5. KAPITEL
Weiche Wärme an seinen Lippen. Seidige Hitze auf seiner Zunge. Gewürze und Blumen. Kurven. Die Empfindungen stürzten auf Dayn ein. Vorbei war es mit aller Zurückhaltung und Selbstbeherrschung. Er konnte nur noch handeln und reagieren, nicht mehr denken oder planen.
Mit einem leisen Stöhnen tief in seiner Kehle drängte er sie zurück gegen den Baumstamm, bis ihre Körper sich aneinanderrieben, gegeneinander gepresst waren, sich von Knie bis Brust berührten. Er legte ihr die Hände ans Gesicht und brauchte den letzten Rest seiner Willenskraft, um sie dort zu halten, denn er wusste, wenn er sie berührte – richtig berührte, wie er es so dringend wollte –, wäre er endgültig verloren. Auch wenn er in diesem Augenblick nicht hätte sagen können, was daran so schlimm sein sollte.
Es war zwei Jahrzehnte her, dass er eine Frau so gehalten hatte, ohne dazu gezwungen zu sein. Zwei Jahrzehnte waren vergangen, seit er ein Brennen gespürt hatte, das über das Körperliche hinausging. Aber jetzt, als ihre Zungen sich berührten und umeinanderglitten, als sein ganzer Körper sich anspannte, war ihm, als küsste er nicht nur eine Frau. Er küsste einen Traum, von dem er bisher noch nicht gewusst hatte, dass er ihn träumte.
Sie hielt sich für einen Feigling, und doch war sie in ihrem Herzen so stark. Sie hatte jemanden verloren, der ihr nahegestanden hatte, und gab sich selbst die Schuld dafür. Und sie verstand nicht – konnte nicht verstehen –, wie sehr er das nachvollziehen konnte. Er wusste nicht, ob die Trauer und die Schuldgefühle, die in ihrem Kuss lagen, von ihm oder von ihr kamen, aber diese Gefühle ließen nach, je heißer es zwischen ihnen wurde. Und zum ersten Mal seit langer, so langer Zeit fühlte er sich nicht allein.
Warme Haut unter seinen Händen. Drängende Finger an seiner Taille, seinem Rücken, seinen Schultern, in seinen Haaren. Ein laut klopfendes Herz. Angespannte Muskeln. Ein Hauch von Magie und Mondlicht, und …
„Beim Abgrund.“ Er beendete den Kuss und legte seine Stirn gegen ihre. „Wir dürfen das jetzt nicht tun.“ Prioritäten.
Sie atmete genauso schwer wie er, und ihre Finger schlossen sich fest um seine Handgelenke, aber sie nickte. „Ja.“ Und keiner von ihnen erwähnte das „jetzt“ oder dass es ihnen die Option auf „später“ ließ.
Er trat einen Schritt zurück und zwang sich, sie nicht noch einmal zu berühren. „Wir gehen zuerst zu Candida. Sie hat ein paar Dinge, die ich mitnehmen möchte.“ Zum Beispiel das Gift, das sie für den Magier hergestellt hatte, und vielleicht ein oder zwei Tricks, die ihm dabei helfen konnten, Reda zu beschützen. Denn auch wenn sie nicht seine oberste Priorität sein konnte, war er doch auf jeden Fall verantwortlich für sie.
Der Gedanke stand im Widerspruch zu dem Versprechen, das er dem Geist seines Vaters geleistet hatte, aber das beunruhigte ihn nicht. Er war dorthin unterwegs, wo er sein sollte, mit der Frau, die ihm als Führerin bestimmt war. Und wenn er Elden erreicht hatte, würde er allein weitermachen.
Sie brachen auf, immer den Pfad entlang.
Die kalte mondbeschienene Nacht war jetzt still, das Rudel schien weitergezogen zu sein. Reda hielt leicht mit ihm Schritt, auch wenn sie drei Schritte machen musste, wo er nur zwei brauchte. Er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, worum er Candida bitten wollte und welchen Weg sie am besten einschlugen, um den Bogen von Meriden sicher zu erreichen. Er wollte den Rudeln, durch deren Territorien sie wandern mussten, dabei nicht in die Quere kommen. Dennoch kehrten seine Gedanken immer wieder zu der Frau an seiner Seite zurück.
