3. KAPITEL
Reda wachte nicht auf.
Stattdessen sah sie starr vor Angst zu, wie der dreiköpfige Riese stolperte und in die Knie ging, während Dayn systematisch Bolzen in die anderen zwei Köpfe schoss. Als hätte er damit einen Schalter umgelegt, fiel die Kreatur endlich zu Boden, zuckte noch ein paarmal und blieb dann regungslos liegen.
Die plötzliche Stille klingelte in ihren Ohren, während sie die monströse Leiche anstarrte, die nach verfaultem Hühnerfleisch roch.
Reda zwang sich, Dayn anzusehen, der mit so etwas wie Mitleid im Blick auf die Kreatur hinabsah. Aber er wirkte auch aufgeregt, als hätte er den Kampf zum Teil genossen.
Wer war er? Was in Gottes Namen ging hier vor? Sie wollte ihn fragen, fand aber keine Worte. Sie konnte sich nicht rühren, war wie erstarrt. Schon wieder war sie ein Feigling gewesen, sobald es ernst geworden war. War es das, was ihr Unterbewusstsein ihr zeigen wollte?
Vielleicht. Aber sie hatte es gesehen, und der Traum war trotzdem noch nicht vorbei.
„Du kannst jetzt aufstehen.“ Dayn sagte es, ohne sie anzusehen, aber sie glaubte ein Lächeln um seinen Mund zu erkennen. „In der Speisekammer ist ein Beutel. Warum füllst du ihn nicht mit Proviant, während ich mich um alles andere kümmere?“
Als er sich abwandte, richtete sie sich langsam auf und wünschte sich auf einmal, eine Herde rosa Elefanten würde durch das zerbrochene Fenster hereinmarschieren. Dann könnte sie darauf zeigen und sagen: „Ha, ich wusste es doch. Es ist nur ein Traum.“ Oder eine Halluzination, völlig egal. Wichtig war nur, dass nichts hier wirklich geschah. Es spielte sich alles nur in ihrem Kopf ab.
Nur dass keine rosa Elefanten kamen. Sie stand weiterhin neben einem stinkenden toten Riesen mit zwei Köpfen zu viel. Und einem echt heißen Typen, der glaubte, sie würden zusammen irgendwo hingehen.
MacEvoy, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du dir wünschen, du hättest mir das verdammte Buch kostenlos per Post geschickt, dachte sie. Und dann, weil ihr kein guter Grund einfiel, der dagegen sprach, fing sie an, Proviant einzupacken.
Der Beutel schien eine Art Rucksack mit nur einem Riemen zu sein, und der Proviant in der Speisekammer bestand aus harten Brötchen, getrocknetem Fleisch – sie wollte gar nicht wissen, was für welches – und Studentenfutter. Sie packte alles ein, was ihr irgendwie bekannt vorkam, und versuchte, Ähnlichkeiten mit ihren gewohnten Speisen zu sehen und die Unterschiede auszublenden. Aus den Augenwinkeln allerdings nahm sie eine ganze Reihe an fremdartigen Speisen wahr, bei deren bloßem Anblick sich ihr der Magen umdrehte.
Und die ganze Zeit war sie sich Dayns Nähe sehr bewusst. Er zog einen Pullover an, dann einen schweren Ledermantel, packte die Armbrust samt Munition in einen Rucksack und legte dann einen schmalen Ledergürtel um, an dem auf einer Seite ein ungewöhnlich kurzes Schwert hing und auf der anderen einige kleine Beutel. Während sie zu Ende packte, hängte er sich einen Lederschlauch über die Schulter, in dem Flüssigkeit schwappte, drehte sich dann zu ihr um und nickte.
Er schien allerdings keine Antwort zu erwarten, denn er ließ den Blick direkt weiterwandern zu der umgekippten Couch und dem zerstörten Beistelltisch, auf das zerbrochene Fenster und die im Zimmer verstreuten Dinge, die vermutlich sein Leben ausmachten: ein Tagebuch, dessen Einband wie Nylon aussah, ein Glas, gefüllt mit interessanten Steinen, ein riesiges Geweih, in das ein halb fertiges Bild eines prachtvollen Hengstes geschnitzt war. Während Dayn sich umsah, betrachtete Reda ihn. Mit dieser seltsamen Mischung aus moderner Kleidung und altmodischer Ausrüstung hätte er eigentlich verkleidet wirken müssen. Stattdessen strahlte er nur Selbstbewusstsein aus, und das – wie die Leiche des Riesen bewies – durchaus zu Recht. Reda konnte die Augen nicht von ihm lassen.
Er drehte sich abrupt zur Tür. „Gehen wir.“
Sie blieb stehen. „Wohin?“ Das waren die ersten zwei Silben, die ihr seit dem Angriff über die Lippen gekommen waren. Ihre Gedanken überschlugen sich, aber ihr Körper war wie gelähmt. So lief es immer, wenn sie in Krisensituationen erstarrte.
Er nickte mit dem Kopf in Richtung des toten Monsters. „Das war ein Ettin. Die sind in dieser Welt nicht heimisch. Er muss aus den Königreichen gekommen sein, also hat sich der Vortex wahrscheinlich wieder geöffnet. Und das bedeutet, wir müssen los. Sofort.“
Vortex? Welten? Wie konnte er mit seiner Armbrust und seinem Schwert dastehen und von so einem Science-Fiction-Kram reden? Das ergab keinen Sinn.
Natürlich nicht, sagte die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf. Es ist nur ein Traum oder eine Halluzination oder so was. Aber da bis drei zählen nicht funktioniert hat, bringt dich vielleicht dieser Vortex weiter.
Also nickte sie und folgte ihm aus der Hütte. Ihre Stiefel knirschten auf dem zerbrochenen Glas.
