12. KAPITEL
Türen öffneten sich knallend auf beiden Straßenseiten, und Männer mit Keulen kamen aus den Gebäuden und Seitenstraßen gerannt, strömten auf die Hauptstraße und brüllten Dinge wie „Schnappt ihn euch!“, „Schneidet ihm den Weg ab!“, „Das Kopfgeld gehört mir!“ und „Lasst ihn nicht entkommen!“.
Fluchend wich Dayn einer Keule aus, wurde von einer weiteren an der Schulter getroffen und sprang auf die Straße. Er schwang sein Schwert in einem weiten Bogen, der seine Angreifer eher zurücktreiben als verletzen sollte. Seine Gedanken überschlugen sich und blieben immer wieder bei Diese verdammte Hexe und Was jetzt? hängen. Er war natürlich in der Unterzahl, aber er wollte die Dorfbewohner nicht umbringen. Er versuchte doch, sie zu retten, verdammt noch mal!
Er sah sich hektisch um, während er die Keulen mit der flachen Seite seines Schwertes abwehrte, und suchte nach einer Lücke, einem Ausweg, und fand …
„Jetzt!“, rief eine Stimme.
Zu spät sah er das Netz mit den schweren Gewichten daran, das auf ihn herabfiel und sich dabei ausbreitete.
„Verflucht und …“ Er wirbelte herum, um zu fliehen, aber das Netz traf ihn bereits und warf ihn zu Boden.
Mit einem Brüllen sprang er wieder auf und strauchelte im Kampf gegen die verworrenen Seile. Es gelang ihm, seinen Schwertarm zu befreien, er stieß zu und hörte einen Schmerzensschrei. Eine Sekunde lang wichen die Dorfbewohner zurück. Aber nicht für lange, sie hatten ihn schon wieder eingekreist, als er sich vom Netz befreite, zur Seite sprang und das Schwert schwang. Er tastete nach seiner Armbrust, doch die war verschwunden.
Er war umzingelt, aber die Dorfbewohner kamen nicht näher. Stattdessen zögerten sie und erhoben ihre Keulen, während sie brüllten und sich gegenseitig anstachelten. Eine Sekunde lang konnte er ihr Zögern nicht einordnen. Dann ging es ihm auf: Sie hatten Angst, dass er sich verwandeln würde, wussten nicht, dass er sich diesem Drang nur zweimal im Leben ergeben hatte und nicht vorhatte, es wieder zu tun. Teil des Versprechens an seinen Vater war gewesen, sein wahres Ich nicht zu vergessen, und das war nicht Wolfyn gewesen.
Mit rasendem Herzen beschwor er die Magie seines Blutes und ließ seine spitzen Fangzähne durchs Zahnfleisch brechen. Dann fletschte er die Zähne und brüllte den nächstgelegenen Dorfbewohner an, wie Keely gebrüllt hatte, wenn ihr Fell nicht richtig sitzen wollte.
Der Mann schrie auf und stolperte zurück, gegen den Mann hinter ihm. Sie fielen beide zu Boden, und drei weitere wichen zurück, als Dayn durch die schmale Lücke brach und auf den offenen Bereich dahinter zulief. Eine Sekunde lang glaubte er, es zu schaffen, aber dann sahen ihn die Männer am Rand der Menge kommen und schlossen ihre Reihen.
Mit einem lauten Zischen sauste ein Pfeil an den Männern vorbei und grub sich in das gegenüberliegende Gebäude. Sie schrien auf und wichen zurück, als ein zweites Geschoss dem Ersten folgte. Es zischte noch näher an ihnen vorbei, ehe es in einem Regenfass versank.
Dayn verschwendete keine Zeit auf die Frage, wer da geschossen hatte oder warum. Er senkte den Kopf und rannte, so schnell er konnte, zum nächstgelegenen Tor, das aus dem Dorf herausführte.
„Schließt das Tor!“, erhob sich hinter ihm ein Ruf, und vor ihm kletterten zwei Männer von einem klapprigen Wachturm hinunter, um zu gehorchen und das schwere Tor zu schließen, das auf schwerfälligen Rollen seitwärts fuhr.
Er würde es nicht schaffen.
Plötzlich ertönte Hufgetrappel hinter ihm, und eine vertraute Stimme rief: „Dayn!“
Und sein Herz. Blieb. Stehen.