Als junger Mann in Elden hatte er sich zu den Frauen der königlichen Leibwache hingezogen gefühlt und zu den selbstbewussten Töchtern der Wachen, die selbst mit Waffen umgehen konnten, so wie Twilla. Und in der Welt der Wolfyn hatte er die meiste Zeit mit Keely und Candida verbracht – beide Alpha-Wölfinnen und starke Anführerinnen. Nicht die Art Frau, die weinte oder sich ihre Ängste eingestand. Reda dagegen trug ihre Gefühle offen zur Schau, ohne sich zu verstellen.
Doch seltsamerweise hatte er nicht vor ihr zurückweichen wollen, als sie geweint hatte, und war auch nicht ungeduldig geworden. Zum einen lag es wohl daran, dass er verstand, wie es war, aus der eigenen Welt gerissen zu werden, sich verloren zu fühlen. Und er kannte auch das Gefühl, einen geliebten Menschen im Stich gelassen zu haben. Aber zum anderen … das war nicht so klar in Worte zu fassen. Er hatte sie halten wollen, sie trösten, sie beschützen, sie küssen. Und jetzt, da er wusste, wie sie schmeckte, und da er wusste, wie sexy ihr Seufzen klang, wenn sie sich küssten, wollte er all das und noch mehr.
Bei dem Gedanken daran wurde ihm warm, und sein Zahnfleisch fing an zu jucken, wo seine Fangzähne hervorspringen wollten.
Dieses Mal war die Reaktion noch beunruhigender. Seine Kräfte als Bluttrinker stellten sich auf sie ein, und das würde ihn fester an sie binden, als er es sich erlauben konnte. Oder waren Bluttrinken und sexuelle Erregung bei ihm einfach untrennbar miteinander verbunden? Vielleicht war es wirklich so einfach.
Er zwang seine Fangzähne zurück in seinen Gaumen und unterdrückte die in ihm auflodernde Magie. Und er nahm sich vor, auf der Hut zu sein.
Nachdem sie fast eine Stunde gewandert waren, bogen sie auf den letzten schmalen Pfad ein, der zu Candidas Höhle führte. Die Weise Wolfyn bevorzugte ein einsames Leben, nahe genug beim Rudel, um Streitereien zu schlichten und mit ihren Fähigkeiten in Heilung und Wahrsagerei zur Seite zu stehen, doch auch weit genug weg, um Überraschungsbesuche zu vermeiden.
„Ich hoffe, sie läuft nicht mit dem Rudel“, sagte Dayn, als sie den letzten Bergrücken erklommen, hinter dem direkt der Eingang zu Candidas Höhle lag. „Sie nimmt nicht jede Mondzeit an dem Ritual teil, aber ab und zu schon.“ Er spürte genau, wie nervös Reda war – und es war verständlich, schließlich war sie mit der „Rutakoppchen“-Version der Wolfyn aufgezogen worden. „Candida ist eine Erfinderin, eine der besten, wenn es darum geht, menschliche Technologie mit Magiezellen zum Laufen zu bringen, damit man sie in dieser Welt benutzen kann. Tatsächlich …“
Er verstummte, und ihm wurde eiskalt, als er den Rauch roch, schwer und vermischt mit dem Gestank nach verbrannten Haaren und verkohltem Fleisch. Noch schlimmer war das Kribbeln von abgestandener schaler Magie.
„Nein!“, brüllte er. „Candida!“
Er stolperte den letzten Abhang hinunter, Reda dicht auf seinen Fersen.
Im Eingangsbereich der Höhle herrschte völlige Unordnung, und dunkle Rauchfahnen quollen aus der dunklen Öffnung. Sein Herz hämmerte einen schmerzhaften Rhythmus, als er sich hineinduckte und den Lichtschalter betätigte. Die Lampen, die in der ganzen Höhle verteilt waren, sprangen an und beleuchteten vollkommenes Chaos.