„Hier entlang.“ Er drängte sie einen breiten Pfad hinab. Sein Atem war in der kalten Luft sichtbar. „Wenn wir durch die Steine zurückgehen können … Mist.“ Er sah enttäuscht aus. „Sie leuchten nicht.“
„Und das bedeutet?“
„Der Vortex ist schon wieder fort.“ Er sah sieh an. „Du weißt, wie man einen ruft, oder?“
„Ich …“ Sie dachte an den wirbelnden Wind in ihrer Küche und an den Zauber, den ihre Mutter ihr beigebracht hatte. „Ja.“
„Dann los. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es, ehe das Rudel kommt.“ Aber er war höchstens ein paar Schritte gegangen, als auch schon das gespenstische Heulen eines Wolfs in der klaren Nachtluft erklang, und es schien sehr nah. Kurz darauf heulte ein weiterer, dann noch einer. Immer mehr schlossen sich dem ersten an, wurden lauter und melodischer und schließlich zu einem ganzen Chor, als ob sie gemeinsam singen wollten.
Ihre Nackenhaare stellten sich auf bei dem Klang, wild, gefährlich und geheimnisvoll schön. Aber gleichzeitig waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt, und sie hatte eine Gänsehaut.
Dayn blieb mitten auf dem Pfad stehen. „Verflucht, wir sind zu spät, um ihnen zuvorzukommen. Und wir sollten auf gar keinen Fall das Blutmond-Ritual unterbrechen.“ Er hielt inne und dachte nach. „Ich will ihnen heute Nacht lieber nicht begegnen, besonders nicht mit dir, also müssen wir uns irgendwo außer Sichtweite verstecken.“ Er sah zu seiner Hütte zurück.
„Da nicht“, sagte sie schnell.
Er nickte und deutete zur Seite, wo die Bäume einen steilen felsigen Hügel hinauf wuchsen. „Dort ist eine Höhle, die ich manchmal benutze. Da können wir ein oder zwei Stunden bleiben.“
„Eine Höhle“, wiederholte sie, anscheinend nicht in der Lage, mehr als zwei Wörter auf einmal auszusprechen. Plötzlich spürte sie sehr deutlich die Kälte, die durch ihr Hemd und das dünne Leder ihrer Jacke drang, und schlang die Arme fest um sich. Das konnte alles nicht tatsächlich geschehen, es war zu unwirklich. Und doch wirkte Dayn auf eine seltsame Art echter als jeder andere, den sie seit langer Zeit getroffen hatte. Er war klug und lebhaft, er zog ihren Blick auf sich, sie wollte ihn anstarren, ihn anfassen. Sie hatte ein Kribbeln im Bauch gespürt, als er ihre Hand geküsst hatte. Was würde geschehen, wenn er ihre Lippen küsste? Wenn er noch mehr tat?
Konzentrier dich. Hör auf, abzuschweifen. Du musst hier raus, statt zu fantasieren.
„Hier.“ Er kramte in seinem Rucksack und nahm einen zweiten Pullover heraus. „Ich dachte mir, du möchtest dir vielleicht noch was überziehen. Es sei denn, deine Jacke ist eine von diesen neumodischen mit Thermobeschichtung.“
„Ist sie nicht.“ Sie zog die Lederjacke aus und nahm den Pullover von ihm. Er hatte eine dunkle Farbe und war aus einem leichten, fast luftigen Material, das leicht kratzte, wie Wolle. Sie musste etwas sagen, das mehr als zwei Silben hatte und sie vielleicht davon ablenkte, wie seltsam es wäre, seine Kleidung zu tragen. „Okay, du trägst ein Schwert, aber du weißt, was Thermobeschichtung ist. Was ist hier los?“
Er zögerte. „Es gibt hier einige, die zwischen deiner Welt und dieser hin- und herreisen, also ist ein bisschen eurer Technologie herübergebracht und angepasst worden, damit sie auch hier funktioniert. Ich selbst stamme aus der Welt der Königreiche, die auf reiner Magie basiert. Deshalb das Schwert.“
„Gibt es diese Überschneidungen auch zwischen deiner Welt und dieser?“ Sie versuchte Zeit zu schinden, indem sie weiterfragte, obwohl sie ihm kein Wort glaubte. Aber sie hatte erotische Träume von ihm gehabt, während er anscheinend darauf gewartet hatte, dass sie auftauchte, um ihn irgendwo hinzubringen! Und sie wollte seinen Pullover nicht anziehen. Doch, wollte sie, weil es eiskalt war, und der Pullover nach ihm roch – eine Mischung aus Pinie, Moos und Minze.
Ich verliere wirklich den Verstand, oder? Der Gedanke ließ erneut Angst in ihr aufkeimen.
Er blickte zurück in die Richtung, aus der das Heulen kam. „Die Verhältnisse zwischen meiner Welt und dieser sind viel komplizierter. Und wir sollten uns beeilen, ehe die Späher des Rudels uns sehen.“
„Tut mir leid.“ Sie hielt den Atem an, zog den Pullover über den Kopf und strich ihn an ihrem Körper glatt, wo er sich unerwartet eng an ihre ziemlich ausgeprägten Kurven schmiegte. Aber das war ihr egal, weil ihr bereits wärmer wurde, beinahe angenehm. Sie stieß ein leises Seufzen aus und murmelte: „Oh ja. Das ist gut.“ Sie vermied es aber, sich in den Pullover einzukuscheln oder auch nur tief einzuatmen, und nickte nur. „Okay. Du gehst vor.“
Er stieß ein leises Geräusch aus, rückte sein Gepäck zurecht und ging den Pfad hinauf in den mondbeschienenen Wald. Zumindest musste es einen Pfad geben. Sie konnte nichts erkennen, aber er führte sie den steilen felsigen Abhang so behände hinauf, dass sie sich hinter seinen fast lautlosen Schritten trampelnd und ungelenk fühlte. Nach zehn, vielleicht fünfzehn Minuten winkte er sie zu sich auf einen breiten flachen Vorsprung vor einem dreieckigen Höhleneingang.
