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Die Nickelfüßler- Jagd

 

Am nächsten Morgen begannen sie ihre Mission: drei Männer mit Frauenproblemen. Alle waren sie froh, ihrer Lage entrinnen und auf Abenteuer ausziehen zu können. Crombie war besonders erfreut über seine neue Gestalt: Er spreizte häufig seine Schwingen und unternahm kleinere Übungsflüge.

Tatsächlich hatte der Soldat auch manches, auf das er nun stolz sein konnte: Seine Löwenläufe waren kräftig und muskulös, sein Adlerkopf mit den scharfen Augen sah beeindruckend aus, und seine Flügelfedern schimmerten. Sein Halsgefieder war blau, seine Rückenfedern schwarz, die Brust war rot und die Schwingen weiß. Ein hübscheres Ungeheuer fand man in ganz Xanth nicht.

Doch stießen sie in die Wildnis vor, was kein Zuckerschlecken war.

Kaum hatten sie Schloß Roogna verlassen, als die feindselige Magie sich auch schon bemerkbar machte. Die meisten Pfade waren auf Befehl des Königs verzaubert worden, so daß keinem Reisenden Gefahr drohte, der auf ihnen blieb. Doch der Gute Magier Humfrey hatte noch nie allzu großen Wert auf Gesellschaft gelegt; deshalb gab es keinen Weg, der direkt zu seinem Schloß führte. Magisch gesehen, führten alle Pfade von seinem Schloß fort. Deshalb war die Strecke nicht gesichert.

Glücklicherweise ermöglichte Crombies Talent der Richtungsfindung es ihnen, stets den richtigen Weg zu wählen. In regelmäßigen Abständen machte der Soldat eine Pause, streckte einen Flügel aus, wirbelte um seine eigene Achse, und wenn er innehielt, zeigte er in eine ganz bestimmte Richtung. Sein Orientierungssinn irrte niemals. Leider scherte er sich aber auch nicht um die Unannehmlichkeiten, die mit Reisen in Vogelfluglinie verbunden waren.

Als erstes begegneten sie einem Haufen Glockenblumen. Die Stengel der Pflanzen reckten sich empor, und ihre Glocken läuteten unentwegt. Der Lärm wurde immer lauter, ohrenbetäubender – und schließlich auch verwirrender. »Wir müssen hier raus!« rief Bink, doch er wußte, daß man ihn in dem Getöse nicht verstehen konnte. Chester hatte die Hände auf die Ohren gelegt und schlug mit den Hinterhufen aus – doch für jede Glocke, die er zertrümmerte, läuteten zwölf neue um so lauter.

Crombie breitete die Schwingen aus und flatterte wild. Bink dachte erst, daß er davonfliegen wollte, doch der Greif schlug alle vier Krallenpranken in die Schlingpflanzen und riß sie empor. Die Pflanzen streckten sich, und die Glocken klangen schriller, bis sie plötzlich verstummten. Die Spannung verhinderte, daß sie frei hin und her schwangen, so daß sie nicht richtig läuten konnten.

Bink und Chester nutzten die Gelegenheit und kletterten aus dem Gestrüpp. Dann ließ Crombie los und flog davon, außer Reichweite der Glocken. Sie waren wieder frei, aber es war eine Warnung gewesen. Sie konnten nicht einfach drauflos marschieren wie auf den königlichen Verkehrswegen.

So schritten sie weiter und umgingen die Gewirrbäume sowie freiliegende Schlinggewächse. Crombie befragte sein Talent nun auch nach der nächstgelegenen Gefahr. Manchmal mußten sie scheinbar harmlose Orte umgehen und sich ihren Weg durch Juckkraut und Rutschtorf bahnen. Doch sie vertrauten auf Crombies Talent. Besser jucken und rutschen als einen ruhmlosen Tod zu erleiden!

Nun, da sie mitten drin waren, schien das Abenteuer nicht mehr halb so aufregend zu sein. Wenn man in der Bequemlichkeit des Heims oder Palastes darüber nachdachte, vergaß man allzu oft, daß Abenteuer mit zahllosen schmierigen kleinen Einzelheiten und Unannehmlichkeiten verbunden waren. Binks Schenkel waren bereits vom Reiten wundgescheuert, und er schwitzte höchst ungemütlich.

Als sie hungrig wurden, zeigte Crombie auf einen Limonadenbaum, der auf einem Fleckchen Zuckersand wuchs. Chester nahm einen spitzen Stein und schlug ein Zapfloch in den Stamm, damit sie die hervorschäumende Limonade trinken konnten. Die Flüssigkeit sah zunächst wie Blut aus, was ein Schock war, bis sie merkten, daß es sich um Erdbeerlimonade handelte. Der Zuckersand war so süß, daß man davon immer nur ein bißchen auf einmal essen konnte. Crombie zeigte auf einen Brotfruchtbaum, und das war schon viel besser. Die Laibe waren gerade reif geworden, so daß sie beim Brechen warm dampften, und schmeckten vorzüglich.

Doch kaum fühlten sie sich wieder sicher, wurden sie von der nächsten Gefahr heimgesucht. Crombies Talent funktionierte nur, wenn es befragt wurde, es handelte sich also nicht um ein automatisches Warnsystem. Diesmal bestand die Bedrohung aus einem hungrigen, feuerspeienden Landdrachen mittlerer Größe – ungefähr der schlimmste Gegner außer einem großen Drachen, dem man in Xanth begegnen konnte. Diese Ungeheuer waren die Herren der Wildnis und dienten als Maßstab, an dem alle Heimtücke gemessen wurde. Wären sie einem großen Drachen begegnet, so wären sie verloren gewesen. Doch so hatten ein Mensch, ein Zentaur und ein Greif eine gewisse Chance, einen Kampf zu gewinnen. Doch warum war dieser Drache auf sie losgegangen? Normalerweise griffen Drachen weder Menschen noch Zentauren an. Sie kämpften zwar gegen sie, doch nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Denn obwohl Drachen die Herren der Wildnis waren, waren Menschen und Zentauren so zahlreich, gut organisiert und hervorragend bewaffnet, daß Drachen an ihnen keinen besonderen Gefallen fanden. Manche Menschen, wie etwa der König, besaßen Magie, die jeden Drachen fertigmachen konnte. Für gewöhnlich gingen Menschen und Drachen sich aus dem Weg.

Konnte jener anonyme Feind ihnen vielleicht den Drachen auf den Hals gehetzt haben? Ein kleiner Anstoß im kleinen, heißen Gehirn des Drachen – und das Ergebnis würde wie ein Unfall aussehen. Bink mußte an die Analyse des Königs denken: daß die Magie seines Gegners der seinen glich. Natürlich war es nicht dieselbe, aber sie war ihr ähnlich und deshalb heimtückisch und schwer greifbar.

Da erblickte er einen kleinen Erdhaufen, der frisch aussah. War hier etwa auch ein magischer Maulwurf? Offenbar war ja ganz Xanth mit den Viechern übersät!

