Wandteppiche bedeckten die Wände, und der Boden bestand aus verzierten Holzplatten.

Ein gut aussehender, beinahe schon schöner junger Mann kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Sein Haupthaar war an den Ohren gelockt, und er besaß einen säuberlich gestutzten Schnurrbart. Er war in eine fürstliche Robe gehüllt, die mit bunten Fäden durchwirkt war, und trug weiche Pantoffeln mit spitzen Enden. »Willkommen im Torschloß«, sagte er. »Darf ich fragen, wer Sie sind und zu welchem Behuf Sie gekommen sind?«

»Sie dürfen«, erwiderte Chester.

Eine Pause. »Nun?« fragte der Mann schließlich, etwas pikiert.

»Na ja, warum fragen Sie denn nicht?« meinte Chester. »Wir haben es Ihnen doch gestattet.«

Um die Mundwinkel des Mannes zuckten kleine Muskeln, was ihn weniger schön aussehen ließ. »Das tue ich hiermit.«

»Ich bin Chester Zentaur, und das ist mein Gefährte Bink. Er ist ein Mensch.«

»Das ist mir auch aufgefallen. Und Ihr Anliegen?«

»Wir suchen die Quelle der Magie«, sagte Bink.

»Da haben Sie sich verirrt. Die Quelle der Magie befindet sich im Amazonendorf nördlich von hier. Allerdings ist der direkte Weg dorthin recht gefährlich.«

»Da sind wir schon gewesen«, sagte Bink. »Da ist nicht die letzte Urquelle, sondern lediglich ein Aufwurf magischen Staubes. Was wir suchen, liegt tiefer. Unseren Informationen zufolge gibt es einen bequemeren Weg, der durch dieses Schloß führt.«

Der Mann lächelte fast. »Oh, dieser Weg würde Ihnen wohl kaum zusagen.«

»Es käme auf den Versuch an.«

»Das übersteigt meine Kompetenz. Da müssen Sie mit dem Hausherrn sprechen.«

»Einverstanden«, erwiderte Bink. Er fragte sich, was dieser Hausherr wohl für ein Ungeheuer war, wenn er einen solch friedlichen menschlichen Diener hatte.

»Wenn Sie die Güte hätten, mir zu folgen.«

»Wir haben die Güte«, sagte Chester.

»Aber zuerst müssen wir etwas wegen Ihrer Hufe unternehmen. Der Boden besteht aus Teakholzparkett. Wir wünschen nicht, daß er zerkratzt oder beschädigt wird.«

»Warum legen Sie das Zeug denn dann auf den Boden?« wollte Chester wissen.

»In den Stallungen tun wir das auch nicht«, sagte der Mann. Er holte mehrere Scheiben aus einem pelzigen Material hervor. »Legen Sie die an die Hufe. Sie werden selbsttätig daran haften und den Aufschlag dämpfen.«

»Wie wär’s denn, wenn Sie sich die Dinger vor den Mund binden?« fragte Chester.

»Kommen wir ihm doch ein bißchen entgegen«, murmelte Bink. »Mach dem armen Mann doch eine kleine Freude. Wahrscheinlich sind die Ungeheuer sehr strikt bei solchen Sachen und bestrafen ihre Dienstboten sonst sehr hart.«

Chester drückte unelegant einen Huf nach dem anderen auf die Pelzscheiben, die haften blieben und seine Tritte dämpften.

Sie schritten durch eine elegante Halle, stiegen eine mit Teppichen belegte Treppe hinab und kamen in eine kleine Kammer. Chester hatte kaum genug Platz zum Stehen. »Wenn das Ihr Hauptsaal sein sollte –« fing er an.

Der Mann drückte auf einen Knopf. Die Tür schloß sich gleitend, und plötzlich setzte sich der Raum in Bewegung.

Bink streckte entsetzt die Hände vor, und Chester trat ein Loch in die Hinterwand.

»Immer mit der Ruhe, werte Gäste«, sagte der Mann mit leicht gefurchter Stirn. »Sind Sie noch nie in einem Aufzug gefahren? Es ist eine unbelebte Magie: eine Kammer, die sich senkt oder hebt, wenn man sie betritt. Das nützt die Treppen nicht so ab.«

»Ach so«, sagte Bink verlegen. Er zog konventionellere Magie vor.