„Warte hier. Drinnen habe ich Licht und ein paar Vorräte.“ Er schlüpfte in die Dunkelheit. Einen Augenblick später glomm ein sanftes Licht auf, und er rief: „Komm ruhig rein.“
Sie zog den Kopf ein und folgte ihm. Er stand geduckt etwa in der Mitte eines niedrigen Tunnels, der von zwei riesigen Platten aus glattem porösem Fels gebildet wurde, die aneinanderlehnten. In seiner Handfläche hielt er ein kleines Rechteck, von dem blauweißes Licht und ein leises Summen ausgingen.
„Die Wolfyn kommen nicht hier herauf“, sagte er. „Sobald sie mit dem Ritual fertig sind, rennen sie für den Rest der Nacht durch das Tiefland. Mondzeit, weißt du?“
Sie hörte nicht richtig zu, denn als er „Wolfyn“ gesagt hatte, hatte ihr Magen sich verkrampft, und sie dachte zurück an den Holzschnitt und die durchtriebene, böse Kreatur, die das unschuldige Rotkäppchen verführt hatte. Ihr wurde schwindlig, und sie ließ sich gegen die Wand sinken. „Das waren Wolfyn da draußen?“
Er nickte. „Du würdest sie Werwölfe nennen. Sie sind Formwandler. Von Mensch zu Wolf. Und wieder zurück.“ Er hielt inne und verstellte etwas an seiner Lampe. „Ich weiß nicht, was die Legenden besagen, wo du herkommst, aber hier brauchst du keine Angst vor ihnen zu haben. Sie behandeln Gäste in ihrer eigenen Welt gut. Das ist Teil der Traditionen, nach denen sie leben.“
Ihr Herz klopfte so schnell, dass ihre Brust schmerzte, und ihre Beine und Arme kribbelten, wie vor einer Panikattacke. Einer heftigen. Durchatmen, sagte sie sich. Du schaffst das. Die Wolfyn waren bloß ein Teil ihrer Halluzination. Sie konnten ihr nichts tun, konnten sie nicht unter Drogen setzen und sexuell unterwerfen und sie dann fressen, nachdem sie alle anderen Bedürfnisse gestillt hatten. Im Augenblick waren sie nur ein Geräusch am Horizont. Außerdem waren die Geschichten, die ihre Mutter von ihnen erzählt hatte, nur Allegorien gewesen, symbolische Warnungen davor, sich mit dem falschen Mann einzulassen.
Oder?
Ruhig atmen. Nicht den Verstand verlieren. Er war nicht der Prinz aus ihren Tagträumen, und sie war nicht wirklich in einer anderen Welt. Sie trug nicht einmal wirklich diesen Pullover, auch wenn ihr jetzt viel wärmer war, einerseits wegen der zusätzlichen Kleidung, aber auch, weil die Höhle so eng war, dass Dayns und ihre Knie immer wieder aneinanderstießen und er in ihrem Unterbewusstsein ständig präsent war. Ihre rasenden Gedanken waren verängstigt, verwirrt und frustriert, aber ihr Körper nahm seinen sehr deutlich wahr.
Als er sich an die gegenüberliegende Wand lehnte, waren seine Bewegungen beherrscht. Sobald er es sich bequem gemacht hatte, wurde er ganz still und sah fast aus, als würde er nicht einmal atmen. Er bewegte sich wie ein Kampfsportler, fand sie … oder wie ein Raubtier. Ein Jäger. Davon geriet ihr Blut mehr in Wallung, als es sollte, und sie erwischte sich dabei, wie sie auf kleine Details achtete. Zum Beispiel, dass seine aristokratische Nase einen kleinen Knick aufwies, er musste sie sich mal gebrochen haben. Oder wie elegant seine Hände aussahen, und wie lang die Finger waren, aber auch hart und schwielig wie von schwerer Arbeit.
Benz hatte sie einmal damit aufgezogen, dass man schon genetische Experimente brauchen würde, um den perfekten Mann für sie zu erschaffen. Sie wollte alles: Verstand, Mitgefühl, Ehre und Romantik – im kräftigen und muskulösen Körper eines Arbeiters. Und er hatte damit nicht unrecht, denn das wäre die lebendig gewordene Verkörperung ihres Helden … genau wie der, der ihr jetzt gegenübersaß und in die Nacht hinausstarrte.
Nur dass er nicht wirklich lebendig ist, oder? sagte ihr logisches rationales Selbst. Und die Hitze, die durch ihren Körper fuhr, legte sich wieder. Es stimmte. Ihr Gehirn trickste sie aus, so wie damals, als sie ein kleines Mädchen gewesen war und gedacht hatte, ihre maman würde ihr zuflüstern und sie in den Wald schicken, um nach Antworten zu suchen. Sie brauchte keinen Polizeipsychologen, der ihr das sagte.
Du musst zu diesem Vortex, erinnerte sie ihre Logik. Er hat gesagt, dort geht es nach Hause. Und wenn die Illusion derart realistisch war, musste sie nur die Regeln der Illusion befolgen, um herauszukommen. Vielleicht. Hoffentlich.