Crombie und Chester liebten beide den Kampf. Doch Bink verließ sich im Endeffekt auf sein verborgenes Talent. Das Problem bestand darin, daß sich dieser Schutz nicht unbedingt auch auf seine beiden Freunde erstreckte. Nur wenn er sich selbst ins Handgemenge stürzte, durfte er hoffen, daß er ihnen damit half, denn dann würde sein Talent sie wahrscheinlich ebenfalls retten müssen, damit er überlebte. Er fühlte sich schuldig, weil sein Mut nicht echt war. Es konnte durchaus sein, daß sie starben, während er magisch davor geschützt war. Und doch durfte er ihnen nicht einmal davon berichten.

Jedenfalls befanden sie sich auf einer ebenen Lichtung, dem idealen Jagdgelände für einen Drachen. Weder waren dort hohe Bäume, die ihnen als Schutz oder Fluchtmöglichkeit hätten dienen können, noch irgendwelche Ortszauber, deren sie sich rechtzeitig bedienen konnten. Der Drache stürzte auf sie zu. Ein langer Feuerstrahl schoß aus seinem Maul. Ein ordentliches Flammen reichte, einen Menschen durch und durch zu rösten. Gerüchten zufolge fanden Drachen geröstetes Menschenfleisch besonders lecker.

Chester hatte seinen Bogen gespannt und einen Pfeil eingelegt. Er war gut ausgerüstet: ein Bogen, Pfeile und Schwert und ein geschmeidiges Seil, und er konnte mit allen Waffen meisterhaft umgehen. »Bleibt von der Flamme weg!« brüllte er. »Er muß zwischendurch mal Luft holen. Wenn er anfängt, vorzuschnappen, springt zur Seite!«

Ein guter Rat. Jedes Wesen von der Größe eines Drachen war etwas behäbig und langsam, und der Feuerstrahl mußte wohlgezielt werden. Tatsächlich waren sie in unmittelbarer Nähe des Ungeheuers wahrscheinlich am sichersten, denn dann konnten sie seitlich um das Tier herumlaufen, bevor es sich neu orientieren konnte. Allerdings durften sie ihm auch nicht allzu nahe kommen, denn die Fänge und Klauen eines Drachen konnten verheerende Wirkungen haben.

Crombie besaß allerdings ebenfalls Klauen, und sein Schnabel war ebenso wirkungsvoll wie seine Fänge. Außerdem hatte er den Vorteil, fliegen zu können. Er war wesentlich schneller als der massige Drache. Allerdings war er kein natürlicher Greif, so daß er nicht mit der gleichen Schnelligkeit und Präzision wie ein echter Greif reagieren konnte.

Bink war das schwächste Glied in der Verteidigungskette – jedenfalls würden die anderen das so sehen. »Bink, zurück!« rief Chester, als Bink vorstürzte. Bink konnte dem Zentauren sein scheinbar dummes Vorgehen nicht erklären.

Als er noch eine Drachenlänge von dem Tier entfernt war, wurde der Drache langsamer und richtete seinen Blick auf seinen gefährlichsten Gegner, den Greif. Crombie stieß einen schrillen Kampfschrei aus und stürzte sich auf den Schwanz des Drachen. Als das Ungeheuer den Kopf wandte, um ihn zu verfolgen, schoß Chester ihm einen Pfeil in den Nacken. Der Pfeil war mit der ganzen Kraft eines Zentauren abgeschossen worden, dennoch prallte er wirkungslos von den metallischen Schuppen ab. »Muß ihn ins Maul treffen, wenn er gerade nicht Feuer speit«, brummte Chester.

Bink wußte, wie gefährlich das war. Einen solchen Schuß konnte man nur plazieren, wenn man direkt vor dem Drachen stand und dieser sein Maul aufgesperrt hatte – was normalerweise nur der Fall war, wenn er zubeißen oder Feuer speien wollte. »Tu’s nicht!« rief Bink. »Laß Crombie einen Fluchtweg finden!«

Doch Crombie war außer Hörweite und stark beschäftigt, und außerdem war der sture Zentaur nicht in Rückzugsstimmung. Wenn sie den Drachen nicht auf eine für sie geeignete Weise angriffen, würde er sie auf eine für ihn geeignete Weise verspeisen.

Bink trat mit gezücktem Schwert näher und suchte eine ungeschützte Stelle. Je näher er ihm kam, um so größer schien der Drache zu werden. Seine Schuppen überlappten einander. Sie mochten wohl gegen die meisten Pfeile gefeit sein, doch wahrscheinlich nicht gegen eine dazwischengeschobene Klinge. Wenn er den Panzer in der Nähe eines lebenswichtigen Organs durchbohren konnte –

Mit schrillem Geschrei stürzte Crombie sich wieder auf den Drachen. Der Sturzkampfflug eines Greifen war etwas, das zu ignorieren sich nicht einmal ein Drache erlauben konnte. Der Drache peitschte herum, sein Körper rollte sich geschmeidig zusammen, und mit dem Kopf stieß er in einem Kreis empor, um den Greif zu schnappen. Das riesige Maul klaffte offen, doch war es weniger aufs Feuerspeien eingestellt, denn der Drache wollte seinem Gegner nach Möglichkeit einen Flügel oder vielleicht sogar den Kopf abbeißen. Sein Hals war in Binks Richtung gekrümmt; offenbar sah er Bink nicht als ernstzunehmende Bedrohung an.

Chester schoß einen Pfeil in den Rachen ab, doch er kam im falschen Winkel auf und prallte von einem Zahn ab. Mit ausgefahrenen Krallen näherte sich Crombie und wich dem schnappenden Maul aus. Er versuchte, dem Ungeheuer ein Auge auszureißen. Bink rannte herbei und rammte seine gehärtete Schwertspitze zwischen die gespreizten Schuppen unterhalb des Halses.

Der Drache war ungefähr so breit wie Bink groß war, und jede Schuppe hatte den Durchmesser einer gespreizten Hand. Die Schuppen glänzten blau und leuchteten an ihren messerscharfen Kanten. Als sich Binks Klinge in das Fleisch senkte, glitten die Schuppen wieder zusammen und kamen seiner Hand bedrohlich nahe. Plötzlich begriff er, daß sie ihm die Hand durchtrennen konnten, bevor sein Schwert das Ungeheuer ernsthaft verletzt hatte. Es war wirklich müßig für einen Menschen, einen Drachen töten zu wollen!