Und einen Mord. Denn inmitten der verstreuten Überreste von Vorräten und Haushaltsgeräten lag ein Berg aus graublondem Fell. „Candida“, sagte Dayn heiser, trat zu ihr und ging neben ihr auf die Knie. „Bei allen Göttern. Was hat sie dir angetan?“
Die Augen der Weisen Wolfyn waren blass und milchig, ihre Kehle war aufgerissen, ihr Körper schwer verbrannt. An vielen Stellen war ihr Fell ausgerissen und das rote Fleisch, überzogen mit verkohlten Streifen, sichtbar. Ein langes Stück Metall ragte aus dem verglimmenden Feuer. Damit also war sie gefoltert worden. Und Folter war es eindeutig gewesen. Die Hexe Moragh hatte ihr Schmerzen zugefügt, sie verbrannt, war ohne Zweifel auch in ihre Gedanken eingedrungen … und das Ganze wahrscheinlich, während er und Reda sich in der kleinen Höhle versteckt gehalten und darauf gewartet hatten, dass die Wolfyn den Steinkreis verließen.
Wieder war er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Wenn er eher darauf gekommen wäre, dass der Ettin nicht aus Versehen durch den Vortex gestolpert war, wenn er auf die magischen Schwingungen in der Luft geachtet hätte …
„Es tut mir leid.“ Reda ergriff seine Schulter.
In ihm regte sich Abneigung, auch wenn er wusste, sie konnte nichts dafür. Es war nicht ihre Schuld, dass ihre Bekanntschaft auf solche Weise begonnen hatte, niemand war schuld. Aber es war trotzdem zum Kotzen.
„Sie war stark“, presste er hervor. „Sie hat der Gedankensprache widerstanden, hat versucht, ihre Geheimnisse zu bewahren.“ Deshalb das heiße Eisen. „Am Ende hat die Magie sie aber doch überwältigt.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“
„Ihre Augen.“ Er machte eine hölzern wirkende Geste. „Das Weiß deutet darauf hin, dass sie vollkommen leergesaugt wurde.“
Reda atmete tief ein, aber sie nahm ihre Hand nicht von seiner Schulter. Ihr Griff war fest und kräftig, er sagte: Ich passe auf dich auf und Es tut mir leid. Und vielleicht sogar Ich bin für dich da, etwas, woran er nicht gewöhnt war.
Nach einem Augenblick fuhr er fort: „Normalerweise verwandeln die Wolfyn sich in ihre menschliche Gestalt zurück, wenn sie sterben. Das bedeutet … Verdammt, es sieht für mich so aus, als ob Moragh Candida alle Menschlichkeit geraubt hat, bis sie vollkommen wild wurde, ehe sie gestorben ist.“ Was ein schrecklicher Absturz für die stolze und außerordentlich zivilisierte Wolfyn gewesen sein musste. Sie hätte es gehasst, in Wolfgestalt zu sterben, hätte es gehasst, von ihm so gesehen zu werden. Und sie hätte sich selbst dafür verachtet, dass die Hexe sie gebrochen hatte.
„Können wir etwas für sie tun?“
Er brauchte einige Momente, bis die Frage in sein Bewusstsein drang, aber beantworten konnte er sie sofort. „Nein. Wir müssen weg von hier.“ Er richtete sich auf und hasste es, dass er nicht bleiben konnte. Als er die Frage in ihren Augen sah, fügte er hinzu: „Moragh hat ihren Diener zum Rudel geschickt, damit er ihnen erzählt, dass ich ein Bluttrinker bin. Höchstwahrscheinlich sind sie bereits auf der Jagd.“ Er zögerte. „Es tut mir leid.“
„Warum? Du hast es nicht getan.“
„Ich habe es auch nicht verhindert.“ Er wandte sich dem hinteren Teil der Höhle zu. „Nimm alles mit, was du für nützlich hältst.“
„Hat sie Pfeil und Bogen?“
Er blieb stehen und sah sie mit einer gehobenen Augenbraue fragend an.
„Ich war Juniorenmeisterin im Bogenschießen, drei Jahre in Folge. In meiner Familie musste jedes Kind den Umgang mit einer Waffe lernen. Ich glaube, mein Vater wollte …“ Sie schüttelte den Kopf. „Egal, jedenfalls kann ich schießen. Und ich brauche eine Waffe.“
„In der Truhe da drüben.“ Er zeigte darauf. „Pack auch alle Armbrustbolzen ein, die du finden kannst, und einen zweiten Wasserschlauch.“
„Geht klar.“
Während sie herumkramte, atmete er tief durch und wandte sich der Rückwand der Höhle zu. Er zapfte die Energie an, die in der Macht der Wolfyn lag, und sagte leise: „Lass, was verborgen ist, sichtbar werden.“
Die Steinwand flimmerte und verschwand, und dahinter erschienen mehrere Reihen übereinandergestapelter, bunt angemalter und fein geschnitzter Fächer.