Der magische Aufzug kam zum Halten, und die Tür glitt auf. Sie traten in eine weitere Halle hinaus und gelangten schließlich zu den Gemächern des Hausherrn.

Zu Binks Überraschung stellte er sich als ein prunkvoll in silberne, mit Diamanten besetzte Stoffe gekleideter Mann heraus, der allerdings die gleichen närrischen Pantoffeln trug wie sein Diener. »Sie bieten uns also Ihre Dienste im Gegenzug für Unterkunft an«, sagte er knapp.

»So will es unsere Sitte«, sagte Bink.

»Unsere auch!« stimmte der Hausherr herzlich zu. »Haben Sie irgendwelche besonderen Talente aufzuweisen?«

Sein eigenes durfte Bink nicht verraten, und Chesters kannteer nicht. »Äh, nicht direkt. Aber wir sind kräftig und können arbeiten.«

»Arbeiten? Um Himmels willen, nein!« rief der Hausherr.

»Hier arbeitet niemand.«

»Oh! Wovon leben Sie denn dann?« fragte Bink.

»Wir organisieren, wir leiten – und wir unterhalten«, sagte der Hausherr. »Haben Sie irgendwelche unterhaltenden Fähigkeiten?«

Bink spreizte die Hände.

»Ich fürchte, nein.«

»Ausgezeichnet! Dann sind Sie ein ideales Publikum.«

»Publikum?« Bink wußte, daß Chester genauso verblüfft war wie er. Der Spiegel hatte ihn dabei gezeigt, wie er einem Schauspiel zusah – aber das konnte man doch wohl kaum einen Gegendienst nennen!

»Wir schicken unsere Truppen aus, um die Massen zu unterhalten, gegen Dienstleistungen und materielle Dinge. Es ist ein dankbarer Beruf, sowohl was das Ästhetische als auch was das Materielle angeht. Aber dafür ist es erforderlich, daß wir bereits vorher Publikumsurteile einholen, damit wir im voraus wissen, mit welchem Empfang und welcher Resonanz wir rechnen dürfen.«

Diese harmlose Beschäftigung deckte sich kaum mit dem Ruf dieser Gegend! »Dann wollen Sie nur, daß wir ein Publikum abgeben und ihren Vorführungen zusehen? Das erscheint mir kaum als angemessene Gegenleistung. Ich fürchte, daß wir Ihnen keinen qualifizierten kritischen Bericht abliefern –«

»Ist gar nicht nötig! Unsere magischen Überwacher werden Ihre Reaktionen messen und uns unsere Schwächen aufzeigen. Ganz ehrlich, Sie brauchen nichts zu tun, als zu reagieren.«

»Na ja, das ginge wohl«, meinte Bink zweifelnd. »Wenn Ihnen das wirklich genügt …«

»Irgend etwas erscheint mir komisch«, sagte Chester. »Wieso haben Sie denn einen solch schlimmen Ruf als Ungeheuer?«

»Äh, das war aber nicht sehr diplomatisch«, murmelte Bink peinlich berührt.

»Ungeheuer? Wer nennt uns Ungeheuer?« fragte der Hausherr.

»Der Oger«, antwortete Chester. »Er hat gesagt, daß Sie einen ganzen Wald mit einem Fluch vernichtet haben.«

Der Hausherr strich sich durch seinen Ziegenbart. »Der Oger lebt noch?«

»Chester, halt’s Maul!« zischte Bink.

Doch der Zentaur war wieder zum Opfer seiner störrischen Natur geworden. »Er hat bloß seine Ogerdame retten wollen, und Sie konnten es nicht mitansehen, daß er glücklich war, deshalb –«

»Ach ja, der Oger! Ich kann mir schon vorstellen, daß wir einem Oger als Ungeheuer erscheinen würden. Für uns ist es dagegen ungeheuerlich, wenn man Menschenknochen kaut. Es ist alles eine Frage der Perspektive.«