Aber der Ort, an dem der Vortex sich bildete, war besetzt von Wolfyn, und … Augenblick mal. „Wenn die Wolfyn so harmlos sind, warum verstecken wir uns dann hier vor ihnen?“
Er sah einen Augenblick zu ihr, als würde er ihren Geisteszustand abschätzen. Oder vielleicht wägte er ab, wie viel er ihr erzählen durfte. „Zwischen mir und dem Rudelführer gibt es einige persönliche Meinungsverschiedenheiten. Um diese Jahreszeit ist er leicht reizbar, deshalb gehen wir einander lieber aus dem Weg.“
„Und?“, hakte sie nach, denn ihr Instinkt als Cop sagte ihr, dass da noch mehr war.
Er streckte sich aus, bis seine Beine neben ihren waren und sie fast, aber nicht ganz, berührten. Ihre abgetragene Jeans neben seinen Hosen zu sehen, ließ den Unterschied, was Stoff und Verarbeitung betraf, noch deutlicher zutage treten. „Weißt du noch, was ich gesagt habe? Dass die Dinge zwischen meiner Welt und der der Wolfyn kompliziert sind? Also, es gab da einen Krieg. Ich weiß nicht mal, warum er angefangen wurde – niemand scheint das mehr zu wissen, und es ist ewig her. Aber er war gnadenlos und blutig und hat erst aufgehört, als einige Magier aus den Königreichen, die Ilth, sich zusammengetan haben, um die Vortexe zu verändern. Seitdem bleiben die Wolfyn, wenn sie in die Welt der Königreiche reisen, in ihrer Wolfsform und können sich nicht zurückverwandeln oder den Zauber sprechen, der sie nach Hause bringt. Sie verlieren am Ende jeden menschlichen Gedanken und werden wild.“ Er hielt inne. „Die Wolfyn haben schließlich einen Gegenzauber gefunden, aber in der Zwischenzeit hatten sie bereits die Welt der Menschen entdeckt und waren fasziniert von eurer Wissenschaft. In den letzten paar Generationen – und bei meinem Volk dauert eine Generation sehr lange – haben wir nur Kontakt mit den wenigen Wolfyn gehabt, die ohne den Gegenzauber in einen Vortex gesaugt wurden. Und ab und an gibt es einen Gast, den es hierherverschlägt, so wie mich. Die Bewohner der Königreiche glauben jetzt nicht mehr an das Reisen zwischen den Welten – es ist nur noch eine Legende, genau wie die Fähigkeit der Wolfyn, ihre Form zu wandeln und schöne Frauen in ihren Bann zu ziehen.“
Ein Schaudern lief Redas Wirbelsäule hinab, weil die Halluzination auf einmal ungemütlich viele Details enthüllte, die zu den Geschichten passten, die sie kannte. „Können sie das? Frauen in ihren Bann ziehen, meine ich.“
Er schüttelte den Kopf. „Einem Gast würden sie das nie antun, nicht einmal während der Mondzeit. Die Traditionen regeln sehr streng, wann und wie diese Bezauberung verwendet werden darf.“
Was nicht nein bedeutete. Sie spürte die Kälte wieder mehr als noch vor einem Augenblick und steckte die Hände unter ihre Jacke, um sie an seinem Pullover zu wärmen, der sich auf einmal unangenehm wie ein Pelz anfühlte.
Er fuhr fort: „Auch wenn die Wolfyn also weitestgehend tolerant sind, ziehen sie die Menschen den Königreichern vor, und es gibt einige Blutlinien aus den Königreichen, die sie auf der Stelle töten würden.“
„Und deshalb dürfen sie nicht wissen, dass du ein Prinz bist“, erinnerte sie sich. Dann, ohne Vorwarnung, platzte ein leicht hysterisches Lachen aus ihr heraus, blieb ihr in der Kehle stecken und drohte zu einem Schluchzen zu werden. „Du bist ein Prinz“, wiederholte sie. „Natürlich bist du das.“ Sie hatte früher von charmanten Prinzen geträumt, von verzauberten Prinzessinnen und magischen Abenteuern, da war es vermutlich kein Wunder, dass ihr Verstand auch jetzt wieder darauf zurückgegriffen hatte und aus ihrem Traummann nicht nur den Förster, sondern auch einen schönen Prinzen gemacht hatte. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. „Du bist nicht echt. Nichts hier ist echt. Geh weg und lass mich aufwachen, in meinem eigenen Bett, meinem echten Leben.“ Sie spürte ein wehmütiges Ziehen beim Gedanken daran, diesen Traum hinter sich zu lassen, und das konnte nicht gut sein.
„Das ist nur die Vortex-Krankheit“, sagte er tröstend. „Keine Sorge. Entspann dich einfach – es kommt bald alles wieder.“
Sie hob ihren Kopf, um ihn anzusehen. „Ich habe nichts vergessen, verdammt. Mein Name ist Reda Weston, mein Vater ist Major Michael Weston und meine Mutter hieß Freddy. Siehst du? Keine Lücken. Keine Blackouts. Und das hier ist nicht echt.“
„Bei allen Göttern und dem Abgrund, es ist echt.“ Ein Anflug von Gereiztheit blitzte in seinen Augen auf, die im fahlen Licht sehr grün aussahen. Seine Stimme bekam einen angespannten Tonfall. „Und es bleibt echt, ob du daran glaubst oder nicht. Also, warum vergisst du nicht mal diesen typisch menschlichen ‚Ich glaube nur, was ich auch beweisen kann‘-Quatsch und akzeptierst, dass das hier wirklich passiert und dass du aus einem bestimmten Grund hier bist? Denn wenn du mir nicht hilfst, werden viele Leute sterben.“
„Ich …“ Sie starrte ihn an, und ihre Kehle wurde staubtrocken. „Was?“
„Sie. Werden. Sterben“, sagte er abgehackt durch zusammengebissene Zähne. „Ich muss in den nächsten zweiundsiebzig Stunden zurück auf die Burginsel, und du sollst mir dabei helfen.“
Ihre Kehle zog sich zusammen, aber sie zwang sich trotzdem zu sprechen. „Ich habe noch nie von dieser Burginsel gehört.“ Dann hob sie die Hand, weil sie ihm schon ansah, was er erwidern wollte. „Und wenn du noch einmal ‚Vortex-Krankheit‘ sagst, schreie ich.“
Seine Miene entspannte sich. „Okay. Wenigstens hörst du jetzt zu.“
„Ich …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß selbst nicht, was ich tun soll, ich habe Angst und bin verwirrt. Was ist hier los? Was ist auf der Burginsel, und wieso musst du dorthin? Und was habe ich damit zu tun?“ Das spielt alles keine Rolle. Es ist nur eine Illusion.
