2. KAPITEL

Welt der Wolfyn

Der Blutmond hob sich wie ein perfekter weißblauer Kreis über die dunklen Baumwipfel und schien durch die große Fensterfront ins Schlafzimmer. Dayn schloss den letzten Knopf an seinem karierten Hemd und zog seine fleecegefütterte Bomberjacke an.

„Du könntest auch bleiben, weißt du. Da sein, wenn ich zurückkomme.“

Er sah zu ihr hin. Eine Lampe aus geschliffenem Glas leuchtete auf dem Nachttisch – eine nachgemachte Tiffany-Lampe, die man aus der Welt der Menschen importiert und so verändert hatte, dass sie mit der quasi-magischen Energie betrieben werden konnte, mit der alle Geräte der Wolfyn liefen. Das bleiche Licht beleuchtete die erdbraunen Wände und die fein geschnitzten Möbel, beides subtil verziert mit dem Siegel des Augenkratzer-Rudels: vier parallele blutrote Linien über einem bernsteinfarbenen Wolfsauge. Das Bett war mit luxuriösen purpurrot gefärbten Fellen bedeckt, aber der wahre Mittelpunkt des Raumes war Keely. Die Alpha-Wölfin des Rudels lag lang ausgestreckt da, geschmeidig und befriedigt. Vor Erregung duftete sie nach Moschus und nach der Magie des Blutmondes. Sie war gesegnet mit dem durchtrainierten Körper einer Jägerin und dem vollen Haar einer Wolfshündin in ihren besten Jahren; ungebunden und unabhängig war sie, genau wie er.

Nur dass sie überhaupt nicht wie er war. Nicht wirklich.

Sie trafen und paarten sich nur diese eine Nacht im Jahr, wenn der Sex die stärkste Verwandlung auslöste und die Wolfyn die nächsten drei Tage hauptsächlich in Wolfgestalt verbrachten, gemeinsam rannten, ihre Magie erneuerten, alte Verbindungen lösten und neue schufen. Keely wagte es nicht, sich während des Blutmondes mit einem Mann ihrer Art zu paaren, da er dann das Recht beanspruchen könnte, sie um die Führung des Rudels herauszufordern. Diese Führung war an ihren Bruder Kenar gegangen statt an sie, wie die Tradition es verlangt hätte. Als „Gast“ des Augenkratzer-Rudels – so nannte man die wenigen Reisenden zwischen den Welten, die durch eine Laune der Magie nicht durch den Steinkreis nach Hause zurückkehren konnten – war Dayn zu Keelys erster Wahl geworden. Sie hatte es ihm mit dem Pragmatismus der Wolfyn dargelegt: Sex, einmal im Jahr, nicht mehr, nicht weniger. Und das passte ihm gut aus verschiedenen Gründen.

Ihre Beziehung hatte rein geschäftlich begonnen, aber mit der Zeit hatte sie sich zu einer Freundschaft entwickelt. Oder wie nannte man es bei den Menschen? „Freundschaft plus“. Aber Freunde oder nicht, er sagte ihr nicht, dass sie heute mit ziemlicher Sicherheit zum letzten Mal zusammen gewesen waren. Er wagte es nicht. Stattdessen sagte er: „Danke, aber nein danke. Und du hättest nicht gefragt, wenn du nicht gewusst hättest, dass das meine Antwort ist.“

„Du kennst mich zu gut. Also … nächstes Jahr zur gleichen Zeit, in einem Jahr?“

„Natürlich“, sagte er und fügte dann wie immer dazu, „es sei denn, du hast bis dahin jemanden gefunden.“

Ihre Augen blitzten auf. „Kenar ist ein guter Alpha.“

Darüber ließ sich streiten, aber Dayn würde Keely und die anderen Rudel-Mitglieder nie dazu bringen, zuzugeben, dass ihr Alpha sich mehr für sich selbst als das Rudel und seine Traditionen interessierte. Oder dass es falsch von ihm gewesen war, sich gegen die Traditionen zu stellen und den Mann, den Keelys Vater als seinen Nachfolger und Partner seiner Tochter aus einem anderen Rudel ausgesucht hatte, zu verjagen. Zugegeben, der Mann – Roloff – hätte nicht gehen dürfen. Aber dadurch wurde Kenars Verhalten noch lange nicht richtig.