Offenbar hatte der Zentaur den Hausherrn doch nicht verärgert, obwohl das nach Binks Meinung pures Glück war. Es sei denn, der Hausherr war, wie seine Truppe, ein Schauspieler. In diesem Fall blühte ihnen eventuell nocherheblicher und sehr viel subtilerer Ärger … »Dieser Oger ist inzwischen Vegetarier geworden«, sagte Bink. »Aber ich bin trotzdem neugierig. Verfügen Sie tatsächlich über derart vernichtende Flüche? Und warum sollte es Sie interessieren, was ein Oger tut? Hier unten im See brauchen Sie sich wegen Ogern doch keine Sorgen zu machen, denn die können nicht schwimmen.«

»Solche Flüche besitzen wir tatsächlich«, erwiderte der Hausherr. »Sie bestehen aus einer Gruppenanstrengung, aus einem Zusammenlegen all unserer Magie. Wir besitzen keine individuellen Talente, sondern nur die Möglichkeit, einzeln zu einem Ganzen beizutragen.«

Bink war erstaunt. Das war ja eine ganze Gesellschaft einander vergleichbarer Talente! Dann konnte sich die Magie also doch wiederholen!

»Aber wir wenden unsere Flüche nicht ohne guten Grund an. Wir haben den Oger aus beruflichen Gründen verfolgt. Er hat sich in unser Monopol eingemischt.«

»In Ihr was?« fragten Bink und Chester verständnislos.

»Wir sind für alle regulären Unterhaltungsvorführungen im südlichen Xanth zuständig. Dieser miserable Schauspieler ist in eine unserer Aufführungen geplatzt und hat unsere Hauptdarstellerin geraubt. Eine solche Einmischung der

Konkurrenz dulden wir nicht.«

»Sie hatten eine Ogerin als Hauptdarstellerin?« fragte Bink.

»Wir haben eine verwandelte Nymphe eingesetzt – eine vollendete Schauspielerin! Alle unsere Schauspieler sind vollendet, wie Sie selbst noch sehen werden. In dieser Rolle

spielte sie die ogerhafteste Ogerin, die man sich nur vorstellen kann. Absolut scheußlich!« Er machte eine Pause und dachte kurz nach. »Genaugenommen wurde sie mit ihrem künstlerischen Temperament im Alltag auch ziemlich ogerähnlich. Eine echte Primadonna …«

»Dann war der Irrtum des Ogers ja verständlich.«

»Vielleicht. Aber nicht verzeihlich. Er hatte bei dieser Aufführung nichts zu suchen. Wir mußten die ganze Produktion abblasen. Hat uns die ganze Saison ruiniert.«

»Und was war mit dem Umkehrzauberbaum?« fragte Chester.

»Die Leute haben seine Früchte gepflückt und sich mit dem Umkehreffekt vergnügt und unterhalten. Diese Konkurrenz haben wir gar nicht geschätzt, deshalb haben wir ihn ausgeschaltet.«

Chester funkelte Bink böse an, sagte jedoch nichts. Vielleicht waren diese Leute wirklich eine Art von Ungeheuern. Alle konkurrierenden Formen der Unterhaltung auszuschalten –

»Und wohin, sagten Sie, wollen Sie reisen?« fragte der Hausherr.

»Zur Quelle der Magie«, sagte Bink. »Wir vermuten, daß sie sich unter der Erde befindet und daß der beste Weg durch dieses Schloß führt.«

»Witze auf meine Kosten schätze ich gar nicht«, sagte der Hausherr mit gerunzelter Stirn. »Wenn Sie mir nicht sagen wollen, was Ihre Mission ist, so kann ich Ihnen das nicht verwehren, denn es ist Ihr gutes Recht. Aber Sie sollten mir keine offenkundigen Lügenmärchen erzählen.« Bink hatte den Eindruck, daß für diesen Menschen das Offenkundige ein schlimmeres Vergehen darstellte als das Lügenmärchen.