„Ich weiß nicht, was du genau damit zu tun hast, oder warum gerade du. Aber ich kann dir von der Burginsel erzählen.“ Er machte eine Pause. Als sie ihm mit einem Nicken bedeutete, fortzufahren, verzog er sein Gesicht wehmütig und bitter und fing an: „Es war einmal ein Prinz, der dachte, die Welt sollte sich um ihn drehen …“
Ihr wurde eiskalt, als er ihr beschrieb, wie seine Heimat von einem schrecklichen Magier angegriffen worden war und seine Eltern einen mächtigen Zauber gesprochen hatten, der ihn und seine Geschwister gerettet hatte. Aber der Zauber war auch schiefgegangen, hatte sie an die Burg gebunden und das Königreich verflucht, falls es ihnen nicht gelingen sollte, rechtzeitig zurückzukehren. Er wiederholte die Nachricht, die er vom Geist seines Vaters bekommen hatte: Dass er auf eine Frau warten sollte, die ihn führte, und dass er, wenn sie gekommen war, spätestens vier Nächte danach auf die Burginsel gelangen musste, um sich mit seinen Geschwistern zu vereinen und den Blutmagier zu töten.
Er hielt inne, und seine Miene wurde ausdruckslos. „Und danach weiß ich nur noch, dass ich hier in der Welt der Wolfyn aufgewacht bin. Seitdem tue ich mein Bestes, sie davon zu überzeugen, dass ich im Vortex mein Gedächtnis verloren habe, damit sie nicht merken, dass ich einer königlichen Familie angehöre … und die ganze Zeit warte ich darauf, dass meine Führerin kommt. Und dann, etwa vor einer Woche, haben die Träume angefangen.“
„Träume“, flüsterte sie, und ihr wurde plötzlich warm.
Er nickte. „Ich habe dich gesehen, Reda. Dein Gesicht. Deine Augen. Die Magie hat dafür gesorgt, dass ich dich erkenne, wenn du kommst.“
Sie bewegte sich unruhig und zog ihre Beine ein Stück zurück, weg von seinen. „Magie gibt es nicht.“
„In deiner Welt vielleicht nicht. In meiner schon.“
Ihr Puls hämmerte laut in ihren Ohren. Der Polizeipsychologe hatte in Erwägung gezogen, sie einweisen zu lassen, aber letztendlich hatte sie nur eine ambulante Therapie bekommen, die mit täglichen Intensivsitzungen begonnen hatte und immer weiter reduziert worden war. Jetzt fragte sie sich, ob das vielleicht ein Fehler gewesen war. Vielleicht hatte sie ihre Heilungserfolge nur vorgetäuscht und machte sich selbst etwas vor, auch jetzt noch. Oder saß sie gerade irgendwo in einem Sanatorium und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster, während ihr Bewusstsein ihr etwas vorgaukelte? Sie spürte Panik in sich aufsteigen, als sie vergeblich versuchte, sich das vorzustellen. Sie versuchte, in ihr „richtiges“ Bewusstsein zurückzukehren, aufzuwachen, aber auch das konnte sie nicht. Die Höhle, der Mann und seine Geschichte fühlten sich vollkommen real an. Was bedeuten würde …
„Nein“, sagte sie und richtete sich auf, soweit die niedrige Höhlendecke es zuließ. Sie fühlte sich eingeengt und dadurch noch nervöser. „Das kann nicht … ich bin nicht deine Führerin. Es muss ein Irrtum vorliegen.“
Er zeigte keine Regung, fixierte sie nur mit seinem Blick. „Als du in der Hütte aufgewacht bist, hast du mich erkannt. Ich konnte es in deinem Gesicht sehen.“
„Ich …“, habe von dir geträumt, mich nach dir gesehnt, mir vorgestellt, dass du all das für mich bist, was ein Mann aus Fleisch und Blut nie sein konnte. „Okay, ich hatte ein paar Träume, aber da ging es nie darum, dass ich dich irgendwo hinbringe.“ Sie erwähnte nicht, wie heiß, erregt und einsam sie sich nach dem Aufwachen jedes Mal gefühlt hatte. Offensichtlich hatte er ganz andere Träume gehabt als sie: Sie hatte davon geträumt, Liebe zu finden; er davon, sein Volk zu retten. Wollte ihr Unterbewusstsein ihr vielleicht das zeigen? Dass sie sich zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigte? Das traf einen wunden Punkt bei ihr, und ihr wurde flau. Sie legte eine Hand auf ihren Magen. „Ich muss … du weißt schon. Draußen.“
Er nahm kurz ihre freie Hand, um sie zu stützen. „Geh hinten raus, aber bleib in der Nähe. Auf der anderen Seite der Steine gibt es einen Hain mit Bohrer-Bäumen, und mit denen willst du keinen Ärger.“
Sie fragte nicht weiter nach und wollte es auch eigentlich nicht genauer wissen. „Ich bin in ein paar Minuten wieder da. Ich glaube, ich brauche einfach frische Luft.“ Und etwas Abstand von ihm, um sich daran zu erinnern, wie abgestumpft sie lange Zeit gewesen war, nur noch routinemäßig ihre Aufgaben erledigt hatte und in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen gewesen war.