Hinter ihm keuchte Reda auf, und etwas schepperte.
„Ist schon gut“, sagte er. „Das ist nur ganz einfache Verhüllungsmagie. Keine große Sache.“
„Für jemanden wie mich schon.“
Wieder einmal wurde deutlich, dass sie aus zwei vollkommen verschiedenen Welten stammten, die hier in diesem seltsamen Zwischenreich zusammentrafen. Dieses Wissen versetzte ihm einen Stich, aber er ignorierte es und konzentrierte sich auf die Schubladen. Er musste herausfinden, welche von Candidas Tricks er benutzen konnte, damit Reda und er wohlbehalten den Bogen von Meriden erreichen und von dort aus, so die Götter es wollten, in ihre jeweilige Heimat zurückkehren konnten. Und in seinem Fall anschließend in den Krieg ziehen.
Bei diesem Gedanken griff er zuerst nach einer roten Lederröhre, in dem sich eine kleine Glasphiole befand. Zwei Fingerbreit Sirup klebten am Boden und bewegten sich kaum, als er den Behälter schüttelte.
„Was ist das?“
„Gift“, sagte er, ohne sie anzusehen. „Damit werde ich den Blutmagier töten.“
Reda versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, dass ihr die Dinge, die sie einpackte, vertraut vorkamen und gleichzeitig fremd, wie Fälschungen, deren Details nicht ganz gelungen waren. Sie versuchte auch, nicht weiter darüber nachzudenken, wie sehr es sie erschüttert hatte, Dayn Magie ausüben zu sehen. Mehr noch, es hatte sie erregt, als würde ihre Libido auf diese Energie reagieren, die sie so noch nirgends erlebt hatte. Doch während sie so sehr damit beschäftigt war, nicht über all diese Dinge nachzudenken und dabei ihren Rucksack mit zusätzlichen Vorräten füllte und Pfeile an seine Seite band, hatte sie viel zu viel Zeit, um die hübsche Bettwäsche und die Kleider in den Truhen an der Wand zu betrachten … und die Wolfsleiche, die danebenlag.
Doch es war mehr als ein Wolf, nicht wahr? Er – sie – hatte diese Decken benutzt, diese Kleider getragen, den jetzt zerbrochenen Krimskrams ausgesucht. Candida, dachte sie und sah zu der reglosen Gestalt hinab. Sie wusste nicht, ob sie Mitleid verspürte, Ekel, Verwirrung oder alles auf einmal. Wahrscheinlich Letzteres. Sie bedauerte die Frau, die sich einen abstrakten Farbklecks an die Wand gehängt hatte. Und sie ekelte sich vor einer Spezies, die sogar im Krieg Frauen einlullen, verführen, benutzen und dann fortwerfen konnte. Das ist lange her, rief sie sich in Erinnerung. Dennoch, das Potenzial hatten sie immer noch. Die Macht dazu hatten sie immer noch.
Und doch war Candida gestorben, um ihren Blut trinkenden Freund zu beschützen.
Anscheinend hatte Dayn alles, was er brauchte, zusammengesucht. Er trat von den Regalen zurück und legte eine schwere Robe über Candidas Körper. Einen Augenblick lang stand er da und schien ein Gebet zu sprechen, oder vielleicht eine Entschuldigung.
Ihr Herz schien in ihrer Brust zu hüpfen, und Wärme durchflutete sie, fremdartig und neu. Zärtlichkeit.
Er ist ein Bluttrinker, rief sie sich in Erinnerung. Doch die Warnung wurde von einer andere Stimme in ihrem Kopf beantwortet: Ja, aber er ist auch ein Prinz. Beides war er seit seiner Geburt, und beide Bezeichnungen wurden ihm als Mann überhaupt nicht gerecht. Dayn, der Bluttrinker, war dunkel und sexy; Dayn, der Prinz, war zielstrebig und entschlossen, seine Versprechen einzuhalten. Dayn, der Mann, hingegen war sehr real.