»Hör mal, Ungeheuer!« sagte Chester, der aus seiner Verärgerung keinen Hehl machte. »Zentauren lügen nicht!«

»Äh, laß mich mal!« warf Bink hastig ein. »Da muß wohl ein Mißverständnis vorliegen. Wir suchen tatsächlich die Quelle der Magie. Aber vielleicht hat man uns ja über den Zugangsweg falsch informiert.«

Der Hausherr war etwas besänftigt. »So muß es sein. Unter diesem Schloß liegt nämlich nur der Strudel. Nichts, was dort hineingeht, kehrt jemals wieder zurück. Wir sind das Tor, wir liegen über dem Strudel und bewahren unschuldige Geschöpfe davor, ahnungslos in ihr schreckliches Schicksal zu stürzen. Wer hat Ihnen gesagt, daß Ihr Ziel in dieser Richtung liegt?«

»Na ja, ein Magier –«

»Trauen Sie nie einem Magier! Die führen doch immer Ungutes im Schilde.«

»Hm, vielleicht«, sagte Bink nervös, und Chester nickte nachdenklich. »Aber er war sehr überzeugend.«

»Das sind Magier meistens«, sagte der Hausherr finster. Dann wechselte er plötzlich wieder das Thema. »Ich werde ihnen den Strudel zeigen. Hier entlang, wenn ich bitten darf.« Er führte sie an eine Holzverkleidung, die auf Berührung beiseiteglitt und eine Glaswand freilegte. Nein, die Wand war gar nicht aus Glas, sie bewegte sich, und es waren waagrecht vorbeitreibende Schemen zu erkennen. Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, erkannte Bink eine Säule von etwa zwei Armlängen Durchmesser mit einem hohlen Innenraum. Tatsächlich war es eine Wassersäule, die mit großer Geschwindigkeit herumwirbelte –

»Ein Strudel!« rief Chester. »Wir sehen den unteren Teil eines Strudels.«

»Ganz genau«, erwiderte der Hausherr stolz. »Wir haben unser Schloß drumherum gebaut und ihn mit Magie eingefaßt.

Man kann hineingelangen, aber nicht wieder heraus. Verbrecher und andere unangenehme Personen werden in seinen Schlund geworfen, um auf immer zu verschwinden. Eine äußerst heilsame Abschreckung.«

Das war wahr! Die bewegten Wassermassen sahen derart schrecklich und doch auch faszinierend aus, daß Bink seinen Blick mit Gewalt davon abreißen mußte. »Aber wohin führt er?«

»Wer weiß das schon?« fragte der Hausherr mit eindrucksvoll erhobener Augenbraue. Er ließ die Schiebewand wieder an ihren Platz gleiten, und der Strudel war verschwunden.

»Genug davon«, entschied er. »Wir werden Sie angemessen bewirten, und dann werden Sie unserer Aufführung beiwohnen.«

Das Essen war ausgezeichnet und wurde von hübschen jungen Mädchen in spärlichen grünen Kostümen serviert, die sich um die Reisenden auf geradezu schmeichelhafte Weise kümmerten, besonders um Chester. Sie schienen sowohl seinen muskulösen menschlichen Oberkörper als auch seine Pferdepartie zu bewundern. Bink fragte sich mal wieder, was die Frauen nur an Pferden fanden. Die Sirene war auch so versessen darauf gewesen, auf Chester reiten zu dürfen.

Als sie sich sattgegessen hatten, wurden sie ins Theater geführt. Die Bühne war einige Male größer als der Zuschauerraum. Offenbar führten diese Leute lieber selbst etwas vor, als anderen zuzusehen.

Der Vorhang hob sich, und schon ging es los: eine buntkostümierte Angelegenheit mit tapferen Fechtern, üppigen Frauen und lustigen Narren. Die Bühnenduelle waren beeindruckend, aber Bink fragte sich, wie gut diese Männer wohl in einem echten Kampf abschneiden würden. Zwischen technischer Finesse und Kampfkraft war doch ein erheblicher Unterschied! Die Frauen waren zwar betörend verführerisch, aber wären sie das auch ohne ihre Spezialkostüme gewesen? Waren sie auch so geistreich, wenn sie nicht ihre auswendig gelernten Texte aufsagten?

»Ihnen sagt unsere Produktion nicht zu?« fragte der Hausherr.

»Ich ziehe das Leben vor«, erwiderte Bink.

Der Hausherr machte sich eine Notiz auf seinem Block: MEHR REALISMUS.