Vor der Höhle war die Luft kalt, leer und still, und kein Heulen war mehr zu hören. Der riesige Mond beleuchtete ihren Pfad, als sie vorsichtig um die Felsen herumging, als suche sie wirklich nur eine Stelle, an der sie sich erleichtern konnte. Sobald sie außer Sichtweite von Dayn war, wandte sie sich mit klopfendem Herzen und dem sauren Geschmack von Angst im Mund ab und lief den Hügel hinab. Sie stolperte in ihrer Hast, die Steine zu erreichen und endlich aus der Halluzination auszubrechen, ehe sie etwas wirklich Dummes tat … zum Beispiel daran zu glauben.
Ohne Reda war die Höhle kühler und viel weniger interessant. Es fehlte die intensive angestaute Energie, die Reda förmlich ausstrahlte. Aber es war auch deutlich ruhiger.
Dayn atmete langsam aus und sagte sich, dass alles gut werden würde. Es würde funktionieren. Sie schien sich endlich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie nicht in einem seltsamen und besonders realistischen Traum gefangen war. Und wenn sie das erst einmal überwunden hatte, würden ihre Erinnerungen sicherlich zurückkommen und sie konnte ihn führen. Wenigstens hoffte er inständig, dass es so laufen würde. Er befürchtete allerdings langsam, dass alles ganz anders ablaufen könnte. Ein Mensch schien eine sehr merkwürdige Wahl für jemanden, der ihn in das magische Reich Elden führen sollte. Er vermutete, dass dieser Teil des Zaubers ebenfalls durch die Magie des Blutmagiers beschädigt worden war.
Nicht, dass sie beschädigt wäre, ganz im Gegenteil. Gut, sie hatte die typischen menschlichen Vorbehalte und glaubte nicht an Magie, und anscheinend verfiel sie, wenn es ernst wurde, in eine Art Schockstarre. Aber er fühlte sich auf unwiderstehliche Weise zu ihr hingezogen. Im Gegensatz zu den gertenschlanken, aber unnahbaren Wolfyn-Frauen, mit denen er die letzten zwei Jahrzehnte verbracht hatte, hatte sie sinnliche Kurven, und ihre Gefühle standen ihr deutlich ins herzförmige Gesicht geschrieben. Er hatte sich dabei erwischt, wie er ihr in die Augen starrte, die ihn an den tiefblauen Himmel seiner Heimat erinnerten, und wie er ihre Stimme genoss, die süß, weich und einfach weiblich war.
Deshalb war sie nicht die Einzige, die einen Augenblick allein sein wollte. Er musste sich in den Griff bekommen, um sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Hier ging es nicht darum, dass er ein Mann war und sie eine Frau. Es ging darum, dass er nach Hause kommen musste, um dort seine Aufgabe zu erledigen. Und danach würde er wieder ein Prinz seines Reiches sein, mit allen Rechten und Pflichten, die dieser Titel mit sich brachte. Also hatte er nichts davon, wenn ihm jetzt auffiel, wie perfekt sein Pullover sich an die Kurven ihrer Brüste und Hüften schmiegte, oder dass ihr kurz der Atem gestockt hatte, als sie seinen Blick bemerkt hatte. Auch wenn er daraus schloss, dass diese Anziehung nicht nur einseitig war.
„Prioritäten“, sagte er zu sich selbst und hörte, wie das Wort durch die ansonsten stille Höhle hallte. Das Wolfsgeheul war verklungen. Also war das Ritual vorbei, und für ihn und Reda war es an der Zeit, zurück zu den Steinen zu gehen. Vielleicht musste sie sich nicht einmal erinnern. Vielleicht reichte ihre Anwesenheit, damit der Vortex-Zauber für ihn endlich funktionierte, nachdem er es so lange nicht getan hatte.
Er erhob sich in die geduckte Haltung, zu der er in der Höhle gezwungen war, krabbelte nach draußen und richtete sich auf. Dann rief er leise: „Reda?“
Er hörte keine Antwort, aber sie konnte nicht weit sein, weil er ihr in Gedanken befohlen hatte, in der Nähe zu bleiben.
Kurz, nachdem er in der Welt der Wolfyn angekommen war, hatte er herausgefunden, dass seine Kraft der Gedankenübertragung bei allen Frauen funktionierte, egal, aus welcher Welt sie kamen. Wenn er Körperkontakt hatte – wie eben, als er Redas Hand berührt hatte – konnte er sie beeinflussen, sogar Befehle erteilen. So hatte er sichergestellt, dass Keely gewisse Dinge nicht erfuhr, die er vor ihr verbergen wollte, und so hatte er auch Candida anfangs dazu gebracht, ihn zu schützen – bis sie es gemerkt hatte und ihm an die Gurgel gegangen war. Danach hatte er ihr alles gestanden, und sie hatte sich, statt ihn zu töten, dafür entschieden, ihm zu helfen. Den Göttern sei Dank.