Zu Hause sagten ihre Freunde ihr immer, sie sei zu wählerisch. Jeder Mann wäre eine Mischung aus guten und schlechten Seiten, und sie müsste nur eine Mischung finden, die zu ihr selbst passte, statt auf Mr Perfect zu warten. Sie begriffen einfach nicht – Reda konnte es ihnen nicht begreiflich machen –, dass sie nicht nach einem fehlerlosen Mann suchte. Sie wollte einen, der über sich selbst hinauswuchs, dem andere Dinge wichtiger waren als ein Auto, ein Flachbildfernseher oder seine Karriere. Sie wollte jemanden, der den strengen Moralkodex und militärischen Heldenmut ihres Vaters mit dem Mitgefühl ihrer Mutter, ihrer Verspieltheit und ihrem Sinn für Abenteuer verband.
Sie wollte den Förster, den Märchenprinzen. Und sie hatte ihn gefunden – jedenfalls für die nächsten achtundvierzig Stunden.
Als er geendet hatte, drehte er sich zu ihr um. Er ertappte sie dabei, wie sie ihn anstarrte, fragte aber nur: „Fertig?“
Sie stand auf und warf sich den Rucksack über die Schulter, wo sie bereits einen nicht gespannten Bogen trug. „Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“
Er nickte. „Ich habe das Gift, das ich wollte – sie konnte es nicht ausreichend testen, also weiß ich nicht, ob es funktioniert – und dazu einen Vorrat an Wolfsschlaf-Saft. Das ist ungefähr wie Kaugummi in deiner Welt, aber man kann damit auch Wunden verschließen. Und das hier ist vielleicht praktisch.“ Er kramte in seinem abgetragenen Rucksack und zog drei kleine grüne Klumpen heraus, die wie Knete beschaffen waren und ölig glänzten.
Reda rümpfte die Nase, auch wenn jeder Geruch, den die Masse vielleicht hatte, vom beißend rauchigen Aroma überdeckt wurde, das in der Hütte herrschte und ihre Atemwege bedeckte. „Was ist das?“
„Wolfsbene.“
Sie betrachtete das Zeug mit Interesse. „Ein Abwehrmittel?“
„Nicht Bann“, berichtigte er, „Bene. Wie in Benefiz. Es stärkt ihre menschliche Gestalt, gibt ihnen mehr Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer. Es funktioniert auch bei uns, nur nicht ganz so stark. Stell es dir wie Raketentreibstoff für den menschlichen Körper vor.“ Er ließ die Klumpen in einen kleinen Umschlag aus glatter Baumrinde gleiten und reichte ihn ihr. „Behalt das bei dir. Ich habe noch mehr, aber du sollst deinen eigenen Vorrat haben, falls wir getrennt werden und du es brauchst.“ Er zögerte kurz. „Es gibt Nebenwirkungen, benutz es also nur, wenn du wirklich musst.“
Sie erstarrte. „Was für Nebenwirkungen?“
„Es kräftigt nicht nur den Körper … es, äh, wirkt auch auf gewisse Körperfunktionen.“
„Was habt ihr hier bloß immer mit den K.-o.-Tropfen?“, fragte sie und wurde rot, weil ihre spontane Reaktion auf diese Information nicht so abweisend ausgefallen war, wie es hätte sein sollen.
„Was sind denn K.-o.-Tropfen?“
„Das hier anscheinend.“ Aber sie steckte den Umschlag trotzdem ein. Plötzlich war sie sehr müde, als hätte ihr Körper nur darauf gewartet, dass sie die Erschöpfung endlich bemerkte. Sie wusste nicht, wie lange sie im Vortex gewesen war, wusste nicht, wie viel Zeit seit dem Aufwachen verstrichen war, aber sie könnte eine Pause gebrauchen.
Das stand allerdings nicht auf dem Plan. Wenn das Rudel nach ihnen suchte, mussten sie sofort aufbrechen.