Sein Körper wollte weiterrennen, während er über die Schulter zurücksah, aber der Rest von ihm erstarrte. Reda kam auf einem braunen Pferd mit weißer Blesse auf ihn zugaloppiert. Sie trug zum Teil noch die Kleider, in denen er sie zuletzt gesehen hatte, und zum Teil Kleidungsstücke im Stil von Elden, unter anderem eng anliegende Hosen und Stiefel, die normalerweise von der Kavallerie oder der Elite-Wache getragen wurden. Sie waren alt, aber die königlichen Farben seines eigenen Hauses leuchteten noch deutlich.
„Reda“, flüsterte er durch eine Kehle, die durch die Mischung aus Freude und Verzweiflung plötzlich wie ausgedörrt war. „Bei allen Göttern …“
Die Dorfbewohner verstreuten sich wie Blätter im Wind, als sie auf ihn zuhielt. Sie lenkte das Pferd mit ihren Schenkeln und ihrem Gewicht, während sie einen weiteren Pfeil in den eleganten Compound-Bogen einlegte und fliegen ließ. Das Geschoss blieb im Tor stecken, kaum eine Handbreit von den Männern entfernt, die sich bemühten, es zu schließen. Die zwei schrien auf, warfen einen einzigen Blick auf Reda und duckten sich in Sicherheit. Das Tor blieb halb geöffnet und unbewacht zurück.
„Festhalten!“ Reda holte Dayn ein, reichte ihm die Hand, und als er sie ergriff, benutzte sie den Schwung ihres Pferdes, um ihn hinter sich zu ziehen.
Es war ein vertrautes Manöver, das er schon hundertmal mit Nicolai durchgeführt hatte, und manchmal auch mit seinem Vater. Aber der Braune wieherte und scheute bei der plötzlichen Bewegung, er strauchelte und streckte dann seine Hinterbeine, als er zu einem panischen Galopp beschleunigte. Dayn lag ungelenk über dem Hinterteil des Pferdes und wurde mit jedem Schritt durchgeschüttelt.
„He!“ Reda wollte die Zügel straff ziehen, aber dann blickte sie zu den Dorfbewohnern zurück, überlegte es sich anders und schrie: „Halt dich gut fest!“
Dayn tat sein Bestes und hielt sich gut an den leeren Schnallen für die Bettrolle fest, die hinten an dem alten und abgegriffenen Kavallerie-Sattel hingen. Reda ritt das Aufbäumen aus und steuerte das völlig verängstigte Tier durch das Dorftor und auf die Hauptstraße hinaus, wo sie fast eine Meile galoppierten, ehe es müde wurde und erst in einen leichteren Galopp und dann in rüttelnden Trab verfiel.
Doch das Pferd war immer noch aufgebracht und unruhig und weigerte sich, stehen zu bleiben, bis Reda nichts anderes übrig blieb, als es im Kreis zu führen, damit Dayn hinabgleiten konnte. Das Tier trat aus und wich zurück, aber sie brachte es nach ein paar schnaufenden Drehungen wieder unter Kontrolle. Endlich beruhigte es sich langsam und pustete dabei weiße Schaumfetzen auf Dayn.
Der einfach nur auf der Straße stehen und starren konnte.
Auch Reda sagte kein Wort, sondern sah ihn nur mit einem kühlen Ausdruck an, der ihm nichts verriet. Nach einem Augenblick hob sie ihr Kinn, als wolle sie sagen: Und?
„Du kannst reiten“, sagte er, was furchtbar dämlich war, weil das ja gerade wirklich nicht der wesentliche Punkt war. Aber sie hoch zu Pferde zu sehen, eine Waffe aus ihrer eigenen Welt in der Hand und Kleider aus den anderen beiden am Leib, hatte seine Wahrnehmung verändert, ihn verstört und das Bild von großen verängstigten blauen Augen verdrängt.
„Ich habe als Kind Reitunterricht gehabt und im College manchmal Polo gespielt.“ Sie hielt inne. „Reiten und Bogenschießen, näher konnte ich dem Leben wie im Märchen in meiner Welt nicht kommen. Bis jetzt.“
Er hatte sich selbst einzureden versucht, dass er sie in diesem gefallenen Königreich gar nicht haben wollte, dass er es nicht fertigbringen würde, sie zu beschützen und gleichzeitig seine Pflicht zu tun. Aber jetzt, da sie hier war, wirklich hier, wollte er auf die Knie fallen und den Göttern und der Magie danken, wollte ihre Stiefelspitzen küssen und von dort aus weiter nach oben wandern, und er wollte, dass es irgendwie zwischen ihnen wieder gut wurde. Denn sie war bei ihm.