Dann kam eine Musikszene. Die Heldin sang ein wunderschönes Lied, das von Verlust und Sehnsucht handelte, und dachte laut über ihren treulosen Geliebten nach, so daß man sich nur schwer vorstellen konnte, wie ein Flegel – und mochte er noch so flegelhaft sein – einem solch begehrenswerten Geschöpf jemals untreu werden konnte. Bink mußte wieder an Chamäleon denken und sehnte sich nach ihr. Auch Chester stand wie betört neben ihm und dachte wahrscheinlich an Cherie Zentaur, die ja auch wirklich sehr attraktiv war.

Dann wurde der Effekt des Gesangs durch eine geradezu gespenstisch schöne Begleitung noch weiter erhöht. Eine Flöte erklang mit derart reinen Tönen, daß die Stimme der singenden Dame im Vergleich dazu beinahe armselig wirkte. Bink suchte den Ursprung des Klangs und entdeckte eine glitzernde Silberflöte, die neben der Heldin in der Luft schwebte und von allein spielte. Eine magische Flöte!

Überrascht hielt die Dame mit dem Gesang inne, doch die Flöte spielte immer weiter. Jetzt, da sie nicht von der weiblichen Stimme eingeengt wurde, konnte sie sich noch freier entfalten und trillerte eine Arie von phänomenaler Schönheit und Brillanz. Inzwischen lauschte die ganze Truppe der Flöte. Offenbar war den Schauspielern dieser Auftritt ebenso neu wie Bink.

Der Hausherr sprang auf. »Wer führt diese Magie da auf?« wollte er wissen.

Niemand antwortete. Alle waren sie wie gebannt von der Vorführung.

»Alles raus!« schrie der Hausherr mit rotem Kopf. »Raus! Raus!«

Langsam leerte sich die Bühne – doch die Flöte spielte unentwegt weiter, ein Potpourri verschiedenster Melodien, von denen eine schöner war als die andere.

Der Hausherr packte Binks Schulter. »Sind Sie das?« fragte er und sah aus, als würde er gleich ersticken.

Bink riß seinen Blick von der Flöte los. »Ich habe keine solche Magie!« sagte er.

Der Hausherr faßte Chesters muskulösen Arm. »He – dann müssen Sie das sein!«

Chester blickte ihn an. »Was?« fragte er, als würde er aus einem Traum erwachen. Sofort verschwand die Flöte, und die Musik brach ab.

»Chester!« rief Bink. »Dein Talent! All das Schöne in deinem Wesen! Unterdrückt, weil es mit deiner Magie zusammenhängt, und als Zentaur durftest du nie –«

»Mein Talent!« wiederholte Chester erstaunt. »Das muß ich gewesen sein, ja! Ich habe nie gewagt, daran … wer hätte gedacht –«

»Spiel noch einmal!« drängte ihn Bink. »Mach schöne Musik! Beweise, daß du Magie besitzt, genau wie dein heldenhafter Onkel Herman der Einsiedler!«

»Ja«, sagte Chester und konzentrierte sich. Die Flöte erschien aufs neue und begann zu spielen, erst zögernd, dann mit größerer Überzeugung und wunderschön. Und merkwürdigerweise schien sich etwas von dieser Schönheit plötzlich auch auf dem Gesicht des Zentauren widerzuspiegeln.

»Jetzt schuldest du dem Magier keinen Dienst mehr!« sagte Bink. »Du hast dein Talent selbst entdeckt.«

»Was für ein Gaunerstück!« schrie der Hausherr. »Sie haben unsere Gastfreundschaft unter der Bedingung angenommen, daß Sie uns als Publikum dienen würden. Sie sind kein Zuschauer, sondern ein Künstler. Sie haben unser Abkommen gebrochen!« Jetzt verschaffte sich wieder ein Teil von Chesters Arroganz Raum. Die Flöte gab einen schrillen Ton von sich. »Menschenfedern!« fauchte der Zentaur. »Ich habe Ihre Heldin nur beim Gesang begleitet. Lassen Sie Ihre Leute weitermachen. Ich werde zusehen und das Stück begleiten.«

»Wohl kaum«, sagte der Hausherr grimmig. »Wir dulden keine Aufführungen von Subjekten, die nicht in unserer Gilde organisiert sind. Wir haben schließlich ein Monopol.«

»Und was wollen Sie jetzt machen?« fragte Chester. »Wollen Sie einen Anfall kriegen? Beziehungsweise einen Fluch verhängen?«

»Äh, sollten wir nicht lieber –« mahnte Bink seinen Freund.