Immerhin tat Binks Stoß dem Tier weh, so wie ein Dorn einem Menschen weh tun konnte. Der Drache wirbelte peitschend herum, um sich dem lästigen Gegner zu stellen. Sein Hals drehte sich in einer S-Kurve, als er Bink seine Schnauze entgegenstreckte. Die Schnauze sah plötzlich doppelt so groß aus wie zuvor. Sie befand sich auf Hüfthöhe, war kupferfarben und wies zwei Nüsternventile auf, die nach innen gestülpt waren, damit keine Luft entweichen konnte. Der Drache atmete durch die Nase ein und durch das Maul aus. Vermutlich hätte eine Nase voll Feuer die empfindlichen Nasenhöhlen zerstört; so hatte das System einen eingebauten Sicherheitsmechanismus. Die darunterliegenden Lippen waren heller und sahen wie poliert aus, als ob sie mit einem widerstandsfähigeren Metall legiert worden waren, um die Hochofenhitze des Drachenatems auszuhalten. Die Fänge waren braun versengt, und in den Zahnlücken war schwarzer Ruß zu erkennen.

Die Augen lagen seitlich der Drachenstirn, doch die Schnauze wies eine Vertiefung auf, so daß das Tier geradeaus blicken konnte, um zu sehen, wohin sein Feuerstrahl traf. Diese Augen waren gerade auf Bink gerichtet, dessen Hand noch immer auf dem Knauf des Schwertes ruhte, dessen Klinge in die untere Krümmung der S-Kurve des Nackens gefahren war. Wie alle anderen Wesen auch, besaßen Drachen eine unterschiedliche Intelligenz, doch selbst ein dummer Drache mußte merken, daß Bink etwas mit seinem Schmerz zu tun hatte. Mit leisem Scheppern schlossen sich die Nüsternventile. Das Maul wurde aufgerissen. Nun würde Bink ordentlich geröstet werden.

Bink erstarrte. Er konnte nur noch an sein Schwert denken. Es war eine gute Waffe, die verzaubert worden war, um stets scharf zu bleiben und leicht in der Hand zu liegen. Es war ein Geschenk aus dem Waffenarsenal des Königs. Wenn er jetzt floh, mußte er die treue Klinge im Hals des Drachen zurücklassen, denn er hatte keine Zeit mehr, das Schwert vorher herauszuziehen. Doch er wollte es nicht verlieren, also blieb er stehen, unfähig, dem drohenden Feuerstrahl auszuweichen.

Im Bauch des Drachen grollte es. Der Hals blähte sich zu einer runden Röhre auf und schickte sich an, die Flammensäule auszuspeien. Bink war ein unbewegliches Ziel.

Da surrte ein Pfeil über Binks reglose Schulter hinweg, direkt in den aufgesperrten Rachen hinein. Ein perfekter Schuß des Zentauren!

Zu perfekt. Anstatt das weiche Gewebe des tiefen Schlunds zu durchbohren und ein lebenswichtiges Organ zu verletzen, verschwand der Pfeil in den züngelnden Flammen. Da schoß das Feuer bereits heraus, ein tödlicher, goldener Lichtstrahl, der direkt gegen Binks Kopf gerichtet war.

In diesem Augenblick schlug der Greif auf die Schnauze des Drachen auf und drückte sie hinab. Die Schnauze prallte gegen den Boden zu Binks Füßen. Es kam zu einer Art Explosion. Der Drachenkopf wurde vom flammenden Rückstoß erfaßt, und im Boden bildete sich ein verbrannter Krater. Um ein Haar hätte der Greif sich einen Flügel versengt. Bink stand völlig unversehrt am Rande des Kraters, das Schwert in der Hand.

Der Greif packte Bink mit seinen Klauen und riß ihn empor, als der Drache sich neu orientierte. Da schoß auch schon ein zweiter Feuerstrahl direkt unter Binks schwebenden Füßen vorbei.

Crombie konnte Binks Gewicht nicht lange halten. »Such einen Fluchtweg!« rief Bink. »Benutze dein Talent!«

Verblüfft ließ der Greif Bink in einen Kissenbusch fallen und versuchte mitten im Flug, die richtige Fluchtrichtung zu finden. Der Drache hustete einige staubige Feuerbälle aus, um seine Feuerröhre von Rußteilchen zu reinigen, und jagte ihnen nach. Chester galoppierte neben ihm her und versuchte, einen Pfeil zu plazieren. Es war offensichtlich, daß der Drache ein zu starker Gegner für sie war.

Crombies rechter Flügel zeigte seitwärts. »Skwaaak!« rief er.

Chester kam in einer Kurve auf Bink zu und schrie: »Auf meinen Rücken!«

Bink machte einen Satz und lag plötzlich schräg über dem Rücken des Zentauren. Er rutschte ab, griff wild um sich, erwischte die Mähne und richtete sich mühsam auf, während der Zentaur mit gesenktem Kopf davongaloppierte. Beinahe wäre Bink über Chesters Kopf hinweggestürzt, doch er umklammerte den Körper des Zentauren mit seinen Knien.

Er blickte hoch – und sah den Drachen, der direkt auf sie zukam. Das Ungeheuer mußte ebenfalls einen Bogen geschlagen haben! »Chester!« schrie Bink panisch. »Vor uns!«

»Vor uns? Ich glaube, ich spinne!« schrie der Zentaur hinter ihm. »Du sitzt verkehrt rum auf!«

O ja! Das stimmte. Der Drache verfolgte sie und versuchte, seine Gegner einzuholen. Bink hielt sich an Chesters imposantem Schweif fest!

Na ja, so konnte man den Drachen immerhin gut beobachten. »Das Ungeheuer holt auf«, meldete Bink. »Wo zeigt Crombie hin?«

»Dort, wo ich hinlaufe«, rief Chester. »Aber ich weiß nicht, wie weit es noch ist.« Seine offensichtliche Wut war verständlich. Er mochte es nicht, vor einem Feind davonzulaufen, nicht einmal vor einem mächtigen Drachen. Wenn Bink nicht gewesen wäre, hätte der Zentaur niemals den Rückzug angetreten.

Crombie hatte zwar die Richtung angezeigt, wußte aber nicht, ob sie rechtzeitig in Sicherheit sein würden. Was, wenn der Drache sie vorher einholte? Bink fürchtete, daß dann sein Talent wieder in Aktion treten würde.