Aber es brachte nichts, sich darüber zu streiten – „alles schon versucht“, sagten die Menschen passenderweise in so einem Fall. Also warf er ihr nur eine Kusshand zu. „Dann bis nächstes Jahr.“ Eine Lüge, aber eine notwendige. Im ganzen Reich der Wolfyn wusste nur die Weise Wolfyn, Candida, wer und was er wirklich war, und dass die Zeit für ihn bald gekommen war nach Hause zurückzukehren.

„Natürlich“, stimmte Keely ihm zu. „Es sei denn, du findest in der Zwischenzeit jemanden.“

Er hatte die Hand schon an der Tür, drehte sich aber noch einmal überrascht um. „Ich? Nein. Auf keinen Fall.“

„Der neue Gast des Steindreher-Rudels ist hübsch.“

„Ich habe nicht vor, mir eine Partnerin zu nehmen.“ Außerdem war der Neuankömmling nicht die Frau, auf die er wartete; die Frau, die er in der letzten Woche jede Nacht deutlicher im Traum gesehen hatte. Jeden Morgen war er mit dem Bild eines herzförmigen Gesichts vor Augen aufgewacht. Es hatte ein Grübchen im Kinn und einen „Ihr könnt mich alle mal“-Ausdruck in den Augen, dazu lockige rote Strähnen. Beeil dich, wollte er ihr sagen. Bitte beeil dich.

Keely sah ihn fragend an. „Wenn es nicht das ist, was liegt dir dann auf der Seele?“ Bei den Wolfyn ließen sich alle Probleme immer auf Politik oder Familie zurückführen. Da er mit der Politik des Rudels nichts zu tun hatte, blieb noch die Familie – oder in seinem Fall die Tatsache, dass er keine hatte.

„Es geht mir gut. Wirklich.“ Er winkte ihr zum Abschied kurz zu und sagte leise: „Guten Lauf.“ Hinter ihren Augen konnte er schon das bernsteinfarbene Feuer erkennen. Und als er ihr Haus verließ, spürte er, wie die Magie der Verwandlung die Luft vibrieren ließ. Sie strich über seine Haut und verstärkte die Ruhelosigkeit in ihm, die ihn mehr und mehr plagte, während die Tage verstrichen und seine Führerin immer noch nicht kam. Die Frustration nagte an ihm, er fühlte sich kribbelig, unruhig. Er wollte durch die Dunkelheit rasen, Streit anfangen, den Mond anheulen …

Stattdessen machte er sich auf den Weg zurück zu der kleinen Blockhütte, die er in der Nähe des Steinkreises gebaut hatte. Er schloss den Reißverschluss seiner Jacke und steckte die Hände in die Taschen, als er den zwei Meilen langen Pfad entlangwanderte. Der Blutmond erleuchtete die Nacht mit seinem gespenstischen weißblauen Licht, das fast so hell war wie der Tag, nur farbloser. Als er seine Hütte erblickte, hing in der Luft bereits ein Chor aus aufgeregtem Jaulen und tiefem Heulen, das ihm Schauer über den Rücken jagte.

Seine Blockhütte bestand nur aus einem einzigen langen Raum mit einem Kamin in der Mitte und einem großen Herd. Auf die anderen Mitglieder des Rudels wirkte sie lachhaft altmodisch. Er hatte immerhin isolierte Fenster nach Art der Menschen und einen Energiegenerator nach Wolfyn-Technologie eingebaut. Heute allerdings hatte er das Licht aus gelassen, und durch das Mondlicht, das die Kabine blauweiß erleuchtete, sah es fast so aus, als würde sie …

Oh, Mist. Glühen. Dayns Puls beschleunigte sich, denn er wusste aus Erfahrung, dass es nicht die Hütte war, die glühte. Ein Vortex bildete sich im Steinkreis!

Er rannte los. Als er um die Ecke bog, grollte Donner und ließ die Sohlen seiner Stiefel vibrieren, obwohl der Himmel sternenklar war. Er jubelte fast, als er das blauweiße Licht zwischen den Steinen Funken schlagen sah. Die Elektrizität ließ die Luft aufleuchten, reicherte sie mit Ozon an und stellte seine Haare auf, als ob auch er sich verwandelte.