»Eine solche Arroganz lasse ich mir von einem bloßen Halbmenschen nicht gefallen!« sagte der Hausherr.

»Ach nein?« erwiderte der Zentaur. Mit einer mühelosen und äußerst beleidigenden Bewegung hatte er den Hausherrn am Hemd gepackt und hochgehoben.

»Chester, wir sind ihre Gäste!« protestierte Bink.

»Jetzt nicht mehr!« tobte der Hausherr. »Machen Sie, daß Sie aus dem Schloß kommen, bevor wir Sie wegen Ihrer Frechheit vernichten!«

»Wegen meiner Frechheit? Weil ich eine magische Flöte gespielt habe?« fragte Chester ungläubig. »Wie wär’s denn, wenn ich Ihnen die Flöte mal in den –«

»Chester!« rief Bink, obwohl er durchaus Verständnis für den Zentauren hatte. Er beschwor den einzigen Namen, der etwas Gewalt über Chesters Zorn besaß: »Cherie würde es gar nicht gefallen, wenn du –«

»Och, mit ihr würde ich das auch nicht machen!« sagte Chester. Dann dachte er kurz nach. »Jedenfalls nicht mit einer Flöte.«

Die ganze Zeit hatte der Zentaur den Hausherrn in der Luft hochgehalten. Plötzlich riß der Hemdstoff, und er stürzte ziemlich unwürdevoll zu Boden. Sogar äußerst unwürdevoll, nämlich in einen frisch aufgeworfenen Erdhaufen. Tatsächlich dämpfte das seinen Aufprall und bewahrte ihn vor ernsthaften Verletzungen, doch der Vorfall verdoppelte seine Wut. »Dreck!« schrie er. »Dieses Tier hat mich in den Dreck geworfen!«

»Na, da gehören Sie schließlich auch hin«, erwiderte Chester. »Ich wollte einfach nicht meine saubere Silberflöte an Ihnen schmutzig machen.« Er blickte Bink an. »Ich bin froh, daß sie aus Silber ist und nicht aus irgendeinem billigen Blech. Hat Qualität, diese Flöte.«

»Ja, ja«, stimmte Bink ihm hastig zu. »Ich glaube, wir sollten jetzt gehen –«

»Was hat ein Erdhaufen auf meinem Teakholzparkett zu suchen?« fragte der Hausherr. Inzwischen war er von einer Menge umringt: Schauspieler und Diener, die ihm auf die Beine halfen, ihn abbürsteten und um ihn herum katzbuckelten.

»Der Grabbler«, sagte Bink niedergeschlagen. »Er hat uns wieder aufgespürt.«

»Aha, das ist also ein Freund von Ihnen!« rief der Hausherr und stürzte sich theatralisch von einem Wutanfall in den nächsten. »Das hätte ich mir ja denken können! Er soll als erster verflucht werden!« Und er zeigte mit einem zitternden Finger auf den Erdhaufen. »Alle zusammen: Und-eins, undzwei, und-drei!«

Alle faßten sich bei den Händen und konzentrierten sich. Bei drei schoß der Fluch wie ein Blitzstrahl aus dem Zeigefinger des Hausherrn hervor, verdichtete sich zu einer faustgroßen Masse, jagte auf den Erdhaufen zu und implodierte. Einen Augenblick herrschte völlige Finsternis, und ein ätzender Geruch stieg empor. Dann war die Luft wieder frei: Es war nichts mehr zu sehen, weder ein Erdhaufen noch ein Grabbler oder ein Fußboden.

Der Hausherr blickte befriedigt auf das Loch. »Na, dieser Grabbler geht uns nicht wieder auf die Nerven«, sagte er. »Und nun zu Ihnen, Halbmensch.« Er hob seinen schrecklichen Finger, um ihn auf Chester zu richten. »Undeins, und-zwei …«

Bink sprang gegen seinen Arm. Der Fluch wurde abgelenkt und schoß in eine Säule. Wieder eine Implosion, da war ein Stück der Säule verschwunden.