»So eine tapfere Tat habe ich noch nie bei einem Menschen gesehen«, rief Chester. Offenbar meinte er, daß Zentauren besonders hohe Maßstäbe an Tapferkeit anlegten. »Du bist direkt vor der Schnauze des Drachen stehengeblieben, hast seine Aufmerksamkeit auf dich gezogen und dich absolut still verhalten, damit ich meinen Pfeil auf ihn abfeuern konnte. Du hättest geröstet werden können.«

Oder von einem Zentaurenpfeil aufgespießt werden. Aber Zentauren verfehlten ihr Ziel nur selten. »Das war keine Tapferkeit«, erwiderte Bink. »Ich war so verschreckt, daß ich keinen Muskel bewegen konnte.«

»Ach ja? Und als du der alten Feuerschnauze die Klinge in den Nacken geschoben hast?«

Ja, das sah nach Tapferkeit aus. Wie konnte Bink seinem Freund erklären, daß der Schutz, den sein Talent ihm verlieh, ihm so etwas leichtmachte? Wenn er wirklich geglaubt hätte, daß er in Lebensgefahr schwebte, hätte er wahrscheinlich nicht den erforderlichen Mut aufgebracht. »Ich habe nur getan, was ihr auch getan habt: Angreifen, um die eigene Haut zu retten.«

Chester schnaubte abfällig und galoppierte weiter. Der Drache holte immer noch auf und war nun in Flammweite. Seine Nase war erdverkrustet, aber sein inneres Feuer loderte weiter. Er sperrte das Maul auf –

Chester sackte in ein Erdloch hinunter. »Halt dich fest!« schrie er, ein wenig zu spät. »Die Grube ist zu groß zumÜberspringen.«

Das war offensichtlich. Bink hätte fast einen Purzelbaum über Chesters Schweif hinweg geschlagen, hielt sich aber fest und kam hart auf dem Rücken des Zentauren auf. Die Wände zu beiden Seiten wurden allmählich immer steiler. Offenbar hatten sie sich der Schlucht in schrägem Winkel genähert, so daß es leicht war, seitwärts hinunterzulaufen. Das mußte der Fluchtweg sein, den Crombie gemeint hatte. Tatsächlich kreiste der Greif bereits herab, um sich ihnen wieder anzuschließen.

Doch der Drache folgte ihnen ebenfalls. Mit seinem langen gewundenen Körper war er hier wie zu Hause. Bink war verunsichert: Ob dies wirklich der beste Fluchtweg war? War es nicht vielleicht ein Irrweg?

Plötzlich bremste Chester. »Nicht anhalten!« schrie Bink. »Das Ungeheuer ist uns dicht auf den Fersen!«

»Einen prima Fluchtweg hat uns dieser Federkopf da ausgesucht!« knurrte Chester angewidert. »Wir stellen uns besser dem Drachen.«

»Das werden wir wohl müssen«, meinte Bink und drehte den Kopf dem Zentauren zu. »Wir können ihn nicht mehr abhängen –«

Da sah er, weshalb Chester stehengeblieben war. »Nickelfüßler!« schrie er entsetzt.

Der Drache hatte die Nickelfüßler ebenfalls erblickt. Er bremste rutschend ab und versuchte, umzukehren – doch dafür war die Spalte zu eng. Er hätte sich wohl über seinen eigenen Körper zurückschlängeln können, doch dabei hätte er seinen verwundeten Nacken wieder freilegen müssen.

Crombie landete zwischen ihnen. »Ist das etwa dein Fluchtweg, Spatzenhirn?« fragte Chester, als die Nickelfüßler herbeiklapperten und überall, wo sich Schatten befanden, eine lebende Barriere bildeten.

»Skwaaak!« erwiderte der Greif wütend. Er verstand sowohl Chesters Sprache als auch seine Beleidigung, konnte aber nicht verständlich antworten. Er stellte sich auf und rollte die Flügel etwas ein, damit sie nicht an die Wände streiften und besudelt wurden. Dann schloß er die Augen, drehte sich unbeholfen im Kreis und zeigte mit einer Vordertatze die Richtung an. Doch die Tatze wackelte unbestimmt in einem Halbkreis umher.

Einige mutige Nickelfüßler griffen an. Jeder von ihnen besaß etwa fünfhundert Beine und eine Kneifzange und liebte frisches Fleisch. Ein einzelner Nickelfüßler war zwar unangenehm, aber man konnte ihn mit Müh und Not noch vernichten. Hunderte dagegen konnte man allenfalls mit außergewöhnlicher Panzerung oder Magie besiegen. Doch sie mußten es versuchen, denn wenn es etwas noch Unangenehmeres gab, als sich von einem Drachen rösten zu lassen, so war es, von Nickelfüßlern aufgefressen zu werden.

Der Drache schrie auf. Ein Nickelfüßler hatte seine kleinste Vordertatze umklammert und stanzte nun eine etwa ein Zoll breite Scheibe aus seiner Tatze. Die Tatze bestand zwar aus Eisen, doch die Greifer des Nickelfüßlers waren auf magische Weise nickelgehärtet und konnten so ziemlich jedes Material angreifen. Chester lachte grimmig.

Da machte der Zentaur einen Satz und gab einen wiehernden Schrei von sich. Ein weiterer Nickelfüßler hatte ihm ein Stück aus dem Huf gerissen. Chester stampfte heftig auf das kleine Ungeheuer, doch der Nickelfüßler wich zur Seite aus – während neue Nickelfüßler Chesters andere Hufe attackierten. Nun kicherte der Drache hämisch.

Doch ihre Lage war alles andere als komisch. Die Erdspalte war sehr tief, mit einem ebenen Fußpfad zwischen steilen Wänden. Die Schlucht war zu tief, als daß Bink hätte hinausspringen können. Auf Chesters Rücken stehend, hätte er es vielleicht schaffen können – doch wie hätte der Zentaur dann entkommen sollen! Der Drache konnte seinen Kopf wohl über die Schlucht hinausrecken, aber nicht seine Vorderpranken. Nur der Greif hätte fliehen können – wenn die enge Spalte es ihm nicht unmöglich gemacht hätte, die Flügel auszubreiten. Er war zwar hinabgeglitten, doch zum Hinauffliegen brauchte er mehr Bewegungsfreiheit. Mit Chesters Hilfe könnte er vielleicht hoch genug kommen – doch dann stellte sich wiederum die Frage, was aus Chester werden sollte. Sie saßen in der Falle.

Wenn sie nicht bald entkamen, würden sie dem Schwarm als Nahrung dienen. Doch der Drache versperrte mit seinem Körper den Ausgang. Er zappelte gerade umher und versuchte, sich vom Boden zu erheben, um seine empfindlichen Stellen zu schützen, während die Nickelfüßler sich munter auf seine Tatzen stürzten. Chester ging es nicht anders, desgleichen Crombie, der im Augenblick flugunfähig war. Und Bink selbst, dessen Gliedmaßen die empfindlichsten von allen waren. Wo blieb nur sein Talent?

»Nur das Sonnenlicht hält sie in Schach«, bemerkte Chester. »Wenn die Sonne hinter dem Rand der Schlucht verschwunden ist, werden sie alle gemeinsam über uns herfallen.«

Bink musterte die Schattenlinie. Noch stand die Sonne hoch am Himmel, so daß nur ein kleinerer Teil im Schatten lag, doch der wimmelte dafür auch nur so von den kneifenden Ungeheuern.