Sein Königreich war ein Ödland, Moragh hatte die Dorfbewohner anscheinend gegen ihn aufgebracht und ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, seine Geschwister waren nirgendwo zu sehen, und wenn man bedachte, wie viel Energie dem Land entzogen worden war, musste die Macht des Blutmagiers grenzenlos sein.
Trotzdem erwachte plötzlich eine unbändige Freude in seinem Herzen, während er einfach dastand und diese Frau ansah, die den Geschichten seiner eigenen Kindheit zu entstammen schien – eine Göttin der Jagd vielleicht oder eine Schutzpatronin der königlichen Elite-Kavallerie. Gleichzeitig war sie aber auch noch seine Reda, die er in der Welt der Wolfyn kennengelernt hatte, die er geliebt hatte, die ihm etwas bedeutete und die er bis zur Besinnungslosigkeit begehrte.
Seine Kehle zog sich zusammen, seine Stimme klang rau vor Emotionen. „Du hast den Zauber für Elden benutzt.“
Doch sie schüttelte den Kopf. „Man hat mich hergeschickt.“
Sein Blut kühlte sich etwas ab. „Aber wie …?“
„Dein Vater. Jedenfalls glaube ich, dass er es war. Er hat mich in eine Zwischenwelt gezogen und mir erklärt, dass ich dir noch dabei helfen muss, zur Burg zu kommen und dein wahres Selbst zu erkennen. Wenn ich das tue, kann ich wirklich nach Hause.“
„Ich weiß, was ich bin und was ich sein muss – ein Prinz von Elden, mit allem, was dazugehört.“ Er hielt inne und rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. „Warum hat er dich mit der Nachricht hergeschickt? Warum hat er nicht einfach mit mir geredet, als ich selbst im Vortex war?“
Sie sah an ihm vorbei. „Ich habe da eine Theorie. Ich bin vor ein paar Stunden hergekommen, habe MacEvoy hier gekauft“, sie zeigte auf den Braunen, der sich immerhin so weit beruhigt hatte, dass er nur noch mit den Augen rollte, „und Kleider, auf denen in nicht ganz so riesigen Buchstaben ‚Fremde‘ geschrieben steht. Und dann … ich weiß auch nicht. Ich bin einfach losgeritten. Und dabei hatte ich Zeit, nachzudenken.“
Er versuchte immer noch, sich an ihre plötzliche Veränderung zu gewöhnen. Die Angst war verschwunden – oder zumindest so weit begraben, dass er sie nicht mehr sehen konnte. Mehr noch, sie kam ihm ruhig und kompetent vor, steuerte automatisch ihr Pferd mit einer Berührung hier, einer Gewichtsverlagerung dort, und sie trug ihren Bogen so selbstverständlich auf dem Rücken, als wäre er für sie gemacht. Die Wache der Königin wäre stolz, eine Frau wie sie zu ihren Reihen zu zählen. Und ein Königreich, das wieder aufgebaut werden musste, konnte es auch schlechter treffen.
Langsam, sagte er zu sich. Er war sich nur zu sehr bewusst, dass ihre ganze Beziehung sich quasi im Galopp entwickelt hatte, und ein einziger Fehltritt bei so hoher Geschwindigkeit konnte fatale Folgen haben. „Deine Theorie?“, fragte er nach, als sie nicht weitersprach.
Sie sah ihm in die Augen und sagte: „Ich glaube, ich bin eine Prüfung.“
„Eine … oh.“ Er starrte sie an. „Nein. Das ist unmöglich.“
„Ist es das?“ Sie nahm die Zügel in eine Hand, verschränkte die Arme und sah ihn einfach nur an.
Nein, es war nicht unmöglich, und das wussten sie beide. Mehr noch, es ergab auf grausame Weise Sinn. Er sollte sich an seine Prioritäten erinnern und sein wahres Selbst erkennen. Die Stimme, die zu ihm gekommen war, als er über seinem Körper schwebte, hatte ein Opfer von ihm gefordert, damit er noch eine Chance erhielt. Vielleicht versuchten ja auch die Magie – und sein Vater –, ihm die Lektionen beizubringen, die er noch nicht gelernt hatte. Die Lektionen, die er für Elden meistern musste. Konzentration. Hingabe. Disziplin. Demut.
Bei allen Göttern, nein. Nicht so. Er wollte sich bei ihr entschuldigen, bei ihr sein. Ihre gemeinsame Zeit war für ihn ein Lichtblick gewesen, nicht nur in den letzten zwei Jahrzehnten, sondern in seinem Leben. Bei ihr war er ein Mann gewesen, ein Individuum, ein Liebhaber, ein Partner.