»Jetzt sehen Sie sich bloß an, was Sie da angerichtet haben!« schrie der Hausherr, der offenbar immer noch wütender werden konnte.

»Raus hier!« rief Bink. »Nimm mich auf deinen Rücken, bis wir aus der Reichweite dieser verfluchten Flüche sind!«

Chester, der gerade sein Schwert zücken wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Stimmt, ich kann schon auf mich selbst aufpassen, aber du bist bloß ein Mensch. Komm!«

Bink kletterte auf den Rücken des Zentauren. Der Hausherr richtete gerade einen weiteren Fluch auf sie, als sie auch schon davonsprangen. Chester galoppierte die Halle entlang. Seine Hufe klangen durch die Schoner merkwürdig leise. Die Ungeheuer heulten auf und machten sich an die Verfolgung.

»Wo geht’s denn nach draußen?« rief Bink.

»Woher soll ich das wissen? Das ist Vogelschnabels Revier. Ich bin doch bloß ein ungebetener Gast der Strudelungeheuer.«

»Wir sind irgendwo im Obergeschoß«, sagte Bink. »Nur, daß es hier keine Treppen gibt. Wir könnten ein Fenster einschlagen und schwimmen –« Er griff in die Tasche und betastete die Flasche, in der sich Crombie, Grundy und der Magier befanden. Er nestelte in seiner Tasche, bis er die Flasche mit den Wasseratmungspillen gefunden hatte. Jetzt durften sie sich am allerwenigsten einen Fehler erlauben! »Es ist besser, wenn wir frische Pillen nehmen. Die zwei Stunden sind schon längst vorbei.«

Im Laufen schluckten sie ihre Pillen. Jetzt waren sie aufs Wasser vorbereitet – sofern sie es auch fanden. Für einen Augenblick hatten sie ihre Verfolger abgehängt. Mit einem Zentauren konnte es kein Mensch zu Fuß aufnehmen.

Da hatte Bink einen neuen Einfall. »Wir sollten nicht nach draußen fliehen, sondern nach unten. In die untere Region, wo die Quelle der Magie ist.«

»Ja, wovor sie uns Angst zu machen versuchten«, sagte Chester zustimmend. Er rammte die Vorderbeine ins Parkett und wirbelte so elegant um die eigene Achse, als wolle er explodierenden Granatäpfeln ausweichen. Dann trabte er den gleichen Weg wieder zurück, den sie gekommen waren.

»Halt!« schrie Bink. »Das ist doch der reinste Selbstmord! Wir wissen doch nicht einmal, wo sich der Eingang zum Strudel befindet!«

»Der Strudel muß sich im Mittelpunkt des Schlosses befinden. Eine Frage der architektonischen Statik«, sagte Chester. »Außerdem habe ich selbst einen sehr ausgeprägten Orientierungssinn. Ich weiß ungefähr, wo wir hin müssen. Und ich bin auch bereit, mir notfalls selbst einen Zugang zu schaffen.«

Sie kamen um eine Ecke – und stießen in die sie verfolgenden Strudelungeheuer. Nach allen Seiten stürzten Leute zu Boden – doch aus dem Gemenge fuhr ein gewaltiger Fluch empor und jagte hinter Chester her.

Bink, der nervös zurückblickte, erspähte ihn. »Chester, lauf!« schrie. »An deinem Schweif hängt ein Fluch!«

»An meinem Schweif?« rief Chester wütend und sprang vor. Bedrohungen seines häßlichen Gesichts begegnete er stets gelassen, aber sein schönes Hinterteil war ihm heilig.

Der Fluch verfolgte sein Ziel voller Entschiedenheit. »Dem können wir nicht entgehen«, sagte Bink. »Der haftet uns an.«

»Ich glaube, da vorne liegt der Strudel schon«, sagte Chester. »Festhalten – ich springe.«

Er sprang – direkt auf die hölzerne Schiebewand zu. Das Holz zerbrach unter seinen Vorderhufen, und gemeinsam stürzten sie in den Strudel hinein.