Da hatte Bink einen Einfall. »Wir müssen zusammenarbeiten!« rief er. »Alle zusammen, bevor wir zusammen aufgefressen werden!«

»Natürlich«, sagte Chester. »Aber wie werden wir den Drachen los?«

»Ich meinte, mit dem Drachen zusammenarbeiten!«

Chester, Crombie und der Drache blickten ihn verblüfft an. Alle tanzten immer noch auf der Stelle umher. »Drachen sind zu blöd, um mit anderen zusammenarbeiten zu können, selbst wenn sie wollten«, wandte Chester ein. »Sofern das überhaupt Zweck hätte. Das Biest denkt doch immer nur an das eine. Warum sollen wir ihm auch noch dabei helfen, uns hinterher aufzufressen?«

»Wir müßten ein Abkommen schließen«, erwiderte Bink.

»Wir helfen ihm, und dafür frißt es uns nicht auf. Der Drache kann sich nicht umdrehen und kann seinen Körper auch nicht

lange hochstemmen. Er ist also genauso verwundbar wie wir. Aber er kann wesentlich besser gegen die Nickelfüßler kämpfen. Wenn wir seine Flanke schützen –«

»Flammen!« rief Chester. »Nickelfüßler hassen Licht – und Flammen enthalten verdammt viel Licht!«

»Richtig«, sagte Bink. »Wenn wir also seine dunkle Seite und seine Pranken schützen –«

»Und seinen Rücken«, fügte Chester hinzu und blickte Crombie an. »Wenn er uns traut …«

»Er hat gar keine andere Wahl«, sagte Bink und schritt auf den Drachen zu.

»Das weiß er aber nicht! Paß auf – er wird dich versengen!«

Doch Bink wußte, daß sein magisches Talent ihn davor bewahren würde. Er stellte sich vor den kupfernen Nüstern des Drachen auf, aus denen kleine Dampfwölkchen hervorkamen. Wenn sein System nicht aktiviert war, verlor er meistens etwas Dampf. »Drache«, sagte Bink, »du verstehst mich, nicht wahr? Du kannst zwar nicht sprechen, aber du weißt, daß wir alle in der Patsche sitzen und von den Nickelfüßlern zerrissen und aufgefressen werden, wenn wir uns nicht gegenseitig helfen, stimmt’s?« Und er machte einen Satz, um einem weiteren angreifenden Nickelfüßler auszuweichen.

Der Drache gab keine Antwort, sondern blickte ihn nur an. Bink hoffte, daß das ein gutes Zeichen war. Er durchbohrte den Nickelfüßler mit seiner Schwertspitze und hob das zappelnde Ungeheuer auf.

»Ich kann immer nur einen Nickelfüßler auf einmal erledigen«, fuhr Bink fort und zeigte dem rechten Auge des Drachen seinen Gefangenen. »Ich könnte mich auf eine deiner Pranken setzen und sie beschützen. Mein Freund der Zentaur könnte deinen Schwanz bewachen. Der Greif ist in Wirklichkeit ein verwandelter Soldat und auch ein Freund von mir. Er könnte deinen Rücken bewachen und die Feinde mit seinem Schnabel zerquetschen. Wir könnten dir helfen – sofern du uns vertraust.«

»Wie können wir ihm denn trauen?« wollte Chester wissen.

Der Drache reagierte immer noch nicht. War er einfach zu dumm, oder hatte er verstanden? Chester ergriff das Wort. »Drache, du weißt, daß wir Zentauren Wesen von Ehre sind. Das weiß doch jeder! Ich gebe dir mein Wort, ich werde dich nicht angreifen, wenn du mich vorbei läßt! Ich kenne Bink gut. Obwohl er ein Mensch ist, ist er auch ein Wesen von Ehre.

Und der Greif –« Er zögerte.

»Skwaaak!« sagte Crombie wütend.

»Crombie ist auch ein Wesen von Ehre«, sagte Bink schnell. »Und wir nehmen an, daß du das auch bist, Drache.«

Doch der Drache starrte ihn unentwegt an. Bink begriff, daß er es darauf ankommen lassen mußte. Vielleicht war der Drache zu dumm, um zu verstehen, vielleicht traute er ihnen auch nicht. Möglicherweise konnte er auch nicht reagieren. Sie mußten das Risiko einfach eingehen, es war ihre letzte Chance.

»Ich werde über deinen Rücken klettern«, sagte Bink. »Meine Freunde werden mir folgen. Das Abkommen soll so lange gelten, bis wir alle aus dieser Erdspalte geflohen sind.«

»Wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du uns ja auf der Stelle versengen und allein gegen die Nickelfüßler kämpfen«, fuhr er fort, als der Drache schwieg.

Mutig schritt er um den Kopf des Drachen zum Halsansatz, wo die Vorderbeine hervortraten. Der Drache versengte ihn nicht. Er erblickte die Wunde, die er ihm mit seinem Schwert zugefügt hatte. Blut tropfte daraus herunter, das gierig von einem Nickelfüßler am Boden aufgeschnappt wurde. Das winzige Ungeheuer riß ganze Scheiben aus dem Steinboden, um auch den letzten Tropfen dieser Delikatesse aufsaugen zu

können. Trotz ihrer geringen Größe mußten die Nickelfüßler wohl die gierigsten Ungeheuer in ganz Xanth sein!

Bink schob sein Schwert wieder in seine Scheide, nachdem er den aufgespießten Nickelfüßler abgewischt hatte. Dann hob er die Arme und machte einen Satz. Er klammerte sich am Bein fest und kletterte auf den schuppigen Rücken. Da die Schuppen flach lagen, konnten sie ihm mit ihren messerscharfen Rändern nichts anhaben, solange er nicht in der falschen Richtung darüber streifte. Der Drache rührte sich nicht. »Kommt, Chester, Crombie!« rief Bink.

Die beiden Wesen folgten prompt, von den nahenden Nickelfüßlern ermuntert. Der Drache musterte sie mißtrauisch, hielt sein Feuer jedoch zurück. Kurz darauf hatten sie ihre Kampfstellungen bezogen, keinen Augenblick zu früh: Inzwischen hatten sich die Nickelfüßler immer stärker zusammengerottet, so daß die schattigen Wände zu leuchten begannen. Gnadenlos rückte der Schatten näher.

»Flamm den Weg frei!« rief Bink dem Drachen zu. »Wir sichern deine Flanke!« Dann zog er sein Schwert und spießte einen weiteren Nickelfüßler auf.

Der Drache reagierte, indem er ein gewaltiges Flammenmeer ausrülpste. Das Feuer versengte die ganze Erdspalte und hüllte alles in Flammen und Rauch. Es war wie ein Blitzschlag: Die Nickelfüßler kreischten mit dünnen Stimmen auf, als sie brennend von den Wänden fielen. Manche explodierten sogar. Ein voller Erfolg!

»Sehr gut!« sagte Bink zu dem Drachen und fuhr sich mit der Hand über seine tränenden Augen. Er hatte eine Menge heißes Gas abbekommen. »Und jetzt rückwärts hinauskriechen.«

Doch das Wesen bewegte sich nicht vom Fleck.