Opferbereitschaft.
Mit langsamen Bewegungen, ein Auge immer auf das Pferd gerichtet, ging er auf sie zu. Der Braune bäumte sich halb auf, beruhigte sich dann aber und blieb stehen. Er blähte seine Nüstern, als Dayn näher trat, nahe genug, um Redas Bein zu berühren, auch wenn er das nicht tat.
Er war sich nur zu bewusst, wie ihre angespannten Muskeln sich unter den Kavallerie-Hosen rundeten, und er sah deutlich das eingeprägte königliche Wappen am Schaft ihres Stiefels. Es war durchschnitten worden als Zeichen, dass es jetzt Teil einer Rebellion war, irgendeiner Art organisierten Widerstandes. Und tief in ihm, wo die Magie der Wolfyn sich regte, verspürte er Erregung und Befriedigung darüber, dass sie die Farben seiner Familie trug. Er wollte sie in feine Seide in den gleichen Farben hüllen, wollte den glatten Stoff über ihren ganzen Körper streichen und dann den gleichen Pfad mit seinen Händen und Lippen nachfahren. Er hatte noch nicht einmal angefangen, ihren Verlust zu verarbeiten, und konnte ihre Rückkehr kaum begreifen.
Aber bei allen Göttern und dem Abgrund, sie konnte recht damit haben, dass es eine Prüfung war. Vielleicht sollte er durch sie beweisen, dass er seine Lektion gelernt hatte. Vielleicht war sie auch eine Erinnerung daran, dass Elden ihn brauchte – sie beide brauchte – und dass sie ihre Pflicht tun und in ihren Rollen bleiben mussten, egal was ihre Gefühle sagten.
Außerdem … was sagten ihre Gefühle überhaupt? Er konnte ihre reservierte, teilnahmslose Maske nicht durchdringen. Ihre Miene schien zu sagen: Jetzt weißt du, was los ist. Was wirst du deswegen unternehmen? Er kannte diesen Ausdruck von den Elite-Soldaten seines Vaters und nahm an, dass sie ihn sich bei der menschlichen Polizei angeeignet hatte. Sie betonte damit nicht nur ihr neues Selbstbewusstsein – oder, wie er vermutete, das Aufbrechen eines tief verwurzelten Selbstbewusstseins, das schon die ganze Zeit in ihr gewesen war –, sondern auch, dass sie noch ein Leben neben ihm hatte und eigene Pflichten.
Als er sie gebeten hatte, mit ihm zu kommen, war er so versessen darauf gewesen, dass ihr Galopp nicht endete, so darauf konzentriert, zu bekommen, was er am meisten wollte, dass er nicht bedacht hatte, was sie außerhalb ihrer Zweisamkeit wollte und brauchte. Darüber hinaus hatte er sie belogen – zwar nur indirekt, indem er etwas verschwiegen hatte, aber wenn man bedachte, worum es ging, war auch das ein schweres Vergehen. Er hatte nicht einmal in Betracht gezogen, es ihr zu erzählen. Genau wie er Keely sein Bluttrinken verschwiegen hatte, hatte er auch Reda vollkommen im Dunkeln darüber lassen wollen, dass der Zauber-Fluch ihn in seine eigene Beute verwandelt hatte.
Verdammter Mist. Er war lange nicht so erwachsen geworden, wie er gern geglaubt hätte.
Ihm war bewusst, dass sein Schweigen schon viel zu lange andauerte, und er versuchte, die richtigen Worte zu finden, aber er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Oder ob er es überhaupt versuchen sollte.
Doch, er musste es versuchen. Das war er seiner Ehre schuldig und auch ihr.
Er berührte ihr Knie, legte seine Finger um Muskel und Knochen. Er wollte sie damit nicht anmachen, vielmehr hoffte er, seine Berührung würde ihr seine Ernsthaftigkeit deutlich machen und die zarte emotionale Verbindung aufleben lassen, die er ein- oder zweimal zu ihr gespürt hatte.