Magie umgab ihn, als er den Hügel hinaufrannte, hüllte ihn ein und überzog ihn mit Lichtblitzen, als er kurz vor dem Steinkreis zum Stehen kam. Elektrizität strömte von einem Stein zum nächsten und wieder zum nächsten, bis der ganze Kreis vor blauweißer Energie aufleuchtete. Und dann, plötzlich, verschwammen das Gras und die Luft innerhalb des Kreises und fingen an, sich zu bewegen. Zuerst formten sie eine langsame, nach innen gerichtete Spirale, wurden dann immer schneller und schneller, bis sie innerhalb von Sekunden zu einem grauen Tornado aus allem und nichts geworden waren.

Die Magie zerrte an ihm und lockte. Komm, schien der Vortex zu sagen. Sprich die Worte und komm.

Doch Dayn zögerte. Bisher hatte der Vortex ihm nicht geholfen, auch nicht, wenn er den Zauber sprach, der ihn zurück nach Elden bringen sollte. Aber was, wenn die Zeit jetzt endlich gekommen war? Vielleicht sollte seine Führerin gar nicht zu ihm kommen, sondern er zu ihr. Bitte, Götter.

Donner grollte und Magie peitschte, als er sich den Wald vorstellte, aus dem er fortgetragen worden war, und den Zauber sprach. Dann, auf alles vorbereitet, trat er in den Steinkreis.

Der Wind hüllte ihn sofort ein, hob ihn hoch und sog ihn Hals über Kopf in den wirbelnden Malstrom der Magie. Aufregung erfasste ihn. Es funktionierte! Donner brüllte und Blitze stoben umher, das ganze Universum schien einen Augenblick den Atem anzuhalten. In diesem Augenblick sah er eine moderne Küche im Stil der Menschen vor sich und zuckte vor Entsetzen zusammen. Nein, nicht die Welt der Menschen! Bring mich nach Elden!

Noch bevor er den Gedanken beenden konnte, flammte hinter seiner Stirn ein Schmerz auf und peitschte durch seinen Schädel … und alles verlosch.

Eine Sekunde lang nahm er nur Dunkelheit wahr. Ruhe. Stille. Er konnte nicht einmal seinen eigenen Herzschlag hören.

Dann kam mit einem Ruck alles um ihn zurück, blauweißes Licht traf seine Augen, und er spürte weiche grasbewachsene Erde unter seinen Füßen. Er blinzelte ins Licht und ballte vor Enttäuschung die Hände zu Fäusten, als er die Welt um ihn herum wieder klar erkennen konnte und den vollen Mond sah, der den vertrauten Steinkreis beleuchtete.

„Verdammter Mist.“ Er war nicht gereist. Er war immer noch in der Welt der Wolfyn. „So ein stinkender …“

Ein leises Stöhnen unterbrach ihn. Ein leises, sehr weibliches Stöhnen.

Sein Herz hämmerte in seiner Brust, als er sich dem Geräusch zuwandte. Er wollte nicht hoffen, aber er hoffte.

Und da war sie. Endlich, nach all dieser Zeit war sie da.

Sie lag zusammengekrümmt im Gras. Die Wange hatte sie auf den Händen abgelegt, aber er erkannte das herzförmige Gesicht, das sture Grübchen im Kinn und die starken, aber doch sanft gerundeten Kurven ihres Körpers. Und auch ohne dass er sie bei Tageslicht gesehen hatte, wusste er, dass ihr welliges Haar von Rot durchzogen war und ihre Augen klar und blau wie der dunkle Himmel über Elden nach einem Gewitterregen. Nicht dass es wichtig wäre, ob sie schön war oder nicht – sie war seine Führerin, und nur darauf kam es an.

Ihre Kleider wiesen sie als Menschen aus, was ihn überraschte. Von den drei bekannten Welten war die menschliche am fortschrittlichsten, was Technik anging, benutzte aber die wenigste Magie, wodurch sie sich am weitesten von der reinen Magie der Königreiche unterschied. Wie sollte eine Menschenfrau ihn da führen können?

Hab Vertrauen, sagte er sich. Sein Vater hatte ihm Führung versprochen, und hier war sie.