»Der kann nicht zurück«, sagte Chester, der das Problem plötzlich erfaßt hatte. »Er ist dafür einfach nicht gebaut. Ein Drache weicht niemals zurück.«

Das stimmte. Drachen waren sehr gelenkig und schlängelten sich normalerweise herum, wenn sie zurück wollten. Ihre Beine und Pranken waren nur für Vorwärtsbewegungen gedacht. Kein Wunder, daß er Binks Vorschlag nicht offen zugestimmt hatte, das war ihm schlichtweg unmöglich gewesen. Ohne Sprache konnte er sich nicht erklären, und jede Verneinung hätte so ausgesehen, als wollte er das Abkommen ablehnen. Selbst ein hochintelligentes Wesen hätte in einem solchen Dilemma keine Antwort gewußt, und das war der Drache keineswegs. Also hatte er einfach die Klappe gehalten.

»Aber das bedeutet, daß wir nur noch tiefer in die Spalte eindringen können!« sagte Bink entsetzt. »Oder warten müssen, bis es dunkel ist.« Beides verhieß Desaster: Wenn es dunkel war, würden sich die Nickelfüßler zuhauf auf sie stürzen und sie alle in kleine, mundliche Scheibchen zerlegen. Was für ein entsetzliches Schicksal – zu Tode genickelt zu werden!

Der Drache hatte auch keine unbegrenzten Flammenmengen zur Verfügung; ab und zu mußte er für Brennstoff sorgen. Nichts anderes hatte er ja auch zunächst gewollt, als er ihnen nachgejagt war. Sobald sein Feuer erloschen war, waren sie den Nickelfüßlern hilflos ausgeliefert.

»Der Drache läßt sich nicht retten«, sagte Chester. »Komm, Bink, steig auf. Ich galoppiere hinaus, jetzt liegt ja kein Hindernis mehr vor uns. Crombie kann von seinem Rücken herunterspringen und losfliegen.«

»Nein«, sagte Bink entschieden. »Das wäre gegen unser Abkommen. Wir haben vereinbart, uns gegenseitig zu retten.«

»Haben wir nicht«, erwiderte der Zentaur pikiert. »Wir haben vereinbart, uns gegenseitig nicht anzugreifen. Wir werden ihn ja auch nicht angreifen, sondern ihn einfach nur zurücklassen.«

»Damit die Nickelfüßler ihn angreifen?« setzte Bink Chesters Vorschlag fort.

»So habe ich das nicht verstanden. Geh nur, wenn du meinst. Ich stehe zu meiner Verpflichtung, zur ausgesprochenen wie zur unausgesprochenen.«

Chester schüttelte den Kopf. »Du bist nicht nur der tapferste Mann, der mir je begegnet ist, sondern auch der menschenköpfigste.«

Damit meinte er tapfer und stur. Bink wünschte, das wäre wirklich wahr. Doch sein Talent ermöglichte es ihm, Risiken und Ehrenverpflichtungen einzugehen, vor denen er sonst zurückgeschreckt wäre. Crombie und Chester waren wirklich mutig, denn sie wußten, daß sie sterben konnten. Wieder fühlte er sich schuldig, weil er wußte, daß er schon irgendwie aus der Klemme freikommen würde, während das bei seinen Freunden keineswegs gewiß war. Und doch wußte er auch, daß sie ihn nicht im Stich lassen würden. Also steckte er in der Zwickmühle: Er mußte sie einer entsetzlichen Gefahr aussetzen, um ein Abkommen mit einem Feind einzuhalten, der versucht hatte, sie alle umzubringen. Wo bleibt da die Moral?

»Wenn wir nicht zurück können, bleibt nur die Offensive«, entschied Chester. »Sag deinem Freund, er soll Dampf machen.«

Seine Ironie war nicht eben elegant – aber Chester war auch kein eleganter Zentaur. Genau genommen war er ein zänkischer Raufbold. Aber ein treuer Freund. Bink fühlte sich weiterhin schuldig. Seine einzige Hoffnung war, daß sein

Talent sie alle gemeinsam retten würde, solange sie zusammenblieben. Vielleicht.

»Drache, wenn du bitte –« rief Bink. »Vielleicht liegt vor uns noch ein Ausgang.«

»Vielleicht besteht der Mond ja wirklich nicht aus grünem Käse«, brummte Chester. Das war zwar der reine Sarkasmus, erinnerte Bink jedoch plastisch an seine Kindheit, als das eingetreten war, was die Zentauren eine Eklipse genannt hatten: Die Sonne war in den Mond gedonnert, und ein großes Stück Käse war heruntergefallen. Das ganze Norddorf hatte sich darüber hergemacht, bevor er schlecht wurde. Grüner Käse war der beste – aber auch nur im Himmel wirklich gut. Am Himmel wuchsen übrigens auch die besten Pasteten.

Der Drache kroch vorwärts. Bink hielt sich mit beiden Armen fest, um nicht abgeworfen zu werden. Das war ja schlimmer, als auf einem Zentauren zu reiten! Crombie breitete die Flügel ein Stück aus, um sein Gleichgewicht zu halten, und Chester, der die Nachhut bildete, kam rückwärts hinterher. Was für den Drachen ein vorsichtiges Schleichen war, war für die anderen schon ein kräftiger Trott.

Bink fürchtete, daß die Spalte sich verengen und ihnen den Weg versperren könnte. Dann würde er erst richtig in einenGewissenskonflikt geraten! Doch die Öffnung blieb so, wie sie war, und die Schlucht schlängelte sich anscheinend endlos weiter, ohne daß sie einen Ausgang erblickten. In regelmäßigen Abständen flammte der Drache den Weg frei, doch Bink bemerkte, daß die Flammen immer schwächer wurden. Das Feuerspeien bedurfte einer Menge Energie, und der Drache war hungrig und ermüdet. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er unfähig wurde, die Nickelfüßler zu vertreiben. Ob Drachen wohl grünen Käse mochten? Wirklich ein unpassender Gedanke! Selbst wenn Käse das Feuer aufs neue zu speisen vermochte, schien im Augenblick kein Mond.

Und selbst wenn er schiene, wie sollten sie ihn vom Himmel holen?

Da teilte sich die Schlucht. Der Drache hielt verwirrt inne. Welche Abzweigung war die beste?

Crombie schloß seine Greifaugen und drehte sich, so gut es auf dem Rücken des Drachen ging, um seine eigene Achse. Doch wieder schwankte sein Flügel unruhig umher, an beiden Pfaden vorbei und senkte sich. Eine Niederlage! Offenbar bedurfte Crombies Talent der Zauberdoktorin – wirklich eine höchst unpassende Zeit dafür!

»Man kann sich doch immer darauf verlassen, daß dieses Spatzenhirn die Sache versiebt«, knurrte Chester.

Crombie, dessen Vogelgehör offenbar völlig intakt war, reagierte zornig. Er krächzte und schritt über den Drachenrücken auf den Zentauren zu. Seine Nackenfedern waren gesträubt wie die Halshaare eines Werwolfes.