„Ich habe mich im Eifer des Gefechts vergessen und dabei meine Ehre aus den Augen verloren – und auch dein Recht, dass ich zu dir so ehrlich bin, wie du zu mir gewesen bist. Dafür schäme ich mich.“ Er schloss seine Finger fester um ihr Knie. „Bei den Göttern, Reda, es tut mir leid.“
Sie wurde einen Augenblick lang bleich und ihre Miene ernst, aber dann wurde sie tiefrot und in ihre Augen trat ein gefährliches Funkeln. Sie lehnte sich vor, schlug seinen Arm von sich und zischte: „Es tut dir leid? Du hast mich verzaubert, du elender Bastard.“
Er war wie vom Donner gerührt. „Ich …“
„Wage es ja nicht, das zu leugnen. Ich kenne mich vielleicht mit Magie nicht aus, aber ich habe eine gute Vorstellung davon, wie sich eine Gehirnwäsche anfühlt.“ Sie richtete sich in ihrem Sattel auf und zog leicht am Zaumzeug, um den Braunen zu beruhigen, der wieder hochgeschreckt war, mit den Hufen scharrte und seinen Kopf hin und her warf, während seine Ohren vor- und zurückzuckten. „Als ich bei dir war, war mir nichts anderes mehr wichtig. Es war mir egal, wo wir waren oder was wir gemacht haben, nicht einmal, was um uns herum vor sich ging, war noch wichtig. Ich hätte alles getan, was du von mir verlangst.“ Sie funkelte ihn durch einen Tränenschleier hindurch wütend an. „Alles, verdammt. ‚Es tut mir leid‘ reicht da nicht einmal ansatzweise.“
Ihre Worte trafen ihn tief, und er wünschte sich nichts mehr, als dass er als einfacher Mann geboren wäre, in ein einfaches Leben. Er wünschte, er hätte sie eines Tages auf der Straße getroffen, ohne das ganze Chaos, das ihre Begegnung mit sich gebracht hatte. Aber genau diese Denkweise hatte ihn schon einmal in Schwierigkeiten gebracht, nicht wahr?
Einen Augenblick lang überlegte er sogar, ob es nicht das Beste wäre, sie glauben zu lassen, dass er sie in seinen Bann gezogen hatte. Vielleicht wäre es besser, wenn sie ihn hasste. Zu wissen, dass sie die gleiche verrückte Zielstrebigkeit empfand wie er, oder zumindest empfunden hatte, und dass auch ihre Welt sich nur noch um ihn gedreht hatte, entfachte in ihm den Wunsch, sie aus dem Sattel zu ziehen, festzuhalten, zu küssen, auf sie einzureden, bis sie bereit war, ihm – ihnen – noch eine zweite Chance zu geben.
Aber er konnte nicht. Er konnte einfach nicht. Er konnte nicht noch eine Lüge zwischen ihnen stehen lassen.
„Es gab keinen Zauber, keinen Bann.“ Er presste sich die Hand auf die Brust, dort, wo sie immer so gern ihre Handfläche abgelegt und seinen Herzschlag gespürt hatte. „Ich schwöre es bei meiner Seele.“
Sie kniff die Augen zusammen. „Es muss einen gegeben haben.“
„Hat es nicht.“ Den Eid wiederholte er nicht. Sie würde ihm entweder glauben oder nicht. Hab Vertrauen, drängte er sie innerlich. Du kennst mich. Aber kannte sie ihn gut genug, um ihm zu glauben?
Einen Augenblick lang sagte sie gar nichts. Er konnte fast auf ihrem Gesicht ablesen, welche Schlacht sie innerlich austrug. Sie wollte ihm glauben, hatte aber kein Vertrauen mehr in ihn oder sich selbst, wusste nicht mehr, was wirklich war und was nicht – nicht draußen in den Welten, sondern in sich.
Er kannte sie. Er verstand sie. Und bei allen Göttern, er wollte, dass sie ihm vertraute. Beim Abgrund, er wollte sie einfach. Es war so ein Durcheinander, er war durcheinander.
Endlich fragte sie: „Könntest du mich verzaubert haben, ohne es zu wissen, ohne dass du es wolltest?“ Sie sah verzweifelt hoffnungsvoll aus, als wüsste auch sie, dass es einfacher wäre, wenn sie zerstritten waren.
Oder vielleicht sah er einfach nur, was er sehen wollte.