Es bedeutete auch, dass die letzten vier Nächte angebrochen waren, und sie sich beeilen mussten. Dabei gab es allerdings ein Problem: Sie war bewusstlos, und das Augenkratzer-Rudel bereitete sich auf seinen Lauf vor, zu dem eine Stunde Heulen an den Steinen gehörte. Auch wenn die Wolfyn im alltäglichen Leben relativ zivilisiert waren – zumindest wenn sie sich in ihrer eigenen Welt aufhielten –, der Blutmond brachte andere Aspekte ihrer Persönlichkeit zum Vorschein. Keely hätte wahrscheinlich keine Schwierigkeiten damit, ihn während des Blutmonds mit einer anderen Frau zu sehen, aber die anderen wären wohl nicht so nachsichtig.

Er traf eine spontane Entscheidung, auch wenn er lieber geblieben wäre und sofort einen neuen Vortex gerufen hätte. Dayn nahm die Frau in seine Arme. Sie war zierlicher und kleiner als Keely und schien sich ihm ganz selbstverständlich anzupassen, als er sie aus dem Kreis trug. Ihr Kopf lag gegen seinen Hals geschmiegt, ihr lockiges Haar kitzelte an seiner Wange.

In seiner Hütte legte er sie vorsichtig auf das Sofa neben dem Herd, wo die Reste des Feuers immer noch Wärme spendeten. Dann zog er seine viel zu warme Jacke aus und kniete sich neben sie. Ein Teil von ihm konnte es immer noch nicht fassen, dass er von ihr geträumt hatte und sie jetzt wirklich hier war. Sein Blick verweilte auf der Fülle ihrer Lippen und der rosigen Farbe ihrer Wangen. Er streckte die Hand aus, um sie zu wecken, aber stattdessen ertappte er sich dabei, wie er ihr einige lockere Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, wo sie sich an den Wimpern verfangen hatten. Ihre Haut war warm und zart, und auch wenn er sich sagte, dass er sie nicht anfassen durfte, nicht so, konnte er doch nicht von ihr lassen.

Sie regte sich unter seiner Berührung und seufzte leise. Ihm stockte der Atem, als sie die Augen öffnete und in seine sah. Das ganze Universum schien sich auf diese blauen, blauen Augen zu reduzieren, auf ihren schockierten Blick … und das Erkennen darin.

Der Förster sah auf sie hinab. „Den Göttern sei Dank, du bist endlich hier.“

Reda starrte stumm zu ihm hinauf. Ihre Gedanken überschlugen sich, und die Welt geriet ein klein wenig aus dem Gleichgewicht.

Es war wie in dem Traum, den sie die letzte Woche jede Nacht geträumt hatte. Sie wachte in einer Holzhütte auf, und dieser Mann stand über sie gebeugt, während in der Nähe ein Feuer knisterte. Er sah so aus, wie sie ihn sich erträumt hatte: unordentliches schwarzes Haar, das ihm in die Stirn fiel und sich an den Spitzen lockte, umrahmte fein geschnittene Gesichtszüge und smaragdgrüne Augen. Er hatte einen hageren und doch kraftvollen Körperbau, mit breiten Schultern, langen Gliedmaßen und schlanken geschmeidigen Muskeln, die unter seiner Haut spielten, als er sich neben sie kniete. Seine Haut war glatt und bronzefarben, und ein feiner männlicher Flaum war unter seinem offenen Hemd sichtbar. Genau wie in ihren Träumen roch er nach Holz, Rauch und Zimt. Wärme breitete sich in ihrem Körper aus und sammelte sich dort, wo seine Finger ihre Wange berührten.

Aber als der Schwindel sich legte, kam die Nervosität … denn das Gesamtbild stimmte, aber die Details waren falsch.

Die Hütte bestand aus grob behauenen Baumstämmen, so weit stimmte es, aber sie lag auf einem gemütlichen Sofa statt auf einem Feldbett. Auf einem Beistelltisch spendete eine Mosaik-Lampe dumpfes bernsteinfarbenes Licht. Und der Mann trug Kleidung direkt aus dem Outdoor-Shop statt Selbstgewebtes. Mehr noch, selbst die Details der Details stimmten nicht. Die Couch, auf der sie lag, war mit einem weichen samtartigen Flor bezogen, aber der Stoff bewegte sich merkwürdig, genau wie das Polster darunter. Und an der Lampe war kein Kabel.

Was zum Teufel …?

„Ich bringe MacEvoy um.“ Dieser Idiot musste irgendetwas wirklich Seltsames und Halluzinogenes in die Duftlampe in seinem Laden getan haben.