Auch wenn die Weise Wolfyn des Rudels nicht in der Lage gewesen war, ihn nach Hause zu schicken, hatte sie ihm doch den Gegenzauber für den Vortex verraten, und in letzter Zeit hatte sie sich an einigen Giften versucht, von denen sie glaubte, dass sie auch bei Wesen der Schwarzen Magie wirkten, wie dem Blutmagier. Und sie hatte ihm außerdem dabei geholfen, die Grenzen seiner Gedankenkontrolle in der Welt der Wolfyn auszutesten. Dabei hatten sie herausgefunden, dass er eine Frau nicht dazu bringen konnte, etwas zu tun, was sie absolut nicht wollte, und auch nicht davon abhalten, etwas zu tun, was sie unbedingt tun wollte. Aber er konnte andere, weniger eindeutige Gefühle beeinflussen. Deswegen hatte er Reda nicht dazu bringen können, sich ihm zu öffnen – dagegen sträubte sie sich zu sehr. Aber angesichts ihrer offensichtliche Angst vor den Wolfyn und der Tatsache, dass sie sich langsam an ihn gewöhnte, würde sie dem Befehl gehorcht haben, in seiner Nähe zu bleiben. Sie musste hier irgendwo sein.
Doch sie war nicht da.
Dayn fluchte leise und wurde immer unruhiger, weil er keine Spur von ihr finden konnte. Er ging den ganzen Weg bis an den Rand des Bohrer-Hains, wo der Boden hohl war. Dann lief er zurück und um die Höhle herum. Schließlich fand er ihre Spur, die den Abhang hinabführte, direkt auf den Steinkreis zu.
„Verdammter Mist!“ Er hatte ihre mentale Stärke unterschätzt, ihren Unglauben und ihre Entschlossenheit, sich aus dieser Illusion, wie sie meinte, zu befreien. Er hastete zurück in die Höhle, griff sich Vorräte und Waffen und konnte nur hoffen, dass er nicht soeben einen fatalen Fehler begangen hatte. Schlimmer noch, als er den Hügel hinabrannte, sah er am Horizont hinter seiner Hütte, die in den Bäumen verborgen stand, ein Glühen.
Sein Magen krampfte sich zusammen. Er war verdammt noch mal zu spät.
Moragh stand mitten im Steinkreis, warf ihren Kopf zurück und lachte begeistert, als große blaue Funken von einem Stein zum nächsten sprangen und der Wind mit ihren Haaren spielte und sie um ihr Gesicht flattern ließ.
Sie hob die Stimme, um die Funken und das Knistern der Energie zu übertönen. „Oh, freudenreiche dunkle Götter, ich wusste es, Nasri. Ich wusste immer, das Buch der Ilth gibt es wirklich.“
Sie hatte darüber mit den sogenannten Gelehrten des Blutmagiers gestritten, die den Text entweder als Fiktion oder als ketzerische Auslegung der Götter und des Abgrunds abgetan hatten. Zugegeben, damals, als sie die zwei einfachsten Zauber ausprobiert hatte, war nichts geschehen. Aber da hatte sie auch noch nicht gewusst, dass es auf den richtigen Ort ankam. Es lag nahe, dass dort, wo die Grenzen zwischen den Welten am dünnsten waren, die Magie, die sie verband, aktiver war. Der Zauber des verlorenen Prinzen hatte sie zur richtigen Zeit an den richtigen Ort gebracht, und am Wirbel der Vortex-Winde hatte sie erkannt, dass sie den ersten Zauber von den beiden, die sie auswendig gelernt hatte, anwenden musste.
Es hatte damals funktioniert, und jetzt noch einmal. Sie stand kurz davor, die Kontrolle über einen eigenen Vortex zu erlangen.
„Gehen wir jetzt wieder nach Hause, Herrin Moragh?“, rief Nasri, der außerhalb der Steine stand und den überlebenden Ettin an seiner Kette festhielt. Das Monster sah sich immer noch blöde nach seinem Bruder um.
Zugegeben, sie hätte gleich beide Kreaturen auf den Prinzen loslassen sollen, damit sie ihn auch wirklich umbrachten. Aber ihr war nicht klar gewesen, dass etwas in dieser Welt – bei den Göttern, sie war wirklich in einer anderen Welt! – ihre Verbindung zu dem Zauber seines Vaters schwächen könnte, sodass sie ihn nur in unmittelbarer Nähe des Steinkreises aufspüren konnte. Nun, nicht so wichtig, ihr boten sich auf einmal neue und wundervolle Möglichkeiten.
„Ja und nein“, antwortete sie Nasri. „Ich muss zurück nach Hause und das Buch der Ilth holen.“ Ihr Herz machte einen Sprung bei dem Gedanken, dass sie über die Macht des Buches gebieten würde – es standen sich nicht nur Zauber für die Reise zwischen den Welten darin, sondern auch Beschwörungen, die mächtiger waren als alles, was in den letzten Jahrhunderten in den Königreichen bekannt war, und Machtübertragungszauber – die Möglichkeiten waren schier endlos. „Ich nehme den Ettin mit, damit er dir keine Schwierigkeiten bereitet, und versiegele das Portal dann hinter mir, sodass der Prinz mir nicht folgen kann.“ Das war der Zweite der Zauber, die sie auswendig gelernt hatte. Dieses spezielle Portal zu versiegeln, würde den Prinzen vielleicht nicht in der Welt der Wolfyn festhalten – wahrscheinlich gab es noch andere Orte, an denen Vortexe gerufen werden konnten –, aber es würde ihn aufhalten und ihr genug Zeit verschaffen, das Buch von den Gelehrten zu stehlen. Von genau den Gelehrten, die sie dafür verspottet hatten, dass sie es für echt hielt.
Der Gnom riss die Augen auf. „Und ich, Herrin?“
Zufrieden mit der Entwicklung ihres Vortex trat sie aus dem Steinkreis und ließ den Ettin mit drei einfachen Zauberworten erstarren. Dann wandte sie sich Nasri zu, der ein paar Schritte zurückgewichen war, sobald er sich von ihr unbeobachtet gefühlt hatte. Und auch wenn sie sich schon lange nicht mehr zu ihm hingezogen fühlte, der Gedanke an das, was sie gleich tun würde, ließ ihre zweiten Fangzähne hervorschießen. Mit dem brennenden Schmerz, den sie so liebte, brachen sie durch ihr Zahnfleisch und glitten an ihren Platz über den unteren Zähnen. Die gefährlich scharfen Spitzen verletzten beinahe ihre Haut.