„Ich habe das Wolfsschlaf gekaut, um die Magie der Wolfyn zu unterdrücken.“ Keely zu benutzen, hatte ebenfalls dabei geholfen, seine Gelüste zu unterdrücken, aber das behielt er wirklich besser für sich. „Was du gesehen hast, war erst meine zweite Verwandlung. Ich habe den Drang in mir kontrolliert, damit ich nie vergesse, wer ich bin und auf was ich warte.“
„Und jetzt?“ Sie sah sich nach den Bäumen auf beiden Seiten der Straße um. „Ich sehe hier keine Wolfsschlaf-Bäume.“
„Die Magie funktioniert in den Königreichen anders. Ich müsste mich hier anstrengen, um mich zu verwandeln. Und das habe ich nicht vor. Alle Nachrichten, die ich aus der Geisterwelt erhalten habe, sagen, dass ich mir selbst treu sein muss, wenn ich eine Chance gegen den Magier haben will. Und das bedeutet, der Magie der Wolfyn fernzubleiben.“
„Und doch hast du dich am Bogen von Meriden verwandelt.“
Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht lesen und wusste nicht, was sie von ihm hören wollte. Sein Verstand riet ihm, die Sache auf sich beruhen zu lassen, aber er entschied sich stattdessen für die reine Wahrheit. „Du warst in Gefahr, und mir blieb keine andere Wahl.“
„Du …“ Sie verstummte und schüttelte dann den Kopf. „Vergiss es. Und danke. Dafür, dass du mir das Leben gerettet hast.“
Er nickte, sagte aber nichts. Sie wussten beide, dass er dabei die Zukunft seines ganzen Königreiches aufs Spiel gesetzt hatte. Und was für ein Prinz war er damit?
Sie atmete aus und nickte, als hätten sie sich geeinigt. „Gut. Okay. Also dann. Wir sollten uns auf den Weg machen, ehe die Dorfbewohner ihre Fackeln und Heugabeln holen und uns hinterherjagen.“ Sie löste ihren Fuß aus dem Steigbügel und rutschte im Sattel vor, um ihm hinter sich Platz zu machen. „Ich würde dich lenken lassen, aber ich glaube, MacEvoy mag dich nicht.“
„Er kann vielleicht die Magie der Wolfyn spüren.“ Was ziemlich deprimierend war, denn wenn er sich auf eine Sache in Elden wirklich gefreut hatte, dann, wieder auf einem Biestjäger zu reiten.
Sie sagte nichts, aber ihr Blick zeigte Mitgefühl, als sie die Zügel in einer Hand fester hielt und ihm die andere entgegenstreckte.
Er zögerte einen Augenblick und wünschte sich, er könnte etwas sagen, was das Wirrwarr auflöste, in dem sie sich befanden, zusammen und doch wieder nicht, und inmitten so viel Verwirrung. Doch er fand die passenden Worte nicht. Wahrscheinlich gab es sie nicht.
Er atmete aus, nahm Redas Hand und schwang sich hinter ihr aufs Pferd, allerdings weit hinten in den Sattel, und er hielt sich am hinteren Sattelknopf fest, um die Balance zu halten, statt sich fest an sie zu schmiegen, wie er es gern getan hätte. Als sie in die ersten roten Strahlen des Sonnenuntergangs ritten, herrschte zwischen ihnen nur Schweigen. Sie hatten schließlich alles gesagt, was zu sagen war. Jetzt gab es Aufgaben zu erledigen.
Und das ist ganz schön beschissen, dachte er bei sich. Aber plötzlich fielen ihm die menschlichen Sprüche nicht mehr so leicht wie vorher, als wären die letzten zwanzig Jahre ausgelöscht, jetzt, da er wieder in seiner Heimat war.
Die Vorstellung war verdammt beunruhigend. Schlimmer noch, auch die letzten drei Tage erschienen ihm plötzlich ein wenig weiter entfernt und unwirklich, als gehörten sie zu jemand anderen, zu einem anderen Leben. Es war, als wäre Reda bereits fort, als würde er vergessen, was sie gemeinsam erlebt hatten, obwohl sie nur ein kurzes Stück von ihm entfernt saß.
„Wir machen uns“, sagte Reda später in der Nacht, als sie in der zusammenfaltbaren Schüssel stocherte, die sie an einem Dreibein über einem kleinen Feuer aufgehängt hatte. „Diese Höhle ist viel schöner als die Letzte. Hier gibt es sogar ein paar Haushaltsgeräte.“
„Heute die Höhle und morgen die Burg, so die Götter es wollen“, sagte Dayn vom hinteren Teil des Raumes, wo er aus den Überbleibseln eines großen Tores ein kleines Pferdegatter zusammenschusterte.
Die riesige Höhle hatte einst einer Bande Gesetzloser als Unterschlupf gedient, die Dayn und eine Abteilung Wachen kurz vor dem Angriff des Magiers aufgespürt und festgenommen hatten. In der Nähe floss ein kleiner Bach, und auf dem Boden verstreut lagen einige nützliche Gegenstände, die den Plünderern bisher entgangen waren. Drei Ausgänge führten sie an verschiedene Stellen des Waldes, und auch das braune Pferd konnte darin unterkommen. Reda nannte das Tier immer noch MacEvoy, nach dem Ladenbesitzer, weil es anfangs eine fast zugedröhnt wirkende Ruhe gezeigt hatte. Damit war es allerdings vorbei, seit es Dayn das erste Mal gesehen hatte.