»Immer mit der Ruhe!« rief Bink. »Wenn wir uns zanken, kommen wir hier nie heraus.«

Zögernd ging Crombie zurück auf seinen Platz. Nun mußte Bink den richtigen Weg bestimmen.

Konnte es vielleicht sein, daß die beiden Abzweigungen einen Bogen schlugen und sich später wieder trafen? Wenn dies der Fall sein sollte, wäre das eine ausgezeichnete Gelegenheit, den Drachen zu wenden und auf dem gleichen Weg zu entkommen, den sie bisher entlanggekrochen waren. Doch das war unwahrscheinlich. Immerhin wäre es dann egal, welchen Pfad sie einschlugen.

»Links lang.«

Der Drache kroch links weiter. Die Nickelfüßler folgten ihnen. Es wurde immer schwieriger, sie abzuwehren, denn der Schatten kroch ebenfalls weiter, und das Sonnenlicht schiennur noch in einem schrägen Winkel in die Öffnung.

Bink blickte empor. Das war ja noch schlimmer als erwartet!

Am Himmel ballten sich Wolken zusammen. Es würde nicht mehr lange dauern, und sie würden überhaupt kein Sonnenlicht mehr haben. Dann würden die Nickelfüßler erst richtig frech werden!

Wieder teilte sich der Weg. O nein! Das wurde ja langsam zum Labyrinth, und zwar zu einem todernsten. Wenn sie sich darin verlaufen sollten –

»Wieder nach links«, sagte Bink. Das war wirklich schrecklich: Er konnte nur noch raten, und sie gerieten immer mehr in die Klemme. Wenn doch nur Crombies Talent funktionieren würde! Merkwürdig, daß es so plötzlich versagt hatte. Bis sie in die Spalte eingedrungen waren, schien es völlig in Ordnung gewesen zu sein. Tatsächlich hatte es sie sogar hierher geführt. Warum hatte es sie bloß in eine Gegend geführt, in der es unwirksam wurde? Und warum hatte Binks Talent das zugelassen? Hatte es etwa auch versagt?

Er bekam es mit der Angst zu tun. Er hatte gar nicht gemerkt, wie sehr er sich auf sein Talent zu verlassen begonnen hatte. Ohne sein Talent war er verwundbar! Dann konnte er durch Magie verletzt oder getötet werden.

Nein! Das konnte er nicht glauben. Seine Magie mußte noch existieren – und Crombies auch. Er mußte herausfinden, wieso beide gerade versagten.

Versagten? Woher wollte er das eigentlich wissen? Vielleicht gaben die beiden Talente ja ihr Bestes und wurden nur falsch gedeutet? Wie der Drache waren auch sie stark, aber stumm. Crombie mußte einfach nur die richtige Frage stellen. Wenn er fragte: »Welcher Weg führt aus dem Labyrinth?« dann war es möglich, daß alle das taten – oder keiner. Was würde sein

Talent dann tun? Wenn er eine genaue Richtung verlangte, der Fluchtweg aber in einem Bogen verlief, mußte sein Flügel doch eine Kreisbewegung zeigen, nicht wahr? Es gab keine bestimmte Richtung. Der Weg ins Freie war ein Labyrinth. Also war Crombie verwirrt und glaubte, daß sein Talent versagt hatte, während es in Wirklichkeit einfach überfordert war.

Angenommen, daß Binks Talent davon wußte. Es würde sich keine Sorgen machen, sondern ihm eine Möglichkeit aufzeigen, Crombies Talent zu gegebener Zeit wieder nutzbar zu machen. Doch es wäre besser, wenn Bink selbst auf diese Möglichkeit kam, weil er dann sichergehen konnte, daß sie alle entkamen. Auf diese Weise wäre auch der Freundschaft und der Ehre Genüge getan.

Also war er selbst herausgefordert. Wie konnte er das Rätsel des blockierten Talents lösen? Auf die Frage nach dem Ausweg gab es offenbar keine gerade Richtungsanzeige. Und doch war Crombies Talent richtungsorientiert. Er fragte, wo sich irgend etwas befand, und es zeigte dann in die entsprechende Richtung. Wenn die Richtung hier jedoch nicht die Antwort war, was war es dann? Und wie konnte Crombie es identifizieren?

Vielleicht konnte er das ja mit Hilfe von Crombies Talent feststellen. »Crombie!« rief er unter dem Drachenkörper hervor. »Wo gibt es hier etwas, das uns hier heraus bringen wird?«

Der Greif versuchte erneut, die Richtung zu bestimmen, doch wieder ohne Erfolg.

»Es hat keinen Zweck«, grollte Chester. »Sein Talent ist sauer geworden. Nicht daß es jemals viel gebracht hätte. Ja, wenn ich ein Talent besäße …«

Crombie krächzte, und der Ton ließ keinerlei Zweifel daran, daß er dem Zentauren in schillerndster Weise ausmalte, in welche Körperöffnungen er sich ein solches Talent stecken könnte. Chesters Ohren liefen rot an.

»Das willst du ja erst noch feststellen«, erinnerte Bink ihn. »Im Augenblick ist Crombie alles, was wir haben. Ich glaube, daß es einen Schlüssel gibt, ich muß ihn nur rechtzeitig finden.« Er machte eine Pause, um einen weiteren Nickelfüßler aufzuspießen. Die Dinger starben nur langsam, aber sie griffen wenigstens nicht mehr an, nachdem man sie erst einmal aufgespießt hatte. Das konnten sie auch gar nicht, denn ihre Gefährten verspeisten sie auf der Stelle. Bald würden sie den Nickelfüßlern ihre ganze Aufmerksamkeit widmen müssen. »Crombie, wo gibt es hier etwas, das uns zeigen kann, wie wir hier herausfinden?«

»Das hast du schon einmal gefragt«, brummte Chester.

»Nein, ich habe die Worte etwas verändert. Zeigen ist nicht dasselbe wie –« Er unterbrach sich, um den Greif zu beobachten. Einen Augenblick lang sah es fast so aus, als würde sein Talent wieder funktionieren, doch dann schwankte sein Flügel wieder hin und her und gab es auf.

»Immerhin, langsam scheinen wir der Sache doch näher zu kommen«, meinte Bink, wenn es auch nicht überzeugend klang. »Crombie, wo gibt es hier etwas, das die Nickelfüßler

aufhalten wird?«

Crombies Flügel zeigte steil nach oben.

»Klar«, sagte Chester angewidert. »Die Sonne. Aber die versteckt sich hinter einer Wolke.«

»Wenigstens beweist das, daß sein Talent funktioniert.«

Wieder kamen sie an eine Gabelung. »Crombie, auf welchem Pfad treffen wir am schnellsten auf irgend etwas, das uns helfen kann?«

Der Flügel zeigte entschieden nach rechts. »He, es klappt ja!« höhnte Chester. »Wenn er nicht bloß schauspielert.«

Crombie stieß wieder ein übles Krächzen aus, das allein schon fast gereicht hätte, ein paar Nickelfüßler auf der Stelle zu verbrennen.