Acid zum Beispiel.

„Wer ist MacEvoy?“ Die Stimme des Försters war ein weicher Bariton mit einem heiseren Klang, der ihre Haut zu streicheln schien. Aber die Frage machte sie noch etwas nervöser, genau wie sein Blick, als er sich zurücklehnte und misstrauisch und verwirrt auf sie hinabstarrte.

Er hatte noch nie mit ihr gesprochen, sie noch nie so fassungslos angesehen.

Er hielt sich nicht an die Regeln, und das gefiel ihr überhaupt nicht.

„Er ist … ist auch egal.“ Sie richtete sich auf und wehrte ihn ab, als er versuchte, ihr zu helfen. „Schon gut. Es geht mir gut.“ Nur, dass es ihr nicht gut ging. Alles war falsch, denn was auch immer hier vor sich ging, der Traum – die Halluzination? – wirkte viel zu echt.

„Gut genug, um aufzubrechen?“

„Aufbrechen?“

Er nickte. „Wir haben vier Nächte, ab heute, deswegen sollten wir so schnell wie möglich aufbrechen.“

Reda atmete tief durch und beschwor sich selbst, nicht durchzudrehen. Es gab irgendeine logische Erklärung für alles. Es musste sie einfach geben. „Ich werde keinen Sex mit dir haben.“ Oh, verdammt noch mal, sie wusste wirklich nicht, warum sie das jetzt gesagt hatte. Obwohl, eigentlich schon: Es lag an diesen Träumen.

Er hob die Augenbrauen. „Natürlich nicht. Du bist meine Führerin.“

Sie wurde rot, redete aber einfach weiter. „Ernsthaft. Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“ Und sie wusste auch nicht, warum sie mit diesem Produkt ihrer überreizten Fantasie überhaupt diskutierte.

„Mach darüber keine Witze.“

„Wer macht hier Witze?“ Ihr war nicht nach Scherzen zumute, sie war einfach so verwirrt wie noch nie. „Warte. Ist das alles ein blöder Streich?“ Aber wer sollte so etwas tun?

In seiner Miene lag plötzlich Erkennen. „Verflucht noch mal, die Vortex-Krankheit.“

„Vor-was?“

Er stand auf und fing an, auf und ab zu gehen. „Manchmal, wenn ein Reisender durch einen Vortex von einer Welt in eine andere tritt, ist er danach verwirrt und vergisst sogar Teile seiner Vergangenheit.“

In ihrem Inneren verspürte sie ein leichtes Brennen. „Ich bin nicht verrückt.“

„Das habe ich auch nicht gesagt“, antwortete er, und damit hatte er auch wieder recht. Er fuhr fort: „Gedächtnisverlust und Wahnsinn sind nicht das Gleiche. Bei euch nennt man das, glaube ich, ‚Äpfel und Pflaumen vergleichen‘, richtig?“

„Birnen. Äpfel und Birnen.“ Seine Sprache war eine seltsame Mischung aus formeller und Umgangssprache, was alles nur noch seltsamer machte. „Wer bist du?“

Er blieb stehen und sah etwas beschämt aus. „Entschuldige, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Ich bin Dayn. Prinz Dayn, genauer gesagt, Forstwächter von Elden. Aber wenn das hier irgendwer wüsste, würde man mich in Stücke reißen.“ Er sagte es so trocken, dass sie einen Augenblick brauchte, um die Bedeutung der Worte zu begreifen. Als sie den Mund aufsperrte, streckte er ihr seine Hand entgegen. „Also bleiben wir einfach bei ‚Dayn‘, okay?“

„Ich bin Reda.“ Ihr war schwindlig, aber sie ergriff instinktiv seine Hand und spürte die warme Kraft seiner breiten Handfläche und der langen eleganten Finger. Doch statt sie zu schütteln, hob er ihre Hand an die Lippen und hauchte einen Kuss auf ihre Fingerknöchel. Es war eine unbefangene Geste, als hätte er so etwas schon tausendmal getan und als bedeutete es nicht mehr als ein Handschlag auf dem Bahnsteig oder ein Schulterklopfen zwischen Freunden an der Pizzabude. Aber sie keuchte leise, und ihre Blicke trafen sich.