Das Pferd war zu müde und hungrig, um in völlige Panik zu verfallen, und es hatte sich schon ein bisschen daran gewöhnt, einen Wolfyn auf seinem Rücken zu tragen. Doch auch, während es den Reiseproviant verschlang, den sein Verkäufer zusammen mit dem Zaumzeug und den Kleidern eingepackt hatte, behielt es seine angstgeweiteten Augen auf Dayn gerichtet.
Kein Wunder, dass es in der Welt der Wolfyn keine normalen Pferde gab. Sie waren wahrscheinlich alle vor Angst gestorben oder gefressen worden. Oder beides.
Reda schauderte bei dem Gedanken und dem knirschenden Schlurfen, das dabei in ihrem Kopf widerhallte. Sie sah zu Dayn hinüber und erwischte ihn dabei, wie er sie ansah.
Sie zuckten beide zusammen und wandten sich wieder ihren Aufgaben zu, aber die angespannte Atmosphäre zwischen ihnen wurde noch ein wenig angespannter, so wie sie es Stück für Stück getan hatte, seit er sich hinter sie auf das Pferd gewuchtet und sein Bestes getan hatte, damit ihre Körper sich nicht berührten.
War es möglich, gleichzeitig im Himmel und in der Hölle zu sein, oder wie man es in dieser Welt nennen mochte? Anscheinend schon, denn genau dort war sie gerade.
Ein Teil von ihr, der idiotische Teil, sonnte sich darin, ihn so spektakulär gerettet und jetzt unmittelbar bei sich zu haben. Dieser Teil erinnerte sie ständig daran, dass sie die letzten zwei Nächte damit verbracht hatten, sich abwechselnd genüsslich zu lieben und um den Verstand zu vögeln, beides gleich befriedigend, und er zeigte ihr ohne Unterlass immer erotischere Erinnerungen, je länger die Nacht voranschritt. Diese sinnlichen Szenen waren die reinste Folter und sorgten dafür, dass ihr Inneres sich wie geschmolzene Lava anfühlte. Jedes Mal, wenn sie Dayn ansah, zog es sehnsüchtig zwischen ihren Beinen, und sie fand, dass es schon fast an der Zeit war, sich in ihre Bettrollen zurückzuziehen.
Ein anderer Teil von ihr allerdings fand, dass es besser für sie wäre, draußen in der kühlen nebligen Nacht zu schlafen. Dieser Teil von ihr war sich den angstgeweiteten Augen und angelegten Ohren von MacEvoy nur zu bewusst und fand, dass sie auf die Instinkte des Pferds hören und sich von ihm fernhalten sollte – immerhin war es ein Beutetier.
„Der Eintopf ist fast so weit.“ Sie stocherte nach einem Klumpen rehydriertem Fleisch, das in einer braunen Soße schwamm, die sehr unappetitlich aussah, aber köstlich roch.
„Ich muss nur noch die letzten drei Balken befestigen.“
Sie spähte noch einmal heimlich nach ihm. Dieses Mal drehte er ihr den Rücken zu. Das verschaffte ihr ein paar Sekunden, in denen sie seine breiten Schultern anstarren konnte, während er die letzten Planken an die richtige Stelle setzte und sie mit dem abgewetzten Seil befestigte, das er gefunden hatte. Das karierte Hemd, das sie ihm ein Dutzend Mal an einem Dutzend verschiedenen Orten ausgezogen hatte, legte sich beinahe zärtlich um seine Muskeln. Es erinnerte sie daran, wie es sich angefühlt hatte, mit den Händen über seinen Körper zu fahren, wie seine Haut schmeckte und wie er instinktiv zu wissen schien, wie er sie berühren musste, als könnte er wirklich ihre Gedanken lesen, auch wenn er behauptete, es nicht zu können.
Sie wollte ihm glauben, genau wie sie ihm glauben wollte, dass er sie nicht verzaubert hatte … Aber ohne diese Entschuldigung müsste sie zugeben, dass sie alles aus freiem Willen getan hatte und dass sie sich schnell und heftig in einen Märchenprinzen verliebt hatte, der sich als viel komplizierter herausstellte, als sie es je vermutet hätte.
Als er fertig war, überprüfte er den ganzen Verschlag noch einmal, während MacEvoy jede seiner Bewegungen verfolgte. Dann duckte Dayn sich zufrieden unter dem Gatter hindurch und ging zu ihr ans Feuer.