„Oh, und das noch.“ Er reichte ihr eine Rolle aus festem Laminat, die sie an die laminierten Speisekarten erinnerte, die in der Imbissbude bei ihr zu Hause auf den Tischen lagen. „Für alle Fälle.“
Sie rollte die Matte auf und erblickte eine Landkarte. Auf ihr waren Namen und Orte verzeichnet, die Reda vollkommen unbekannt waren, und der Bogen von Meriden war mit Tinte markiert. Daneben standen einige Notizen darüber, wo es sichere Pfade gab und welche man besser vermied. „Im Grunde hältst du dich einfach nach Westen, an der Brücke überquerst du die Schlucht, und dann wendest du dich nach Nordwesten. Von dort aus ist es noch ein strammer Tagesmarsch. Alle Orientierungspunkte sind hier eingetragen“, erklärte er ihr.
Ein Klumpen bildete sich in ihrer Kehle, aber sie nickte nur. „Danke.“
Auch wenn sie gar nicht erst daran denken wollte, die Reise allein durchzustehen, beschäftigte sie der Gedanke, während sie von der Höhle der Weisen Wolfyn zurück zum Hain gingen. Sie dachte immer wieder an den pelzigen grauen Leichnam und die tot starrenden weißen Augen. In ihrem Kopf schien eine Stimme zu flüstern: Das könntest bald du sein.
Mehr noch, als sie von der Hauptstraße auf einen schmalen Pfad abbogen, auf dem sie nur hintereinandergehen konnten, sodass sie seine schlaksige, anscheinend unermüdliche Gestalt stets vor Augen hatte, fingen ihre Nerven an zu flattern, und ihr Magen verkrampfte sich, bis sie sich am liebsten zusammengerollt und versteckt hätte.
Atme, sagte sie sich und verfluchte ihre Instinkte dafür, dass sie überreagierten und Adrenalin in ihre Adern pumpten, bis sie zu überreizt war, um zu kämpfen oder zu fliehen oder überhaupt irgendetwas zu tun.
Der Mond wirkte zu groß, seine Kraterschatten zu ungleichmäßig, die Baumstämme auf beiden Seiten des Pfades waren zu glatt und ihre Zweige zu gerade. Die Nacht schien sie in sich einzuhüllen und ersticken zu wollen.
Atme, verdammt. Sie konzentrierte sich auf die Bäume und die Dunkelheit, auf den Bogen auf ihrem Rücken und die Pfeile, die sie gut erreichbar an ihrem Rucksack befestigt hatte. Es ist alles in Ordnung. Das ist nur in deinem Kopf. Du …
Plötzlich raschelte das Unterholz auf beiden Seiten, und riesige Gestalten kamen daraus hervor, pelzig und mit langen Fangzähnen. Sie knurrten. Wolfyn!
„Lauf!“, rief Dayn. „Los!“
Reda keuchte entsetzt auf und wirbelte herum, um zu fliehen, aber ein Wolfyn schnitt ihnen bereits den Weg ab, dann ein zweiter und noch einer. Innerhalb von Sekunden waren sie und Dayn von mehr als vierzig der Kreaturen umzingelt. Alle hatten die Köpfe bedrohlich gesenkt und den goldenen Pelz auf ihrem Rücken aufgerichtet.
Sie wich zurück, überwältigt von der furchterregenden Schönheit der Kreaturen. Candidas regloser Körper hatte sie nicht auf die schiere Ausstrahlung der Gestaltwandler vorbereitet. Die Schultern der Wolfyn reichten ihr bis über die Taille, und ihre Körper waren schmal und sehnig, eher wie riesige Löwen als wie Wölfe. Ihr Fell hatte einen Fleck auf dem Rücken, der selbst im Mondlicht rötlich glänzte. Ihre schmalen, dreieckigen Köpfe ließen sie an weite freie Flächen denken, und ihre Augen funkelten wie Bernstein.
Ein riesiges Männchen trat vor, um sie zu betrachten. Er war der Größte von allen, hatte die hellsten Zeichnungen und das dichteste Fell. Seine Stirn war breit, seine Augen weise. Er schien in sie hineinzusehen und zu flüstern: Komm zu mir. Ich kann dich beschützen, dich schätzen, dich bewundern.
Hitze stieg in ihr auf, als sie ihn wie gebannt anstarrte.
Komm zu mir.
Sie trat einen Schritt auf die wunderschöne Kreatur zu. Streckte die Hand aus, um ihr dichtes luxuriöses Fell zu berühren.
Und plötzlich war die Hölle los.