Das machte es alles andere als beiläufig, genau wie das Prickeln, das sie auf der Haut spürte und das sie daran erinnerte, dass alles nur ein Traum war. Mehr noch, es war ihr Traum, er war ihr Traummann, schon seit sie ein kleines Mädchen gewesen war und davon geträumt hatte, dass jemand kam, um sie zu retten.

Er ließ ihre Hand los und trat einen großen Schritt zurück. „Entschuldige. Das hätte ich nicht tun sollen.“

Warum nicht? Das ist mein Traum. Aber er spielte seine Rolle nicht. Er hätte ihr süße Dinge ins Ohr flüstern sollen, sie küssen, streicheln …

Die Tür der Hütte öffnete sich mit einem Knall, und sie schreckte hoch. Ein kalter Luftzug wirbelte die Asche im Herd auf. Aber davon war die Tür nicht aufgeflogen. Denn noch während Dayn sich umdrehte, verdunkelte eine große Gestalt den Türrahmen. Reda sprang auf – und erstarrte, als ein dreiköpfiger Riese hereintrat.

Das Monster war so groß, dass es sich durch die Tür ducken musste, und hatte den Körper eines Mannes, riesig und muskulös, aber seine Haut war zementgrau. Auf seinen breiten Schultern saßen drei Ogerköpfe, mit weit vorgeschobenen Unterkiefern, schief hervorstehenden Zähnen, wilden schwarzen Augen und feuchten Knollennasen. Das Ding war mit einem ledernen Lendenschurz bekleidet, trug Stiefel so groß wie Briefkästen und mit Nieten besetzte Arm- und Halsbänder. Bewaffnet war es mit einer stumpfen Keule, die mit Stacheln und Eisenbeschlägen bestückt war. Als es Reda und Dayn erblickte, fingen alle drei Gesichter an, schrecklich zu grinsen.

Dayn stürzte auf ein Regal mit Waffen zu, das sie bis dahin für Dekoration gehalten hatte, griff sich eine Armbrust und brüllte: „Lauf!“

Der mittlere Kopf richtete sich auf ihn, die anderen beiden grinsten sie weiter an. Dadurch war es schwer abzuschätzen, wer das Angriffsziel werden sollte, als die Kreatur ein Brüllen ausstieß und seinen enormen Todesknüppel schwang.

„Runter!“ Dayn warf sich über sie. Sie prallten gegen die Lehne des Sofas, das hintenüberkippte und mit ihnen gemeinsam umfiel.

Die Keule sauste über ihre Köpfe hinweg und schlug gegen den Rauchabzug über dem Herd. Kleine Steinbrocken flogen im Raum umher. Unter Dayns Gewicht wurde Reda fast zerquetscht – er mochte hager aussehen, aber er war schwer. Sie rang nach Atem, als Panik von ihr Besitz ergriff. Das ist alles nicht echt. Es kann nicht echt sein. Das ist nur ein Traum, nicht real, nichts hier ist real.

Schwere Schritte dröhnten, als die Kreatur auf sie zukam und leise aus drei Kehlen knurrte.

Nicht echt. Ein Traum. Ich wache gleich auf. Ich zähle jetzt bis drei, dann öffne ich die Augen, und alles ist wieder normal.

„Bleib unten“, flüsterte Dayn ihr ins Ohr und lehnte sich zurück, als das Monster näher stapfte und dabei Möbel aus dem Weg schob und Gegenstände umwarf.

Eins.

Drei Köpfe kamen hinter dem Sofa zum Vorschein, sechs Augen richteten sich auf sie. Die Kreatur brüllte, holte aus und schlug zu. Dayn schrie etwas, sprang auf und feuerte seine Armbrust aus der Hüfte ab. Der Bolzen grub sich in die mittlere Kehle des Riesen.

Zitternd legte Reda sich flach auf den Boden. Sie konnte nicht atmen, konnte nicht denken, konnte nichts weiter tun als zählen.

Zwei.

Das Monster kreischte, schleuderte seine Keule von sich, griff sich an die bluttriefende Kehle und stolperte zurück. Die Keule flog durch ein Fenster und blieb mit den Stacheln im Rahmen stecken, und Dayn feuerte einen zweiten Bolzen in den gleichen Kopf. Das Brüllen der Kreatur wurde zu einem schrillen Heulen, das Reda bis auf den Grund ihrer Seele erschütterte.

Lieber Gott, bitte. Drei.