„Ich habe eine besondere Aufgabe für dich, Nasri.“
Er wurde blass, als er die Fangzähne sah, aber der Zwang war tief in ihm verankert. Auch wenn sein ganzer Körper vor ihr zurückwich, trat er drei zuckende Schritte vor, hob den Arm und bot ihr sein Handgelenk an, das bereits mit Bissspuren in verschiedenen Stadien der Heilung übersät war.
Sie stürzte sich stattdessen auf seine Kehle und schlug die Zähne tief hinein, hielt ihn fest, als er sich wand und der herrliche Geschmack von Blut ihre Kehle hinabfloss. Neue Verbindungen bildeten sich, neue Magie erwachte, und sie verband seinen schwachen kleinen Geist mit ihrem. Jetzt hör mir gut zu. Du sollst Folgendes für mich tun …
Reda schrie nicht, aber das lag nur daran, dass sie erstarrt war. Sie lag flach auf dem Boden unter einem dichten Gebüsch am Rand der Lichtung. Von dort aus hatte sie einen perfekten Blick auf die dunkelhaarige Frau, die vom Hals ihres kleinen schrumpeligen Dieners trank. Das rhythmische Saugen der Vampirin vermischte sich mit dem entsetzten Jaulen ihres Opfers.
Ihr wurde übel. Diese Frau – diese Moragh – war eine Vampirin. Oh Gott.
Reda schluckte, um sich beim Anblick des zuckenden kleinen Körpers des Mannes nicht übergeben zu müssen. Seine Hände flatterten an seinen Seiten, als ob er die Vampirin abwehren wollte, es aber nicht konnte. So wie er davor eindeutig hatte wegrennen wollen, aber stattdessen hatte er ihr den Arm entgegengestreckt. Zwang. Verzauberung. Erst die Wolfyn und jetzt das. War jede nichtmenschliche Kreatur dieser Welt in der Lage, anderen ihren Willen aufzuzwingen? Ich muss hier weg, dachte sie und unterdrückte ein Schluchzen. Ich will einfach nur, dass alles wieder normal wird.
Sie musste durch diesen Vortex kommen, und sie musste es jetzt tun, solange die Vampirin abgelenkt war. Aber sie konnte sich nicht bewegen.
Jetzt nicht, flehte sie ihren Körper an. Bitte erstarr jetzt nicht! Aber sie konnte sich nicht dazu bringen, aufzustehen und zu den Steinen zu rennen, konnte nicht einmal mit einem Zeh wackeln. Sie war wieder vor Panik erstarrt. Regungslos. Nutzlos. Sie konnte nur zusehen, wie der kleine Mann schwankte und ihm Blut vom Hals tropfte. Seine Augen waren glasig und ausdruckslos und seine Stimme monoton, als er sagte: „Ich finde das Rudel.“
Er stolperte davon, in Richtung der Wälder, und es schien ihm nichts auszumachen, dass Blut an ihm herablief.
Die Vampirin sah ihm mit einem leichten Lächeln auf den blutbefleckten Lippen nach. „Keine Sorge. Sie finden dich sicher zuerst.“ Das Mondlicht spiegelte sich in ihren Fangzähnen, als ihr Lächeln breiter wurde, grausamer. Dann drehte sie sich um, hob die Kette des Monsters vom Boden auf und führte es in den Steinkreis.
Der Vortex brüllte, und sie verschwanden.
Sobald sie verschwunden waren, löste sich Redas Lähmung. Sie sprang auf und rannte zu den Steinen. Ihr Herz hämmerte, als sie die Zauberworte rief, die sie überhaupt erst in diesen Schlamassel gebracht hatten.
Sie war nur wenige Schritte entfernt, als Dayn zwischen den Bäumen hervortrat und rief: „Reda, warte!“
Zögernd sah sie sich um. Genau in diesem Augenblick füllte ein peitschender Laut die Luft, der Vortex brach in sich zusammen und verschwand. Sekunden später sah sie einen leuchtenden bernsteinfarbenen Blitz, dann war alles vollkommen still. „Nein!“ Sie raste durch die Steine in ihre Mitte. „Warte, nein! Nimm mich mit!“
„Reda, hör auf.“ Dayn packte sie an den Armen. „Hör auf. Es ist vorbei. Er ist weg.“
„Nein! Sie versiegelt ihn! Lass das nicht zu!“ Auch wenn sie tief in ihrem Herzen wusste, dass es bereits zu spät war, wehrte sie sich gegen seinen Griff und versuchte sich zu befreien – nicht nur von ihm, sondern von diesem ganzen schrecklichen Ort mit seinen Werwölfen und Vampiren und dreiköpfigen Monstern. Schließlich sah sie ein, dass es vergebens war. Sie ließ sich gegen ihn fallen, ergriff seine Jacke, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und begann zu weinen. „Hast du sie gesehen? Hast du gesehen …?“
Sie verstummte, als er seine Arme um sie legte, um ihren Körper an seinen zu ziehen. Jetzt erst merkte sie, wie hart und erregt er war. Mit verschleiertem Blick sah er ihr in die Augen. Dies war der vollkommen falsche Moment, der vollkommen falsche Ort, dennoch loderte Hitze in ihr auf und strömte durch ihre Adern. Ihr Atem ging flacher, sie presste sich gegen ihn und schmiegte sich an ihn, als seine Lippen sich senkten … öffneten …
Und das Mondlicht spiegelte sich in den zwei langen gebogenen Fangzähnen, die vorher noch nicht da gewesen waren.