Doch nun wurde die Sonne von Wolken bedeckt, und die ganze Spalte versank im Schatten. Mit freudigem Geklicke und altgewohnter Gier kamen die Nickelfüßler näher. »Drache, nimm die rechte Abzweigung!« rief Bink. »Flamm sie frei und lauf! Gebrauch deine letzten Feuerreserven, wenn’s sein muß. Vor uns liegt etwas Gutes.« Hoffte er.

Der Drache stieß einen Flammenbolzen aus, der die Spalte vor ihnen in grelles Licht tauchte. Wieder quiekten die Nickelfüßler, als sie starben. Der Drache galoppierte über ihre kohlenden Kadaver hinweg und riß Bink, Chester und Crombie mit sich. Doch es war sehr ermüdend.

Vor ihnen glitzerte irgendetwas im Dunkeln. Bink wollte schon hoffnungsfroh losjubeln, als er erkannte, daß es nur ein Irrlicht war. Das war auch keine Hilfe.

Keine Hilfe? Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Das ist es!« schrie er. »Drache, folge dem Irrlicht!«

Trotz Chesters ungläubigem Wiehern gehorchte der Drache. Er schnaubte kein Feuer mehr aus, denn sein Ofen war beinahe erloschen, aber rennen konnte er noch ganz gewaltig. Das Irrlicht flackerte hin und her, wie Irrlichter das gerne taten. Es bewegte sich stets am Rande der Sichtbarkeit. Irrlichter waren die geborenen Hänsler. Der Drache wälzte sich weiter, Abzweigung um Abzweigung, völlig desorientiert – da kamen sie plötzlich in einem trockenen Flußbett heraus.

»Wir sind draußen!« rief Bink, der es selbst kaum glauben konnte. Doch in Sicherheit waren sie noch nicht, denn jetzt strömten die Nickelfüßler aus der Schlucht hervor.

Bink und Chester machten, daß sie vom Drachen herunter und aus der Wasserrinne heraus kamen, worauf sie sich plötzlich in der Asche einer alten Brandstelle wiederfanden. Crombie spreizte die Flügel und hob sich in den Himmel empor, wobei er einen Krächzer reinster Erleichterung ausstieß. Die Nickelfüßler verfolgten nicht einmal mehr den Drachen; denn erstens konnten sie nur sehr mühsam durch Asche trippeln, und zweitens konnten sie dabei von der rückkehrenden Sonne erwischt werden. Jetzt waren sie endlich in Sicherheit.

Japsend brach der Drache in einer Aschewolke zusammen. Bink schritt an seine Schnauze. »Drache, wir haben gut miteinander gekämpft, und du warst im Begriff zu gewinnen. Wir sind geflohen, du hast uns verfolgt, und wir saßen alle in der Spalte fest. Wir haben ein Fluchtabkommen getroffen, und du hast dich gut daran gehalten, genau wie wir auch. Dadurch, daß wir zusammengearbeitet haben, haben wir auch unser Leben gerettet. Jetzt wäre es mir lieber, du wärst unser Freund als unser Gegner. Wirst du unsere Freundschaft annehmen, bevor wir wieder auseinandergehen?«

Der Drache blickte ihn an. Schließlich senkte er die Nase in einer bejahenden Geste leicht nach vorn.

»Gut, bis zum nächsten Mal – Waidmannsheil!« sagte Bink. »Hier, wir können dir ein bißchen helfen. Crombie, wo gibt es hier eine gute Drachenbeute – irgend etwas, was selbst ein müder Drache noch erjagen kann?«

Crombie wirbelte in der Luft herum und zeigte im Sturzflug mit einem Flügel nach Norden. Da hörten sie auch schon, wie irgend etwas Großes wütend zappelte. Irgend etwas Dickes, Dummes, das vermutlich einem Schlingschlaufenbusch in die Falle gelaufen war und nun elendiglich verrecken würde, wenn es nicht von einem Drachen den Gnadenfeuerstoß erhielt.

»Waidmannsheil«, wiederholte Bink und tätschelte die lauwarme Kupfernase des Drachen. Dann wandte er sich ab, und der Drache kroch in Richtung Norden davon.

»Was sollte denn das?« fragte Chester leise. »Wir brauchen keine Drachenfreundschaft!«

»Ich wollte, daß hier Friede herrscht«, sagte Bink. »Das ist ein ganz besonderer Ort, wo alle Wesen Xanths miteinander in Frieden leben sollten.«

»Bist du verrückt geworden? Das ist eine Brandstelle!«

»Ich zeig’s dir«, sagte Bink. »Wir werden dem Irrlicht folgen.«

Das Irrlicht schwebte immer noch umher, weit genug entfernt, um nicht eingeholt werden zu können. »Hör mal, Bink«, protestierte Chester. »Mit diesem Irrlicht haben wir Glück gehabt – aber wir können es nicht riskieren, ihm weiter zu folgen. Es wird uns in die Vernichtung führen.«

»Dieses nicht«, sagte Bink und folgte ihm. Chester zuckte mit den Schultern, schlug mit dem Hinterhuf, als wollte er sagen: Was soll’s! und ging ihm hinterher. Crombie glitt hinab, um sich ihnen anzuschließen.

Kurz darauf hielt das Irrlicht an einem Glühstein an, der ein Grab markierte. Als sie sich ihm näherten, leuchteten darauf die Worte HERMAN DER EINSIEDLER auf.

»Onkel Herman!« rief Chester. »Soll das heißen, daß dies der Ort ist, an dem er –«

»… an dem er Xanth vor den Zapplern gerettet hat«, sagte Bink. »Indem er viele Wesen mit seinen Irrlichtern herbeigerufen und die Zappler schließlich mit einem Salamanderfeuer ausgebrannt hat. Er hat sein edles Leben dafür hingegeben und starb als Held. Ich wußte, daß das Irrlicht uns hierher führen würde, als ich die Brandstelle

erkannt hatte; denn du bist ein Verwandter von ihm, und die Irrlichter ehren sein Gedächtnis. Crombies Talent hat das Irrlicht geortet, und dann hat es –«

»Onkel Herman! Der Held!« sagte Chester, und sein Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck, den Bink noch nie an ihm gesehen hatte. Der kampflustige Zentaur war es nicht gewohnt, zarte Gefühle wie Verehrung und Respekt zu empfinden. Es schien fast, als erklänge plötzlich eine traurige Flötenmelodie, die Stimmung zu untermalen.

Bink und Crombie zogen sich zurück, um Chesters Meditation nicht zu stören. Bink stolperte über einen Erdhaufen, der einen Augenblick zuvor noch nicht dagewesen war, und wäre beinahe gefallen. Das war der einzige Wermutstropfen.