Reda wandte sich schnell ab und konzentrierte sich darauf, den Eintopf umzurühren, der durch das Rühren auch nicht besser oder schlechter wurde. Ihre Hände zitterten, und ihr Innerstes loderte vor Wärme und Verlangen. Sie wollte nicht mit einem Wolfyn, einem Lügner oder einem Manipulator zusammen sein, aber sie wollte bei Dayn sein. Und sie konnte nicht alles haben.
Maman, was soll ich nur tun? Die Frage kam ihr ungewollt. Sie hatte schon lange damit aufgehört, den Geist ihrer Mutter um Rat zu fragen. Doch noch während sie sich selbst tadelte, dass sie sich nicht lächerlich machen sollte, lauschte sie ein paar Sekunden in sich hinein und hoffte. Denn wenn sie wirklich einen Teil Magie in sich trug, vielleicht, nur vielleicht …?
Doch eine Antwort bekam sie nicht. Und als Dayn sich nah, zu nah, zu ihr herabbeugte und den halben Eintopf in einen großen Zinnbecher goss, den er gefunden und im Bach ausgewaschen hatte, stockte ihr der Atem, und ihr Inneres zog sich sehnsüchtig zusammen. Aber gleichzeitig stiegen ihr unerwartet Tränen in die Augen, und sie musste so fest blinzeln, dass das Feuer zu verschwimmen schien, als eine neue Erkenntnis in ihr Gestalt annahm.
Sie hatte ihre maman und Benz verloren. Und morgen würde sie auf die eine oder andere Weise auch Dayn verlieren. Was würde sie mehr bereuen: heute Nacht bei ihm zu sein … oder nicht?
„Reda“, sagte er mit erstickter Stimme, „bei allen Göttern, rede mit mir.“ Sein rauer Ton ließ sie den Kopf heben, und das Smaragdgrün seiner Augen zog sie in seinen Bann.
Sie wollte sich in diesen Augen verlieren, in seinen Küssen, in der warmen Kraft seiner Arme. Aber was dann? fragte die Logik, und leider hatte sie recht damit. Denn wenn sie sich heute Nacht liebten, obwohl sie wusste, was er war und dass er sie belogen hatte, würde sie immer wissen, dass sie nachgegeben hatte, dass sie sich verführen ließ, ganz ohne Zauber.
„Ich kann nicht“, sagte sie mit bebender Stimme und lehnte damit nicht nur ein Gespräch mit ihm ab, sondern alles.
Sein Blick trübte sich, aber er drängte sie nicht. Er nickte nur, stand auf und nahm seinen Eintopf mit an den Rand des Gatters, wo er sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt hinsetzte und den Blick auf den Höhleneingang richtete, nicht auf sie. Trotzdem war er sich ihrer bewusst, das merkte sie, genau, wie sie sich die ganze Nacht nur auf ihn konzentrieren konnte.
Sie fühlte genau, wie er aß und dann einige Schlucke aus der Wasserhaut nahm, die er während der Arbeit neben dem Gatter abgelegt hatte. Sie wusste, wann er seinen Becher hinstellte, seine Beine ausstreckte, seinen großen Körper mit einem leisen Seufzen umdrehte und sich zum Schlafen hinlegte. Sie merkte auch, dass er wachsam blieb, jederzeit bereit, in Sekundenschnelle zu reagieren. Er schloss die Augen, schlief aber nicht sofort ein. Sie wusste, dass er noch wach war, weil sie seine kaum merklichen Reaktionen wahrnahm, während sie das Feuer zusammenkehrte und sich in eine Bettrolle legte, auf der sein Familienwappen prangte. Sie bemerkte ein schwaches Funkeln, als er ein Auge öffnete, um sie zu beobachten.
Ihr Herz riet ihr, zu ihm zu gehen, aber ihr Kopf sagte, dass sie standhaft bleiben und der Versuchung widerstehen musste, sonst würde sie es in Zukunft bereuen. Sie wollte aber noch nicht an die Zukunft denken. Lieber wollte sie die letzten zwei Nächte mit einer weiteren Nacht wieder aufleben lassen. Doch letztendlich schloss sie einfach die Augen und hörte dem Prasseln des Feuers zu, weil sie nicht den Mut hatte, sich zu nehmen, was sie wollte, solange sie noch so viel zu klären hatten.
Heute war sie zwar seine mutige Retterin hoch zu Ross gewesen, aber was den Rest anging, war sie immer noch ein Feigling.